Zwischenruf

 

Ich beobachte, dass Diskussionen (ihr Kammerton sozusagen) sich mit dem Alter ändern. Radikal und kenntnisarm, von „ich kann nicht anders“ bis revolutionär in der Jugend, unsicher moderat und selbstzentriert opportunistisch, von ungreifbar bis aalglatt in der Mitte des Lebens und zynisch schliesslich, provozierend und rücksichtslos im Alter; nicht selten reaktionär.

Argument vs Identität ©-Wikipedia – "Lesekreis", "Jan Ainali"

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Mit den Attributen verweise ich bereits auf meine Interpretation: das Sein bestimmt das Bewusstsein. „Freedom‘s just another word for nothing left to loose.“ So die Jugend. Schwarz und weiss, noch nichts hat die reinen Lehren vergraut. Dann kommt das Leben, die Miete, die Kinder und wohl auch die Ambitionen, und die Zunge leidet darunter, ständig gebissen zu werden. Ein paar Meinungen verstecken sich, vorsichtig, mit dem Blick auf der peergroup, wird das Sagbare ausgeleuchtet. Irgendwann sind dann aber alle Stufen erstiegen, ein paar sind auch gebrochen, womöglich ist die Leiter sogar umgefallen. Ohne Karriere werden die Gedanken wieder frei, springen herum, und die Frage: „Warum eigentlich nicht? Was sollte mich hindern?“ gerät in den Vordergrund. Gelegentlich mit Abscheu gemischt, mit Resignation, seltener mit Weisheit.

Bei Donald B. aus B. (weder verwandt noch verwechselbar) habe ich gelernt, dass „der Betrunkene* kein anderer Mensch ist“ und nicht nur die Wahrheit sagt, sondern auch den Charakter zeigt. Jetzt die Frage: Wer bin ich und wenn ja, wie viele? 

In einer vorläufigen Conclusio erscheint es mir schwer, die Meinung durch das Leben durchzuhalten. Die Horizonte, in denen die Meinung steht oder fällt, wechseln. From dusk til dawn stellen sich andere Bezüge her.

Soweit das Feuilleton.

Ich möchte nämlich daran erinnern, dass (jeweils) das juste milieu die Bewertung durchsetzt, welche Meinung gerade die Norm sei. Ich möchte darauf hinweisen, dass die radikale Jugend oder das radikale Alter, sozusagen aus ihren gegenüber liegenden Lebensperspektiven, dem Juste Milieu mit dem Vorwurf der Korrumpierbarkeit gleichermassen den Mittelfinger zeigen. Das sich dann beeilt, beide Sichtweisen mit einem „Das geht ja gar nicht.“ zu skandalisieren. Ich versuche den Punkt zu machen, dass sich in den Meinungen Argumente finden lassen, die, auch wenn sie dem Juste Mlieu nicht in den Kram passen, gehört oder bedacht werden sollten, sogar wenn sie sich in den „falschen“ Zusammenhang stellen (lassen). 

Zwei Beispiele:
Wenn Greta Thunberg („Ich will, dass ihr in Panik geratet“) also die Mitte der Gesellschaft das Fürchten lehren will, so mag sie möglicherweise noch nicht vom bitteren Wein der realen Verhältnisse getrunken haben, legt aber doch einen fetten Salzfinger in die grosse Wunde unserer Zeit.
Wenn Thilo Sarrazin über die Abschaffung Deutschlands (und manches andere) philosophiert, so mag er seine Erkenntnisse durchaus mit Rassismus kontaminieren, verweist aber doch auch auf ein paar mathematische Grundsätze oder überprüfbare Fakten. 

Zu beiden Positionen habe ich differenzierte, andere Meinungen – dennoch erscheinen sie mir als die richtigen Beispiele!  Identitätspolitik hilft, jedes Argument zu ignorieren: Der Tanz geht nur noch um die Person wie um das goldene Kalb und enthebt die Mitte der Gesellschaft von der Notwendigkeit, sich mit den Dingen auseinander zu setzen, die ihr nicht schmecken.

Gespeichert von Wolf Kirchmann… am

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Dazu zwei Hinweise:

1.) Der frühere Papst Joseph Ratzinger hat in einem Aufsatz den 68ern die Schuld am Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gegeben und dafür heftige Kritik geerntet. Deshalb hat Ratzinger nun reagiert und seine These genauer erläutert. "Verzeihen Sie bitte, das war zunächst etwas missverständlich formuliert", so der Ex-Papst. Denn selbstverständlich könne man den 68ern nicht die alleinige Schuld geben. "Schuld sind natürlich auch Hexen, Schwule, alleinerziehende Mütter, Zirkusschimpansen, Greta Thunberg, der HSV, das Internet, Mesut Özil, Supermarktkassiererinnen, Feine Sahne Fischfilet, Hartz-IV-Empfänger, Latte-Macchiato-Trinker, Sitzpinkler und Langschläfer."
Der Aufsatz zum Missbrauchsskandal war zugleich nur der Auftakt für eine Reihe weiterer Schriften. "Demnächst werde ich Ihnen auch schlüssig erklären, wer wirklich schuld ist am wieder aufkommenden Kommunismus, an den verschwundenen Socken in der Waschmaschine und an den wirren Stimmen in meinem Kopf", ließ Ratzinger wissen.

2.) Tübingens Oberbürgermeister hat medienwirksam die Erziehung von Zuwanderern angeprangert. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass man Eltern, die seit wenigen Jahre hier leben, erklären muss, wie Erziehung bei uns funktioniert", so Palmer. Nun hat er angekündigt, deshalb einen eigenen Erziehungsratgeber zu veröffentlichen, "damit diese Hinterwäldler lernen, wie man's richtig macht." Schon durch einfache Maßnahmen könne der Alltag zu einem wertvollen pädagogischen Raum werden. "Täglich ergeben sich wunderbare Lernmomente, die man nur nutzen muss. Auf die Frau mit Kopftuch zeigen und dem Nachwuchs erklären: 'Schau, kleine Mechthild, das ist eine IS-Kämpferin', oder auf einen Mann mit Bart deuten und sagen: '‚Schau, kleiner Siegfried, in diesem Rucksack ist eine Bombe'. So erwerben Kinder wieder die natürliche Angst vor dem Fremden, die ihnen heute so oft durch gutmenschliche Gehirnwäsche ausgetrieben wird."

Boris Palmers "Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Na, hoffentlich alle!" erscheint im Mai 2019.

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Hhhm.
Hier könnte Ironie im Spiel sein, aber so recht versteh ich das nicht. (IvD)

Boris und Joseph Aloisius können auch als Beispiele daür stehen, dass es "auf beiden (oder unterschiedlichen)Seiten Fälle von affektiver Schnappatmung gibt, die sich ausschliesslich an der Person (Identität) festmachen, diese 'stempeln' (also mit persönlichen Invektiven vom Diskurs ausschließen) und dann alles ignorieren, was von der Person sachlich vorgetragen wird", - oder?

Gespeichert von Peter Ringer am

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Lieber Herr van Deelen,

Sie schreiben ein wenig melancholisch über das im Grunde triviale, aber leicht übersehene, manchmal vergessene Faktum, dass sich Überzeugungen mit der Zeit und mit den Umständen ändern (können). Für beides gibt es Myriaden von schönen, ermutigenden und von niederschmetternden, entsetzlichen Exempeln.

Warum aber gerade Greta Thunberg und Thilo Sarrazin sich Ihnen als die Herausforderungen, "als die richtigen Beispiele" erweisen, anhand derer Sie meinen vorführen zu sollen, wie "Identitätspolitik (die nur oder vorzugsweise danach fragt, wie sie sich die ihr bequeme Gesamtheit ihrer zentralen Glaubenssätze bewahrt) dazu verleitet, jedes Argument zu ignorieren, wenn "der Tanz nur noch um die (fragwürdige) Person geht wie um das goldene Kalb und die Mitte der Gesellschaft so - vermeintlich - von der Notwendigkeit entpflichtet, sich auch mit den Fragen auseinanderzusetzen, die ihr nicht schmecken", - DAS, lieber Herr van Deelen, haben Sie nach meiner Auffassung NICHT nachvollziehbar dargelegt.

Es ist gewiss erfreulich, dass Sie beiden Positionen gegenüber (soweit diese sich als homogene "Positionen" überhaupt fassen lassen) differenzierte – andere Meinungen – haben. Aber selbst diese gewiss wertvolle Auskunft vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Sie für Ihren Vorschlag, das "Juste Milieu" oder "die Mitte der Gesellschaft" (whoever that is) möge sich bitte gerade mit diesen beiden Meinungsinhabern beschäftigen, KEINEN Grund ins Feld führen (und vielleicht nicht einmal ins Feld führen KÖNNEN, da noch lange nicht ausgemacht ist, ob es sich bei den beiden Figuren nicht einfach um massenmedial ausgerollte Projektionsflächen handelt).

Der einzige Umstand, der, soweit ich sehe, Ihrem Anliegen dient, ist die (in Zeiten des Hochfrequenzhandels im Nanosekundenbereich wirklich erstaunlich lange) anhaltende Popularität von Greta Thunberg und Thilo Sarrazin. Aber ist das ein "Argument"? Der alte kluge Knasterkopp aus der Schönen Aussicht 16 im Frankfurter Fischerfeldviertel hatte schon vor 180 Jahren zu bedenken gegeben: "Das Neue ist selten das Gute, weil das Gute nur kurze Zeit das Neue ist." Ich meine dasselbe gilt für politische Parolen.

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Reaktion IvD:
Thunberg und Sarrazin als Beispiele mögen zeigen, dass es auf beiden Seiten Fälle von affektiver Schnappatmung gibt (Thunberg als "fehlgeleitetes Kind" und Sarrazin als "auf Abwege geratener Sozialdemokrat"), die sich ausschliesslich an der Person (Identität) festmachen, diese "stempeln" (also mit persönlichen Invektiven vom Diskurs ausschliessen) und dann alles ignorieren, was von der Person sachlich vorgetragen wird. Ist Frau Thunberg erst einmal ein verführtes Asperger-Kind, muss man sich nicht mehr mit ihren Motiven und Argumenten auseinandersetzen (Sarrazin analog).
Beide Beispiele stehen – in diesem Post – als Platzhalter für den Umgang des Mainstreams mit abweichenden Meinungen; es sind in diesem Sinne keine Aufforderungen, speziell diese Positionen zu diskutieren.

Mich stört, wenn in Diskussionen mit der Bewertung der Person auch das ¡möglicherweise! berücksichtigenswerte Argument "kontaminiert" wird (werden sollen). DAS halte ich dem "Juste Milieu" vor (whoever that is).
(IvD)

Gespeichert von Thea Dorn am

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Auch Anders Behring Breivik und Andreas Günter Lubitz könnten zeigen, dass es auf beide Seiten bezogen Fälle von affektiver Schnappatmung gibt (Breivik als "fehlgeleitetes Problemkind" und Lubitz als "auf Abwege geratener Sozialpsychopath"), die sich ausschließlich an der Person (Identität) festmachen, diese "stempeln" (also mit persönlichen Invektiven vom Diskurs ausschließen) und dann alles ignorieren, was von der Person sachlich vorgetragen wird. Ist Herr Breivik erst einmal ein eiskalter Kinderschlächter, muss man sich nicht mehr mit seinen Motiven und Argumenten auseinandersetzen (Lubitz analog). Beide Beispiele stehen – in diesem Kommentar – als Platzhalter für den Umgang des Mainstreams mit abweichenden Meinungen; es sind in diesem Sinne keine Aufforderungen, speziell diese Positionen zu diskutieren. - Aber sie könnten schon zu den Fragen führen: (A) Warum nicht diese, sondern andere? Bzw.: Warum nicht andere, sondern diese? und: (B) Gibt es Kriterien für die Relevanz von zu diskutierenden Aussagekonglomeraten (die kaum als konsistente "Positionen" zu identifizieren sind) jenseits der Tatsache, dass die "Personen" ("Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie 'Ich' sagen."), denen dieses Gestöber von "Statements" zugeordnet wird, von den Massenmedien vorübergehend zu "Ikonen" aufgeblasen werden oder wurden?

Gespeichert von Ulrich am

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Apropos Greta Thunberg, sehr geehrter Herr van Deelen, ob der Tag wohl noch kommen wird, denke ich gerade, an dem ich mich zu fragen traue, ob die ehrgeizige Verwischung von Spuren menschlichen Lebens – denn das ist ja auch ein Versprechen und ein Effekt z. B. unserer Mülltrennungsregeln – wirklich höchstes Lebensziel für die nächste Generation sein soll?

Mein Problem steckt genau in dieser Ambivalenz: Umweltverschmutzung ist ja letztlich nur da zu vermeiden, wo es keine Menschen gibt. Auf der einen Seite lese ich, dass bis 2050 der CO2-Ausstoß global von heutigen Spitzenwerten um die sechzehn auf gerade noch zulässige zwei Tonnen pro Person zurückgehen muss, damit die Erderwärmung auf einem lebbaren Niveau gehalten wird – und habe kaum Zweifel, dass solche Zahlen realistisch berechnet sind. Doch gegen die Einsicht regt sich andererseits Widerstand, sobald ich auf die an sich vernünftige Folgerung stoße, dieses Ziel sei am besten durch die Beschränkung des Nachwuchses aller heterosexuellen Paare auf bloß ein Kind zu erreichen.

Noch eine ganze Kategorie radikaler und irritierender wirken die Varianten des in meiner Umwelt an der nordamerikanischen Westküste um sich greifenden sogenannten Anti-Natalismus. Sie reichen von der kultivierten Begeisterung für ein individuelles Dasein, dessen Finanz- und Genussfreiheiten nicht durch Kinder gestört werden, bis zu dem Argument, dass der Verzicht auf Kinder allen lebenden Menschen und allen anderen biologischen Arten zugutekommen müsse. Und die Argumentation gipfelt in der selbstvernichtenden Selbstverpflichtung, den Planeten ganz einfach von den Menschen zu erlösen.

Was ich beschreibe, ist ein für unsere Gegenwart spezifisches Existenzklima, das jedes Argument zugunsten der Verbindung von Sex, Fortpflanzung und Familienzukunft als narzisstisch oder naiv, als machoartig oder faschistisch, jedenfalls als derart unvernünftig und anrüchig abkanzelt, dass Alt-Vitalisten wie ich längst resigniert haben. Unklar bleibt dabei immer, woher die moralische Autorität im Diskurs der Antagonisten kommt. Denn sie stellen ihre zentralen Werte kaum je zur Debatte, während die normativ-ökologischen Positionen und deren Bezugspunkte ständig in Anlehnung an Fakten aus den Naturwissenschaften markiert werden.

Durchschnittliches Bildungswissen reicht aus, um hinter den schwergewichtigen Reden der Ökologisten eine Erzählstruktur der Erlösung zu entdecken, wie sie zu jedem Monotheismus gehört, eine Erzählstruktur, die sogar säkular aussehende Textoberflächen moralisch auflädt. Der Ursprung dieses Syndroms liegt in der unvermeidlichen – und gerade deshalb von einem Tabu umgebenen – Frage, warum der allweise und allmächtige Gott eine paradiesische Welt erschuf, um sie dann postwendend durch die Möglichkeit der Sünde aufs Spiel zu setzen.

Eher als die Frage aber zu beantworten, lassen Erlösungsgeschichten sie in Vergessenheit geraten, indem sie die Zeit zwischen der Erschaffung der Welt und ihrem Ende mit der immergleichen Folge von Ereignissen auffüllen. Zuerst bringen sich die Menschen durch eine Verfehlung um das Paradies als Leben im Angesicht Gottes. Eine Rückkehr zu dieser Situation wird dann nach der Logik der Erlösung möglich, wenn ein an jener Verfehlung nicht beteiligter Mensch (oder sogar ein Sohn Gottes) stellvertretend die Schuld für sie auf sich nimmt und sühnt. Damit kauft er den Menschen die Möglichkeit einer Wiederherstellung der ursprünglich glücklichen Situation zurück, ohne dass voraussehbar ist, wann genau diese Wiederherstellung eintreten wird.

An die Stelle des ewigen Gottes ist in unserem immer grüneren Zeitalter die sich selbst genügende Ordnung der Natur auf dem Planeten (oder im Kosmos) gerückt. Die Menschheit soll seit ihrem Auftreten als offenbar exzentrische Gattung (oder seit bestimmten Phasen ihrer Kultur, zum Beispiel seit der Industrialisierung) die angeblich störungsfreie Naturordnung aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Darin liegt gleichsam ihre ökologische Erbsünde.

Wenn nun aber Menschen, die sich für unschuldig an den Umweltkatastrophen halten, weil sie alle Mülltrennungsregeln einhalten und Autofahrten wie Flüge vermeiden, das Opfer der Selbstauslöschung oder zumindest einer schmerzhaften Selbsteinschränkung der Menschheit propagieren, dann glauben sie, damit die Möglichkeit einer Wiederherstellung des Naturzustands erworben zu haben. Im konsequentesten Fall wird sie als Rückkehr zum Zustand des Planeten oder des Universums vor der Entstehung der Menschheit gedacht. Kein Wunder also, dass die überaus engagierten Protagonisten, die in dieser Geschichte die Rolle von Jesus Christus übernehmen, ohne besondere Begründung von ihrer moralischen Autorität überzeugt sind.

Die Erzählung der Erlösung durch ökologisch korrektes Verhalten bringt eine neue Form der Zeitlichkeit im globalen Alltag mit sich. Die Zukunft ist von Gefahren besetzt, die auf die Menschen zukommen, und ihre Gegenwart dehnt sich vom Auslösen jener Gefahren in ferner Vergangenheit bis hin zu ihrem Wirklichwerden in naher oder ferner Zukunft. Die neunziger Jahre haben für diese neue breite Gegenwart den Namen Anthropozän erfunden.

Hier stellt sich die Frage: Kann man in einem so hochmoralisierten Rahmen überhaupt noch an einer säkularen Zeitlichkeit und einem säkularen Selbstbild festhalten, an einem Selbstbild, in dem sich Menschen als Gattung bejahen und Verantwortung für die Modalitäten ihres Über-Lebens annehmen, statt Befriedigung im Anspruch auf die Rolle von Erfüllungsgehilfen bei ihrer eigenen Auslöschung zu finden?

Zunächst: Eine Rückkehr zu dem früher als Fortschrittsoptimismus der menschlichen Selbststeuerung erlebten historischen Weltbild, wie sie beispielsweise der Präsident der Vereinigten Staaten im begrifflichen Niemandsland praktiziert, darf sich kaum säkular nennen, weil ihre Voraussetzung ja im Ignorieren von Ergebnissen und Hochrechnungen empirischer Forschung liegt. Dagegen muss eine wirklich säkulare Einstellung mit der Frage einsetzen, welche Möglichkeiten des Weiterlebens für die Gattung Menschheit angesichts der als real eingeschätzten klimatischen, demografischen, technologischen und wirtschaftlichen Bedrohungen überhaupt noch geblieben sind – und ihre Beantwortung dann auf gleicher Distanz von blindem Optimismus und moralisierenden Erlösungsmythen halten.

Drei Konzeptionen eines solchen Weiterlebens der Menschheit in säkularer Selbstverantwortung zeichnen sich heute ab. Statt sich mit der Blindheit moralischen Hochgefühls auf eine von ihnen festzulegen, sollten wir sie nebeneinanderstellen, um ihre Forderungen und Folgen vergleichend einzuschätzen.

Die erste und wohl bei weitem populärste unter ihnen fasst zunächst durchaus reale Möglichkeiten vom Ende der Menschheit aus ökologischen Gründen ins Auge. Die historische Neuheit solcher Zukunftsbilder löst aber bei vielen Zeitgenossen eine derartige Intensität des Schreckens aus, dass sie wie auf ein Apokalypse-Szenario ausgerechnet mit dem Gegenprogramm einer Verewigung der Gattung Mensch reagieren. Dies scheint der Bedeutungsfluchtpunkt des allzu beliebten und allzu rührenden Satzes zu sein, nach dem «wir den Planeten nur von unseren Kindern geborgt haben» sollen. Als könnte eine auf Unendlichkeit gestellte Zukunft jeder Gegenwart verbieten, Spuren ihrer eigenen Existenz zu hinterlassen; als müsste man alle gegenwärtigen Freuden des eigenen Lebens auf dem Altar einer Zukunft verbrennen.

Als ökologisch, säkular und evolutionstheoretisch auf der Höhe der Gegenwart dürfen dagegen allein jene bisher erstaunlich marginal gebliebenen Szenarien gelten, die nach je verschiedenen Kriterien und Perspektiven die Zukunft als eine Krisen- und potenzielle Endphase der Menschheit im Blick halten, ohne sie ins Apokalyptische zu verschieben. Natürlich konzentrieren sie sich vor allem auf Strategien und Technologien, welche die Auswirkungen drohender Verluste eine Zeitlang kompensieren könnten. Hier geht es um die anstehende Gestaltung der nächsten statt um die Heraufbeschwörung der konkret nicht einholbaren letzten Phase unserer Zukunft.

Begonnen hat ein drittes Gespräch über mögliche Formen des kollektiven und individuellen Verhaltens, die es der Menschheit – als der nach aller Wahrscheinlichkeit einzigen Gattung mit einem Bewusstsein vom eigenen kollektiven Ende – erlaubte, in Würde und mit Selbstrespekt abzutreten.

Wann immer wir das Wort «Würde» verwenden, meinen wir Momente von gelingendem Leben unter prekären Bedingungen. Könnte ein kollektives Ende in Würde nicht auch eine letzte stoische Bejahung der Lebensfreude sein – im nüchternen Verzicht auf weit entfernte Jahrhunderte, die nicht einmal unsere Imagination zu erreichen vermag? Es geht dann gar nicht mehr um die Frage, wie weit in die – entfernte – Zukunft sich das Ende der Menschheit aufschieben lässt, sondern um Zukunftsgestaltung als Begrenzung der jeweiligen Gegenwartsverzichte, die man sich aufzuerlegen bereit ist. Ein Verzicht auf solche schmerzhaften Verzichte wäre eine Form der Lebensbejahung.

Säkular handeln wir jedenfalls nur dann, wenn wir auf die Gestaltung der je nächsten Zukunft fokussiert sind – selbst angesichts einer Verengung dieses Horizonts. Ökologisches Denken hat dagegen eine Tendenz gezeigt, den Rahmen immer wieder ins Quasireligiöse zu überschreiten. Das muss nicht so sein. Weniger Projektion könnte zu einem Mehr an Leben führen.

Gespeichert von Isaac van Deelen am

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Ich bedaure, derzeit von anderen Aufgaben bis über die Halskrause absorbiert, nicht mit genügender Sorgfalt auf die Kommentare eingehen zu können. Es wird noch ein wenig dauern, aber ich komme darauf zurück.

Thea Dorn: ~ Gibt es Kriterien für die Relevanz von Aussagekonglomeraten?
– Mir geht es ja um das Argument; deswegen löse ich es aus dem „Konglomerat“. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass ein Argument „im Konglomerat“ seinen Bedeutungsraum verändert. Indem wir aber nicht die Argumente, sondern die Bedeutungsräume diskutieren, tabuisieren oder vernichten oder stigmatisieren wir (auch) diejenigen „richtigen“ Aussagen in den Konglomeraten, die – in einem „anderen“ Bedeutungsraum durchaus berücksichtigt werden sollten.
– Richtig ist, dass nur, weil eine Teilaussage eines Konglomerates möglicherweise richtig ist, schon deswegen nicht auch das Konglomerat legitimiert wäre.

Ulrich: ~ Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Oder schärfer: ist es legitim, zu leben, zu zeugen, zu lachen und Methan abzusondern? Ich stimme sehr zu, wenn Sie den quasireligiösen Charakter der ökologischen Debatte beklagen und befragen, und ich will später genauer auf Ihren Kommentar eingehen.
Vorab: Ob aber die Lebens(modell)änderungen, die die Risikoakkumulation unserer Epoche einfordert, mit den Energien der Vernunft allein umgesetzt werden können, oder ob für diese gewaltigen Notwendigkeiten „Mehr“-Energien aus einem spirituellen Reservoir angezapft werden müss(t)en, ist in meinen Augen eine unangenehme, weil eben so ambivalente Frage.

Gespeichert von Rainer am

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Zu Greta Thunberg, der sechzehnjährigen Klimaaktivisten aus Schweden, fällt mir nichts ein. So dachte ich – bis jüngst ein Bekannter das Wort vom „Kinderkreuzzug“ in die Runde warf. Greta, so sollte das wohl heißen, führe einen Kreuzzug zur Rettung des Klimas, ähnlich fanatisch wie jene Kinder, die sich im Jahr 1212 zu Tausenden aus Deutschland und Frankreich aufgemacht hatten zur Befreiung Jerusalems von den Muslimen – eines der merkwürdigsten Ereignisse des europäischen Mittelalters.

Das Fanatische an Greta ist ja gerade das Nicht-Empathische und Anti-Charismatische ihrer Erscheinung. Wie viele Autisten handelt sie hochmoralisch, obwohl oder womöglich gerade weil ihr die Gabe der Einfühlung in andere abgeht. Sie lässt sich im Kampf für das Gute nicht irritieren vom Verständnis für die Schwachheit der CO2-ausstoßenden Kreatur. Greta macht die Erfahrung, dass sie etwas bewirken kann: Ihre politische Mission, so beschreibt es die Familie, wirkt auf sie selbst antidepressiv und quasi therapeutisch. Treffsicher benennt sie das Glaubwürdigkeitsdefizit der Politiker: Sie sagen das eine und machen das andere. Sie reden laut gegen den Klimawandel, weil das bei den Leuten gut ankommt, scheuen sich aber konkret zu werden, weil dann auch über die Kosten gesprochen werden müsste. Das derzeitige Gewürge um die CO2-Steuer zeugt davon. Für Politiker sind Ziele Gift, bei denen die Kosten kurzfristig anfallen, während sich der Nutzen erst langfristig einstellt.

Greta lässt das nicht durchgehen. Sie antwortet auf Politikversagen mit Hypermoralisierung, die etwas Gnadenloses hat. Hypermoralisierung tendiert zu Vereinfachung und unfairer Schuldzuweisung: „Es gibt doch nur ein paar hundert Firmen, die für den gesamten CO2-Ausstoß stehen“, sagt Greta. Ein „paar wenige reiche Männer“ hätten Tausende Milliarden damit verdient, dass sie den ganzen Planeten zerstören. Greta irritiert, fasziniert, und stößt zugleich ab. „Ich will, dass ihr in Panik geratet.“

Ist das ein Aufruf zum Kreuzzug? Man kann es so sehen, sollte es sich freilich mit dem Begriff Kinderkreuzzug in keiner Weise leichtmachen. Mein Gesprächspartner, der den Begriff in die Runde warf, ist weder Rechtspopulist noch Klimaleugner, der die von Menschen gemachte globale Erwärmung bestreitet. Der Mann hat eine ziemlich linke Vergangenheit und würde sich heute wohl der bürgerlich-liberalen Mitte zuordnen, darin verwandt dem ehemaligen „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust, der ebenfalls mit dem Begriff „Kinderkreuzzug“ hantiert. Die Massenbewegung „Fridays for Future“ komme ihm vor wie ein „moderner Kinderkreuzzug“ oder wie eine „beinahe religiöse Erweckungsgemeinschaft“, meinte Aust kürzlich. Man braucht sich der Debatte nicht versagen, bloß weil die AfD Umwelt und Klima zur Erweiterung ihres migrations- und europapolitisch eingeengten Geschäftsmodells entdeckt hat. Der AfD-Einwand kommt als Totschlagargument in Mode, so dass man am Ende auf die AfD eine Wut bekommt, weil sie dadurch erlaubte Spielzüge dem liberalen Diskurs entzieht.

Doch wie weit trägt der Vergleich mit dem Kinderkreuzzug von 1212? Einer seiner Helden ist der fünfzehnjährige Stephan aus dem französischen Dorf Cloyes. Die Quellen beschreiben ihn als redegewandt und ausgestattet mit der Gabe, zahlreiche Halbwüchsige zu begeistern für seine Idee, das Heilige Land von den Sarazenen, den islamisierten Völkern des Orients, zu befreien. In Paris betrachtete man Stephan als echten „Seher“. Er wurde vom König empfangen und predigte in Saint-Denis, der berühmtesten Abtei Frankreichs. Die Begeisterung für sein Unternehmen soll wie ein Lauffeuer um sich gegriffen haben, so sein Biograph Thomas Ritter. Stephan betrachtete sich als von Gott erwählt und berief sich auf die Erscheinung eines „Fremden“, in dem er Jesus von Nazareth erkannt haben will. Anders als ihre kreuzfahrenden Vorgänger widersetzten sich die Kinder des frühen 13. Jahrhunderts dem Kampf mit Waffen. Statt mit Schwertern rückten sie mit Posaunen los, die an die Einnahme von Jericho erinnern sollten. Ihre „Unschuld“, ein verbreiteter Topos, war die stärkste Waffe dieser Kinder.

Religiöser und ökologischer Fanatismus sind – trotz acht Jahrhunderten Abstand – offenbar nicht sehr weit auseinander. Diejenigen, die von den Kreuzzüglern für ihr religiöses oder ökologisches Versagen angegriffen werden, wanzen sich flugs an sie heran. Kein Politiker traut sich heute noch, etwas gegen Greta und ihrer Freunde zu sagen. Der letzte, der das versucht hat, war FDP-Chef Christian Lindner. Es ist ihm nicht gut bekommen. Jetzt heißt die Devise: Durch lautes Zustimmen sich wegducken. Ganz so wie Papst Innozenz III. (1198 bis 1216) in Rom, der beim Erhalt der Kunde von den Kinderkreuzzügen gesagt haben soll: „Diese Kinder beschämen uns. Während wir schlafen, ziehen sie fröhlich aus, um das Heilige Land zu erobern.“ Die Kinder kritisieren das Versagen der Eliten – und die Eliten haben nichts Eiligeres zu tun, als ihnen Recht zu geben.

Das ist noch nicht alles an Gemeinsamkeiten. Der Berliner Historiker Michael Menzel macht in einem spektakulären Aufsatz über die „Kinderkreuzzüge in geistes- und sozialgeschichtlicher Sicht“ (In: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters, 1999) darauf aufmerksam, dass schon die Zeitgenossen in zwei unversöhnliche Lager gespalten waren. Während die einen in den Kindern die Welterlöser sahen, von Gott zu ihrer heilsgeschichtlichen Tat auserwählt, sahen andere in ihnen nichts als „stulti pueri“, dumme Jungs und Mädels, die sinnlos in Richtung Meer laufen.

Das klingt uns Heutigen vertraut. Am Ende errang das Lager der Bewunderer den rhetorischen Sieg. Kindliche Armut schlägt kirchlichen Reichtum. Kindlichkeit, Unschuld und Armut sind Bilder und Metaphern, die offenbar bis heute stark wirken und die konkurrierende Einschätzung fanatischer, verführter, unreifer Apokalyptiker schlägt. Die Kinder haben es geschafft, dass ihre Umwelt sie als willenlose Instrumente Gottes darzustellen vermochte.

Aus dem Vergleich folgt am Ende mehr als die bekannte Einsicht, dass der Gesinnungsethiker stets und unmittelbar mehr Gefolgschaft erhält als der Verantwortungsethiker. Bei genauer Betrachtung wird aus dem polemischen Etikett „Kinderkreuzzug“ ein Wettstreit der Rhetorik mit positiv lobendem Überhang: Unter dem Titel „Kinderkreuzzug“ erschien im Jahr 1968 bei rororo ein von dem Sexualwissenschaftler Günter Amendt herausgegebener Band mit dem Untertitel „Beginnt die Revolution in den Schulen?“, der es bis 1971 auf über 50.000 Exemplare gebracht hatte.

Es ging darum, wie aus der „antiautoritären Bewegung“ eine „sozialistische Schülerbewegung“ werden könne, sozusagen als Avantgarde der Achtundsechziger. Dass er das Kampfwort vom „Kinderkreuzzug“ mit Emphase positiv verwandte, war dem Herausgeber noch nicht einmal einer Begründung pflichtig. So zwingend ist offenbar der Charme von Naivität und Unschuld, höher als alles ökonomische Räsonnement. Wir wäre es, den erwartbar in Hollywood bald gedrehten Film zur Klima-Bewegung „Fridays for Future or The Children’s Crusade“ zu betiteln?