Das analoge Denken

Grau ist alle Theorie

Nieder mit dem SmartPhone

 

 

 

Wie weit wohl die Meinungsfreiheit gehen soll? Jenseits der gesetzlichen Vorgaben (zum Beispiel zur Volksverhetzung) ist die Frage selbst eigentlich illegitim, klar, und doch lugt sie immer mal wieder aus ihrem Exil hervor. Zur Meinungsfreiheit gehört, dass Du auch dumm sein kannst und trotzdem sagen, was Du denkst; und ist es auch nicht viel, aber das kannst Du sagen.

Mit offenem Visier mutig in die Debatte hinein

Average: 5 (2 Bewertungen)

Eine Demonstration davon, wie weit diese Freiheit reichen kann, lieferte seinerzeit (hoffentlich seinerzeit!) Donald T., der nicht nur relativ unterbelichtet denkt, sondern dies mit Narzissmus, Bauernschläue (die armen Bauern, da müsste mal ein politisch korrekter Begriff her!) und Lügen so vermengt, dass eine hochgiftige, staatsgefährdende Suspension entstand; immer noch entsteht. In dem Zusammentreffen von privater Realitätsabkehr bei gleichzeitig fast unbegrenzter öffentlicher Wirkmacht, war (und ist) Donald T. gewiss ein Sonderfall und Extrem. Es gibt aber doch ein breites Spektrum weit weniger krasser Fälle, bei denen man mit dem Kopfschütteln kaum hinterher kommt.

 

assasa

Im aktuellen Spiegel Nr. 37 vertritt Alexander Grau auf einer Doppelseite der Rubrik Debatte ($) das „Recht auf ein analoges Leben“. Mir war der Herr Grau unbekannt. Er sei Jahrgang 68, Philosoph und Publizist, so erläutert die Redaktion, und lebe in München; das allein muss nichts heissen. Oder doch, denn München als Stadt erzeugt schon ein sehr eigenständiges kulturelles Idiom, und einem Preussen mag es durchaus so vorkommen, dass von daher kollaterale Schäden bis ins Bewusstsein ausstrahlen könnten. Seinen Text beginnt Herr Grau mit der griffigen Zeile: „Die Digitalisierung ist der Fetisch unserer Zeit.“ Hhm. Was war nochmal ein Fetisch? „Die Verehrung bestimmter Gegenstände im Glauben an übernatürliche Eigenschaften.” (Wikipedia) … irgendwie ist immer eine erotische Komponente im Spiel; meistens. Ach so, könnte man denken, Porno – aber das meint Herr Grau nicht.

Bei ihm feiert der Mensch, staunt, ist entzückt, lauscht hingebungsvoll Visionen, und zwar, natürlich, der Digitalisierung, in Variationen. Gut, es heisst ja, DER SPIEGEL sei die Bildzeitung für Akademiker, vielleicht hat es damit zu tun? Digitalisierung, sagt Grau, sei weniger eine Technologie, vielmehr eine Ideologie – und zwar, weil ihre Protagonisten, vor allem Konzerne, vorgeben, mit der oder durch die Digitalisierung „die Apotheose der Aufklärung“ zu repräsentieren, ein „Versprechen auf Selbstverwirklichung, Freiheit, Demokratie, Teilhabe und Emanzipation”. Hhm.

Ich erinnere diese Vision gut, sie stammt aus den späten 90er Jahren (ich zählte, damals, zu ihren Evangelisten). Inzwischen hatte Jürgen Habermas genügend Zeit, um einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu beschreiben, der es damit seinerseits knapp, fast, auf die Höhe der Zeit geschafft hat. Falscher Zungenschlag: Habermas ist nicht mehr ganz so leading edge, aber doch schon OK; ich wünsche mir sehr, mit x-und-neunzig auch noch so klar zu denken.

Es geht ja um Herrn Grau: wenn man jemanden zerpflücken will, braucht man ihn nur wörtlich zu lesen; aber eigentlich lenkt das ab. Was will er denn, der Herr Grau? Ein „Recht auf ein analoges Leben”. Hhm. Was schwebt ihm da vor? Geht es, bildlich gesprochen, um das Recht auf die Pferdekutsche? „…Emanzipation, die einer Technologie bedarf, ist keine, sondern allenfalls eine Abhängigkeit, die sich gut anfühlt.“ Ich trinke gerne Rotwein, insofern verstehe ich zumindest die Intention des Argumentes. Andererseits könnte man auch die Quote als „Technologie“ beschreiben. Es gibt aber doch ein paar Passagen in dem Text des Herrn Grau, die zu denken geben.

„Gestützt auf das fragwürdige Argument angeblicher Unvermeidbarkeit und unter dem Vorwand technischer oder wirtschaftlicher Notwendigkeit, legt eine allmächtige Koalition aus Staatsinstitutionen und Wirtschaft ein Netz aus Vorschriften, Normierungen und technischen Standardisierungen über die Lebenswelt der Bürger.“

Sprachlich schiesst sich das Argument bereits am Beginn ins Knie, wenn die „angebliche Unvermeidbarkeit“, als „fragwürdiges Argument“ vorgestellt wird, was einer doppelten Verneinung nebst Nebenwirkungen gleichkommt. Dass die Politik und die staatlichen Institutionen noch 2013 im digitalen Neuland zu navigieren versuchten, gute 30 Jahre nach dem ersten PC und 20 Jahre nach dem ersten Browser, je nun, man soll nicht kleinlich sein. Und die haben sich also mit der Wirtschaft zu einer Koalition verbündet. Ich frag ja nur: welche Wirtschaft? Welche Koalition? Microsoft, Apple, Amazon, Ebay, Twitter, Facebook – usw. – und DIE haben sich mit der Politik verbündet? Dass ich nicht lache; nicht mit der deutschen, soviel ist gewiss, und mit der europäischen auch mehr in einer amour fou. Gerade die Normierungen und Vorschriften – siehe DSGVO –, die dem Geschehen um Jahrzehnte hinterherhinken, versuchen (btw: mit mässigem Erfolg) das Gegenteil: nämlich die allmächtigen (imperialen) Unternehmungen an die Kandare zu nehmen. Und wiederkehrende Strafzahlungen an die EU würde ich nicht direkt als Liebesbeweise beschreiben. Aber es stimmt ja: „Digitalisierung first, Bedenken second.“ Das ist ja tatsächlich die Parole einer staatstragenden Minderheit.

***

Mir kommt das dieser Tage allenthalben unter, gerne als SmartPhone-Bashing, wie gestern erst, als ein „Brief des Opas an den Enkel – Nein, ich brauche kein Smartphone!" im politischen Feuilleton des Deutschlandfunk zu hören war, aber auch als elaborierte Gesellschaftsdiagnose, wie bei Roberto Simanowski, oder eben hier, bei Alexander Grau. Es ist Mode, offenbar, die Digitalisierung jetzt mal so richtig kulturkritisch auf’s Korn zu nehmen. Ich selbst würde mich durchaus einreihen wollen, wenn es denn um die – in meinen Augen – drängenden Aspekte ginge: die Zerstörung der Öffentlichkeit durch die sozialen Medien, das Vabanque-Spiel mit der KI oder die Vollautomatisierung der Industrie, den energetischen Wahnsinn der BlockChain; diese Richtung. DAS wären Ansatzpunkte, aber das SmartPhone? Ja gut, es gibt Auswüchse, das will ich nicht leugnen; die gibt es auch beim Auto, beim Gaming, sogar beim Lesen.

Jetzt hatte der Bagger das Internet zerstört (echt jetzt) und ich war 5 Tage ohne jede Verbindung: kein Netz! Als Folge davon fehlte die Morgenlektüre, der Research, das Wetter, die Übersetzung. Es gab keine Mails, keine Nachrichten von meinen Leuten, meine Musik steckte in der Cloud fest, gleich neben meinem Streamingangebot, meine noch nicht abgehörten PodCasts waren schon grün-schimmelig, von … lange her. Ich konnte nicht telefonieren (klar: IP-Telefonie, aber auch sonst ist bei mir Funkloch). Nicht zu reden von den vielen kleinen Alltags-Apps. „Emanzipation, die einer Technologie bedarf, ist keine …” Wir könnten fragen: gibt es denn ein Leben ohne Technologie? Herr Grau ist vorbereitet: „Doch letztlich blieben diese Techniken uns Menschen immer äusserlich. Sie machten unser Leben bequemer…(usw.). Aber sie manipulierten nicht unser Denken.” Das schreibt Herr Grau – im Spiegel. Ausgerechnet.

Was mich überhaupt nicht überzeugt, ist eine volkstümelnd-populistische Kritik, die komplett unterschlägt, welchen Nutzen die Digitalisierung in der UpSide mitbringt. Die Digitalisierung ist doch nicht deswegen zum disruptiven Weltumbruch geraten, weil sich irgendwelche obskuren Kräfte verschworen haben. Es sind die tatsächlichen und (auch) vermeintlichen Nutzenversprechen, die die Digitalisierung "erfolgreich" gemacht haben.

***

„Sie steuern unsere Gedanken und entwerfen unsere Träume.” Im viktorianischen England galt diese Diagnose dem damals einigermassen epidemischen Roman-lesen. Lass es mich so sagen: Unsere Träume sind relativ berechenbar, atavistisch, vor allem aber haben sie sich stets der verfügbaren Instrumente bedient. Mehr noch: sie waren immer schon Eskapismus pur. Seinen argumentativen Scheitelpunkt erreicht Herr Grau, wenn er von der Freiheit redet: „Nur der Mensch, der die Möglichkeit hat, ein analoges Leben zu führen, ist im eigentlichen Sinne frei.” Mit diesem Argument gerät Herr Grau vollends ins Abseits: Soll er doch das Digitale mit all seinen Variationen links liegen lassen; bitte sehr. Er kann es nicht, er will es nicht, das ist doch des Pudels Kern. Und er kann es nicht deshalb nicht, weil „das wirtschaftliche System” und „die staatlichen Institutionen” ihn verhaften und „jedes Handeln und Leben nur im Rahmen ihrer eigenen Logik” zulassen, sondern weil er von den Annehmlichkeiten oder Vorteilen nicht lassen will.

„Das bin ich nicht gewöhnt, ich kann mich nicht bequemen, den Spaten in die Hand zu nehmen. Das enge Leben steht mir gar nicht an.” sagt Faust. Er könnte!, niemand als er selbst hält ihn ab. Und niemand zwingt den Herrn Grau – oder einen idealen Gesamtbürger. Zwingend ist nur Mephistos Logik: „So muss denn doch die Hexe ran.”

Es ist aber auch der Freiheitsbegriff selbst, der in die Irre führt. Das analoge Leben zeigt andere Abhängigkeiten als das digitale (physiologische, soziale ...), nicht aber KEINE! Schon Montaigne wusste, dass frei nur ist, wer den Tod, und richtiger noch: das Sterben, nicht fürchtet. „Man hatte die Möglichkeit, ohne Elektrizität, Telefon oder Fernseher zu leben.” Gut, ok ..., da widerspreche ich nicht. „Anders die Digitalisierung. Sie droht geradezu zur Bedingung des Lebens zu werden, das Smartphone zu einem unverzichtbaren Teil der eigenen Existenz.” Das aber ist dann unredlich: Wenn man ohne Telefon oder Elektrizität „leben konnte”, so sehe ich nicht, warum man nicht auch ohne die Derivate der Digitalisierung „leben kann”.

***

Das Gekonnte wird das Gesollte und schliesslich das Gemusste. Das (von Günther Anders geborgte) wäre wenigstens ein kritisches Argument. Es besagt aber zugleich, dass das Gekonnte das Unvermeidliche ist. Das gilt umso mehr in einer globalisierten Welt(un-)ordnung, in der es keine Instanz gibt, die irgendeine (wie auch immer) vorteilversprechende Entwicklung oder Technologie aufhalten könnte. Was für ein seltsamer Graswurzelgedanke ist es, den Menschen von den Ergebnissen der Menschheit freistellen zu wollen? Ich halte es für richtig und nötig, dem technologischen Fatalismus etwas entgegen zu setzen: Regulierung. Ich sehe bedrohliche Entwicklungen, die mit der Digitalisierung einhergehen: wer aber an der Stelle einer Kritik der Umsetzung und Ausführung, mit kindlichem Füsschen stampfend, bloss einen Schutzraum für Vergangenes, also eine Freistellung von der Realität fordert, befördert die Risiken und betreibt das Geschäft jener, die er zu kritisieren vorgibt.

Am Anfang und am Ende des Textes steht die Forderung nach einem „Grundrecht auf eine analoge Existenz.” Was soll das sein? Alles, was mir dazu einfällt, steht in den Grundrechten des Grundgesetzes. Je länger ich über die gleichermassen plakativen wie unausgegorenen Thesen nachdenke, desto deutlicher wird mir, dass der ganze Text des Herrn Grau aus dem Vorsatz entstanden ist, einen Spiegel-Artikel zu lancieren.

Gespeichert von Unbekannt am

Permalink

Wir leben in einer Zeit des Generationen bedingten Umbruchs. Noch überwiegen die analog aufgewachsen und für diese ist Digitalisierung oft ein große Hürde (Siege Grundsteuererklärung über Elster). Das macht zwar die Digitalisierung nicht falsch , aber die Akzeptanz sehr schwer. Möglicherweise ist dass das ursächliche Problem von Herrn Grau??

Stefan Fröhlich

Gespeichert von admin23 am

Permalink

Hhm. Weiss nicht. Im Alter zwischen 14 und 55 Jahren nutzen über 90% mobiles Internet und Apps. Bis 65 sind es noch 83%, bis 75 63% und noch ältere nutzen es zu 36%. Nach allem, was ich über Nutzungskennzahlen weiss, kann man also nicht von Akzeptanzproblemen reden. Wenn ich ihn recht verstehe, geht es dem Herrn Grau auch nicht darum, dass diese oder jene Nutzung "schlecht", unausgegoren oder buggy ist – er will weiter mit der Pferdekutsche fahren (können). Das, finde ich, hat etwas Künstliches, Gewolltes, Unernsthaftes.

IvD