40 Stunden mit Matou

Michael Köhlmeier schreibt "Matou"

Wir sind erschöpft.

 

Bei manchen Büchern entwickeln wir so eine Leselust, dass dieser schwebende wachträumende Zustand nicht oder gar nie aufhören möge. Nach 40 Stunden mit Michael Köhlmeier und seinem Matou sind wir – erschöpft. Ich würde liebend gern gut und begeistert darüber berichten, allein, bei aller Sympathie, das klappt nicht. Auf den einfachsten Nenner gebracht: das Buch hat 1000 Seiten, und es ist um die Hälfte zu lang.

Ein andauernder Versuch, den Menschen als solchen zu verstehen, aber ein Tier zu bleiben

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Zunächst: ich habe die Hörbuchfassung hinter mir, deswegen die 40 Stunden – ich hätte es lesend aber auch nicht durchgehalten. Das Hörbuch hat der Autor selbst eingelesen, und an dem Sachverhalt, solo, gibt es nichts zu meckern: eine sonore Märchen-Stimme, leicht rauchig, angenehm und angemessen. Ich hab ihm gern zugehört, etwa die ersten 15 Stunden.
Wenn etwas geklemmt hat, so ist es der in allerlei Richtungen auslaufende Inhalt, genauer: es ist das Konzept.

Spoiler Alert: Ich werde nicht alle Details für mich behalten, aber doch so, dass es „eigentlich“ der Lektüre oder dem Hören keinen Abruch tun sollte.
Also: Sieben Leben hat die Katze, jedenfalls die kontinentale; britische und US-amerikanische dagegen haben sogar neun Leben. Köhlmeiers Matou, so heisst der Titel-gebende Kater, um dem es geht, ist ein kontinentaler Kater, er bedauert das sehr und versucht alles, um als Übersee-Kater vielleicht doch noch zwei Leben dran zu heften: das misslingt. Als Zuhörer bin ich erleichtert. Denn genau das ist Köhlmeiers Plan, sein Konzept:
Matous Leben zu erzählen, alle.

Bevor und damit dieser Plan in Gang kommt, müssen wir zwei Dinge verstehen: Matou kann sprechen. Er spricht wie ein Mensch, er kann sogar in unterschiedlichen Tonlagen sprechen, und er spricht mit Menschen und Tieren gleichermassen. Mit den Tieren sowieso, bei den Menschen nur mit sehr wenigen Auserwählten, Getesteten, solchen, die nicht gleich darüber wahnsinnig werden, dass er, Matou, sprechen kann. Das ist eine berechtigte Vorsicht, richtig gut kommen nur wenige damit zurecht. Er sprich also, das ist das Erste. Und zweitens kann Matou auch lesen und schreiben. Unser Buch, nebenbei bemerkt, ist nämlich seine Autobiographie. Und mit seinen Begabungen ist es noch schlimmer: Matou liest Kant oder Hegel „blätternd“, scannend, in 20 Minuten ist er mit einer dicken Schwarte durch, UND: sie ist für immer in seinem Kopf gespeichert; für immer: durch alle seine 7 Leben hindurch! Und weil das so ist, ist sein Lesehunger schier unermesslich. Woher wissen wir das? Er erzählt es uns, lang und schlapp, endlose Listen von Büchern, die er sich hat aus der Nationalbibliothek mitbringen lassen. Soll das eine Art Kanon sein? Nein, es ist, den Umständen seines jeweiligen Lebens geschuldet, ein buntes Sammelsurium, von 35 Bänden Lexika bis zu geothermischen Studien, von philosophischen Schriften bis zu US Kriminalgeschichten, von mathematischen bis zu poetischen Werken. Kreuz und quer. Matou liest alles, versteht alles, behält alles. Wie ein Computer, wie eine KI; mit einer Ausnahme, und auch darin ist Matou einer Maschine ähnlich. Der menschliche Hang zur Metapher macht ihm zu schaffen. „Er ist aus allen Wolken gefallen“:
Was bitte soll das bedeuten?
Kann er fliegen?
Warum aus allen?
Und wenn er nicht fliegen kann: nach dem Sturz ist er doch tot, oder?
Es dauert beinahe bis in sein 7. Leben, dass Matou einigermassen mit Metaphern klar kommt; aber ganz geheur sind sie ihm nie.

Gleichsam im Vorübergehen, nämlich bei den Bücherlisten, haben wir bereits eine enervierende Marotte des Autors kennengelernt: er traktiert uns mit Listen: wo es um „99 Arten zu sterben“ geht, werden alle aufgesagt, und es ist nur die Liste, die mir von allen in Erinnerung blieb (wieder kommt uns der Vergleich zur Gnadenlosigkeit eines Computers. Paul Simon, wir erinnern die „fifty ways to leave your lover“, war gnädiger: Er beliess es bei sieben). Meistens hab ich auf schnellen Vorlauf gedrückt. Aber ich wollte etwas anderes sagen:

Matou erzählt uns alle seine sieben Leben: das erste unter seinem Herrn Camille Desmoulins, einem französischen Revolutionär von 1789, den es mit 34 Jahren unter die Guillotine verschlug; es folgt ein Leben bei ETA Hoffmann, dessen „Kater Murr“ wohl auf Matou zurückzuführen sei, sehr zu dessen Leidwesen; dannein Leben in Prag bei einem Juristen mit grosser Bibliothek und einer dem Wahn verfallenden sehr jungen Frau, dann sozusagen eine Sonderexistenz als Gepard in Afrika, im Kongo, wenn ich es recht erinnere, oder war es ein Jaguar? In diesem Abschnitt werden wir um die 1.000 Mal von dem „Mädchen mit seinem hölzernen Rädchen“ hören, bis es uns zu den Ohren wieder rauskrabbelt; auch so eine Marotte des Autors: quälende Wiederholungen. Ein weiteres Leben verbringt Matou in den 1970er Jahren bei einer Berühmtheit in New York, das streckenweise sehr lustig ist. Dort kommt es zu dieser Episode, in der sechs Intellektuelle Drogen nehmen; die hat mich wirklich amüsiert.
Und sein letztes Leben schliesslich verbringt Matou mit und bei einem fast namenlosen, nörgeligen Daniel aus Wien und dessen liebenswürdiger Tante.
Eins, zwei, drei, …. Ich hab eins vergessen, genau: nämlich ein Leben auf der griechischen Insel Hydra, auf der fast nur Katzen leben. Hier entwickelt Matou eine sehr unangenehme Charaktermischung aus Autokrat und Tyrann. Das hat durchaus Realismus, aber schön zu hören ist es nicht.

Nun, eine ziemlich Weile, mit Highlights und auch ohne, geht das gut, aber spätestens in Afrika wird dieses Konzept zu einer Streckbank, die den Leser/Hörer foltert. Es geriet zur Falle, das Konzept: einmal den Weg eingeschlagen, kommt der Autor aus seiner Story nicht mehr raus. Kürzungen, eigentlich unabweisbar, würden aber das ganze Konzept vermasseln. Und so berichtet der Autor, was ihm dann einfällt oder eben nicht einfällt, und es ist streckenweise enervierend.

So ein guter Ansatz, mit Esprit und subtilem Witz, so eine mühselige Durchführung. Wie schade. Oder sagen wir es anders: der souveräne und emanzipierte Leser/Hörer nimmt mit, was ihm oder ihr gefällt. Ernsthaft: für geschätzte 500 Seiten ist das Buch eine unterhaltsame Empfehlung.

 

Übrigens gibt es eine sehr ausführliche Leseprobe hier.