Für einen Soziologen (Armin Nassehi ist ordentlicher Professor an der LMU) ist diese handzahme Analyse schon ein Armutszeugnis.
Aber zunächst steht hier Richtiges:
Aber wer macht dann den Job?
Eine Linke braucht es nicht
zu Armin Nassehi
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- dass die Linke zu einem Politikbegriff der Stellvertretung übergegangen ist, die Herrschaftsfrage ebensowenig diskutiert wie die mannigfachen Fragen von Umsetzung und Umsetzbarkeit, das ist zwar keine neue, aber eine wichtige Erkenntnis. Sicherlich fehlt ihr ein bedeutsames analytisches Mosaikstück, nämlich ein Hinweis darauf, dass diese Form von politischem Karokaffee aus der abgrundtiefen Lähmung resultiert, die mit dem Untergang des Real Existierenden Sozialismus einher ging. Den konnte und musste man kritisieren, aber immerhin bot er in einer ggf. „renovierten und besser gleich generalüberholten“ Form eine gesellschaftliche Perspektive. Eine solche gesellschaftliche Perspektive ist nicht existent, und das macht die Diskussion auf der Linken so fusslahm. Wobei ich wieder zustimme, wenn Nassehi bei den Linken einen autoritären Zug sieht, um Nase, Kinn und Mund, eine alte Tradition, der die Zwecke die Mittel heiligten, aber auch eine Ratlosigkeit im Angesicht der offenbaren Unfähigkeit der bestehenden demokratischen Strukturen im Umgang mit den realen Problemen. Anders als Nassehi sehe ich diesen Zug allenthalben.
- dass die real existierende Gewalt vor allem eine Showveranstaltung ist, die sich an das Publikum richtet, ist ebenfalls eine, wenn auch geborgte, saubere Benennung; hier gibt es auch andere starke Passagen, Gewalt verkürzt die Zeit, ist unmittelbar und nicht interpretationsbedürftig, hier stock ich schon. Denn von wem die Gewalt ausgeht, das ändert sehr wohl die Bewertung! Es macht einen Unterschied, ob der „Schwarze Block das Schanzenviertel zerlegt“ oder unterschiedlichste Gruppierungen von Jugendlichen „die Gunst der Stunde nutzen“ und mal eben die Sau raus lassen. Auch die Feststellung, dass es „systematisch keinen Unterschied mache“, ob Gewalt gegen Sachen oder gegen Menschen gerichtet sei, macht mich sprachlos. In den letzten dreieinhalb Monaten sind in Venezuela, so berichtete die Zeit am 21. Juli, über 100 Menschen getötet worden. Auch wenn ich mich sehr genau an Günther Anders erinnere, der darauf hingewiesen hat, dass Tote quantitativ nicht aufrechenbar sind (allenfalls ab einer unbestimmten Grösse emotional nicht erfassbar), erscheint mir doch die begriffliche Eskalation in der Benennung der Hamburger Exzesse, bei denen es keine Toten gegeben hat, leicht aus dem Masstab gelaufen.
Einigermassen sprachlos macht mich auch die Beschreibung „einer Welt, die aussieht, als sei sie aus den Fugen geraten“: nämlich durch „brutale Gewinnorientierung“, die „Fehlanreize“ einer vollständigen Privatisierung, die „Narrenfreiheit“ von Konzernen und die Korruptheit von „manchen Regimen“, die überdies aus Opportunimus strategisch „gestützt und stabilisiert“ werden. Allein diese samtigen, Salon-linken Formulierungen „brutal“, „Narrenfreiheit“, „Fehlanreiz“! Nüschte für unjut: aber DAS hatten wir schon immer. Aus den Fugen gerät die Welt wahrlich an anderer Stelle: beim Klima, beim Terror, bei der wachsenden Nuklearkriegsgefahr, bei der wachsenden Anzahl hoch- und höchst entwickelter Industrienationen, die reihenweise dem Rechtspopulismus, Prä-Faschismus und anderen diktatorischen Spielarten anheim fallen, und schliesslich bei der nationalen politischen Impotenz im Umgang mit transnationalen Konzernen. Und die Digitalisierung lass ich für den Moment mal stecken.
Nassehi hat Recht, wenn er disgnostiziert, dass es mit einer Parole, die den „Kapitalismus abschaffen“ will, nicht getan ist; auch die Entpolitisierung des friedlichen wie des gewaltsamen Protestes diagnostiziert er richtig. Geradezu fahrlässig, wenn nicht feig ist es aber, es dabei bewenden zu lassen, nämlich die politische Ohnmacht bei den Hamburger Demonstranten zu verorten, und bei der Gelegenheit auch sogleich noch die allseits beliebte rechts-links-Gleichsetzung einzuflechten. Hätte sich diese Ohnmacht (allein) in Hamburg manifestiert, oder wären die in Hamburg versammelten Protestler die einzig Ohnmächtigen, es gäbe ja Grund zur Hoffnung.
Nassehi hat Recht, wenn er das globale Wachstum des Wohlstands diagnostiziert und mit Hinweisen auf Armut, Säuglingssterblichkeit, Bildung, Medizinischer Versorgung und „sogar“ Demokratieindizies belegt, und die „grössere Beteiligung von Frauen an der Mehrwertproduktion“ hinterherschickt. Es ist aber dramatisch, dass er die explodierenden Fremdlasten, die diese Erfolge erkaufen, nicht sieht. Ebenso fahrlässig ist der Umgang mit den Zeithorizonten: die zu Recht benannten Fortschritte haben jetzt fast 70 Jahre gebraucht, um auf ihrem immer noch bescheidenen Niveau anzugelangen.
Wäre es nicht das Ergebnis einer so schwer erträglichen Form von analytischem und begrifflichem Opportunismus, Nassehi würde mich in seiner Schlusspassage beinahe versöhnen: Neues Denken braucht das Land. Jaja. Das ist schon richtig. Eine Linke braucht es dafür nicht, und ich unterstelle, dass er die Rechte unerwähnt lässt, weil sich das von selbst versteht. Wer aber der Veranstalter dieses Neuen Denkens seien könnte, mit welchen analytischen Werkzeugen und welchen pragmatischen Umsetzungskompetenzen der/die ausgestattet wären, das bleibt im Dunkeln.