Das Volk ist das Problem, nicht die AfD

Blut, Schweiss und Tränen

Man kann Die Partei nicht bekämpfen, in dem man sie bekämpft

01-10-2023
 

Zurück auf der Schulbank:
„Die edle Einfalt in den Werken der Natur hat nur gar zu oft ihren Grund in der edeln Kurzsichtigkeit dessen, der sie beobachtet.“ Lichtenberg, kluger Mann. Oder anders: Mal vu, mal dit. Beckett, auch nicht dumm.

Was halt so an Ideen herumliegt ...

Noch keine Bewertungen vorhanden

94,23% dessen, was ich zum Thema AfD zur Kenntnis nehme (lese, sehe, höre) geht am Problem vorbei; wirklich nur ab und an findet sich Sahra Wagenknecht in den verbleibenden Prozenten (so etwa bei Markus Lanz am 12-IX-2019).

Hinweis Wagenknecht: Es geschieht oft, dass „den Linken” eine Nähe zu rechten Positionen vorgeworfen wird, und umgekehrt (Hufeisentheorie). Für die jeweilige Partei ist das beleidigend, von aussen gesehen aber ist es kaum von der Hand zu weisen. Dafür gibt es einen plausiblen Grund, der nur etwas umständlich in Worte zu fassen ist: politische Positionen adressieren gesellschaftliche Sachverhalte – auf einer Pyramide vom Konkreten bis zum Abstrakten. Geht es um „links und „rechts” (also nicht etwa um einen Rentenvorsorgezuschuss oder eine Dachsparrenquerschnittsrichtlinie), so werden die Sachverhalte auf der Systemebene verhandelt. Dort, auf der Systemebene, kann man „für” oder „gegen” das System sein. Für das System ist „die Mitte” (sie lebt vom und für das System), eher gegen das System sind die Ränder (kein Wunder, sie sähen sich gern in der Mitte). Wenn also die Ränder „auf das System” schauen, haben sie vergleichbare Kritikpunkte, eben weil „das System” bestimmte Schwachstellen aufweist, die von seinen Befürwortern gern ignoriert oder bestritten werden. Die Kritik der Ränder tritt meist mit unterschiedlichem, gelegentlich sogar mit dem gleichen Vorzeichen auf, etwa, wenn ein Sachverhalt „besonders eindeutig” ist. Zugespitzt: es liegt also am System, im System, wenn seine Kritiker trotz unterschiedlich(st)er Couleur dasselbe kritisieren.

Also zur AfD: Es wird ja auch auch viel Richtiges gesagt und getan: Wehret den Anfängen, oder: Keine Zusammenarbeit … usw. …, nichts davon hilft. Im Gegenteil.

Die Partei und tatsächlich ist es ein anti-liberaler Affekt (zunächst schrieb ich: Denken, das schien mir dann zu hoch gegriffen) – bis hinauf auf die globale Ebene – hat ein Momentum, und es scheint, als könnten die übrigen (mehrheitlichen[?]) demokratischen und liberalen Akteure tun, was immer ihnen einfällt – die Partei, der Affekt, findet einen Weg, es für den eigenen Vorteil zu nutzen. Das zeigen die handelsüblichen demographischen Erhebungen: eine anwachsende Minderheit in der Bevölkerung honoriert das. Diesen Zuwachs stützt eine wachsende Bereitschaft, auf sogar nur rudimentäre Reste eines Rationals zu verzichten („Die verarschen uns doch sowieso”), oft genug auch gepaart mit einer Unfähigkeit, Sinn und Unsinn zu unterscheiden. Jaa, das Volk; ich komme darauf zurück.

Das jüngste demokratische Problem, ich habe Böckenförde inzwischen oft genug zitiert, entstand aber bereits vor 50 Jahren, ungefähr; das wird jetzt diese oder jenen überraschen.

„Wir sind eine klei-ne, ra-di-ka-le Min-der-heit!“
„Ho-Ho-Ho-Tschi Min!“
„Unterm Pflaster liegt der Strand.“
„Jetzt oder nie in die Parfümerie!”
Usw..

Die Parolen (und Diskussionen) der 68er hatten sich zunehmend dem damals obwaltenden, sogenannten demokratischen Diskurs verweigert, mit dadaistischen Elementen zum Teil, oder sie hatten die mit aufgepumpter Ernsthaftigkeit vorgehaltene Maske mit Ironie und Sarkasmus konterkariert; und zwar WEIL dieser vermuffte „Diskurs” sich weigerte, die virulenten oppositionellen Anschauungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn in Erwägung zu ziehen.

Opposition: Der Einzelne tut sich schwer damit, für seine Anschauungen von einer Mehrheit ignoriert, verlacht oder gar kriminalisiert zu werden; kaum zu ertragen: selbst ein Martyrium (Stichwort Alexei Nawalny) lebt von der Anerkennung: als solches!

Wenn jedoch – weil: „Wir sind viele!” –, es keine Einzelnen mehr sind, die die Arroganz des Mainstreams erdulden müssen, wächst so etwas wie eine kollektive Hornhaut. Die, im Nebeneffekt, auch für jene fundamentalen Reste zunehmend undurchdringlicher wird (Sprache, Normen, Werte …), die Gesellschaft erst herstellen. Ergebnis: In einer solchen Entwicklung ghettoisieren die Anschauungen der Minderheit, immunisieren sich gegen das bräsige Diktat der Mehrheit und bilden einen eigenen Kanon aus.

Hinweis 68: Unter der Parole „Mehr Demokratie wagen“ wurde ein nicht unerheblicher Teil der 68er von Willy Brandt re-patriiert, soll heissen: in den Parteiendiskurs zurückgeführt. Dahinter wirkte das (damals von Brandt +/– glaubhaft verkörperte) Versprechen, künftig die „berechtigten Positionen“ nicht nur zu hören, sondern auch, soweit das systemische Gestänge es trägt, zu berücksichtigen. Auf dem langen Marsch aus den Restbeständen einer nicht ganz ernst gemeinten Revolution erhob sich, langsam aber stetig, die rot-grün versiffte Republik.
Es liegt auf der Hand, dass eine ähnliche Re-Integration, etwa unter der Parole: „Mehr Nationalsozialismus wagen“, ungeeignet erscheint. In den Kämpfen und Saalschlachten der 1920er und 1930er Jahre hat sich auch der gewaltsame Diskurs als politisch nicht zielführend erwiesen. Und so sehen „wir” uns heute vor das Dilemma gestellt: die Neue Rechte und ihr parlamentarischer Arm verweigern den (rationalen) Diskurs, eine (z.B. Strauss’sche) Re-Integrationsstrategie ist nicht zu erkennen, und Gewalt schafft das Problem nicht aus der Welt.

U-Turn zu meiner Einstiegsthese, dass nämlich die Auseinandersetzung mit der AfD in nahezu allen Facetten am Problem vorbei geht. Warum:

  1. Die AfD ist Symptom einer medialen Erkrankung der Gesellschaft.
    Dafür ein Beispiel: Alexander Schäfer kommentiert in 70 schmalen Zeilen die Halbzeit der Bundesregierung unter der Überschrift:
    „Eine unheilvolle Dreiecksbeziehung”„Die drei Koalitionäre fahren das Land Stück für Stück vor die Wand. Weil sie die Probleme nicht lösen…Ja, diese Bundesregierung hat es nicht einfach. … Ja, die Herausfordeurngen sind mit Ukraine-Krieg und Klimawandel immens gross. Doch das entschuldigt nicht, dass Deutschland Wachstumsschlusslicht in Euroa ist. Das entschuldigt auch nicht den zweistelligen Zulauf für die AfD seit der Bundestagswahl. Unterm Strich ist der Grund simpel: Wir werden schlecht regiert. …” Bezeichnend an diesem Kommentar ist, vom analytischen "Tiefgang" einmal abgesehen, dass Herr Schäfer in der Hersfelder Zeitung kommentiert, sozusagen „vor Ort”, im unteren medialen Gestrüpp. Letzteres klingt despektierlich (gemeint ist die unbestreitbare Hierarchie der Medien), soll aber zeigen, dass die Haltung gegenüber der Bundesregierung – allenfalls mit wechselnden Schuldzuweisungen – „auf allen medialen Ebenen” gleichermassen tönt.

    Wobei unberücksichtigt bleibt, dass so ziemlich jede Regierung zur Halbzeit ins Abseits kommentiert wird. Unberücksichtigt bleibt auch, dass die Regierung arbeitet und ihre Versprechen angeht und umsetzt.
    Und komplett unterschlagen wird, dass die Regierung mit dem Amtsantritt vor Probleme gestellt war, deren existentielle Härte programmatisches Handeln ausser Kraft setzt, während es zugleich keine Handlungsmuster gab, an denen sich administratives Handeln hätte orientieren können. Die sie gleichwohl überwiegend gemeistert hat.

    • Ich knete diesen Text seit ein paar Wochen, just heute (27-IX) erscheint auf ZeitOnline ein Bericht zu Steffen Mau, einem Soziologen, der meine Diagnose stützt. Dort heisst es:
      „Die Sozialwissenschaften sprechen von affektiver Polarisierung. Während politische und moralische Einstellungen relativ stabil sind, entstehen Gefühle oft spontan, sind etwas irrlichternd und wenig sachorientiert, … Befeuert werde dieser Prozess, sagt Mau, von Politikern, Journalistinnen und Lautsprechern in den sozialen Medien, er nennt sie "Polarisierungsunternehmer". Die schrille Pointe gewinnt, im Bierzelt, auf Titelseiten – und auch im Parlament. Deutschland feiert Triggerparty.”
  1. Die Erkrankung ähnelt einer bipolaren Störung. Das gleiche mediale Juste Milieu, das die Regierung in den Abgrund kommentiert, stellt sich zugleich als Einheitsfront gegen die AfD, indem sie die Partei täglich mit ihrer „kritischen medialen Aufmerksamkeit” überschüttet (und, das bietet sich an, die Regierung „nochmal”, „auch hier”, für ihr respektives Versagen geisselt). Und der Partei auf diesem Weg das ansonsten mühevolle Tür-zu-Tür-Marketing erspart – ganz so als hätte es den Wahlkampf eines Donald Trump nie gegeben. Und so liefert die parallele Regierungskritik die Stichworte für die AfD und wirkt sogar als eine Art Booster: „Selbst jene, die GEGEN uns sind, müssen zugeben, dass wir Recht haben.”
  2. Die Diagnose selbst ist Krankheits-verschärfend, denn das (breite, der Partei „zulaufende”) Publikum hat mit der AfD keine anderen Berührungspunkte als deren mediale Präsenz!
     
  3. Jenseits der medialen Bigotterie gibt es einen „honorigen” Widerstand gegen die AfD. Es sind „aufrechte” Antifaschisten und wohlmeinende Demokraten, die aus tiefster Überzeugung gegen die Partei auftreten. Deren Problem liegt anders: sie verwechseln „die Partei” mit „der Politik”. Diese Kämpfer bekämpfen das Problem persönlich: am Gegner und je nach Eskalationsstadium: noch als Person oder schon als Feind.
  4. Der politische Gegner ist aber nicht das politische Problem, sondern nur dessen Repräsentanz! Die Partei verfügt in ihren Kadern nicht über das intellektuelle Profil, sich bis zur Höhe eines „Problem” aufzuschwingen.
     
  5. „Das Problem” herrscht und wirkt in den Köpfen des Publikums. Für dieses Publikum besteht der Inhalt nur aus der Parole; es ist keine politische Analyse: „Einwanderung in die Sozialsysteme”. Weder die legale noch die demografische und schon gar nicht die EU-politische Rahmenhandlung werden reflektiert. Auf dieser Ebene geht es um das Kampfgeschehen selbst, nicht um den Inhalt; oder sagen wir: wenn, dann nur im Affekt.
     
  6. Der Verdacht ist voreilig, dass die tatsächliche und begründete Kritik an der Regierung in dieser Herleitung unter den Tisch fiele. So ist es nicht. In diesem Aspekt liegt das Problem wieder anders: „Die Regierung” besteht aus drei Parteien und zahllosen Profil-Inhabern, die allesamt um ihr politisches Überleben kämpfen. Die dabei eingesetzten Mittel und Methoden bestehen aus Vernunft, Kalkül und Ignoranz, aus Tiefschlägen, Intrigen und Indiskretionen, aus Seilschaften und Netzwerken. Die Gemengelage ist toxisch, keine Frage, und die jeweiligen supporting groups finden Material für jede noch so abseitige Behauptung. AUCH, weil ein politischer Dreier seine Fehler sozusagen im default produziert, produzieren muss: mindestens aus der Sicht einer Partei.
     
  7. Divide et impera. Überraschend, und in gewisser Hinsicht auch neu an dieser Konstellation ist, dass die Parteien geteilt werden und das Volk herrscht (siehe unten: Bernd Ulrich). Hier liegt das letzte, eigentliche Problem:
  8. Jahre und Jahrzehnte lang hat „die Politik” ihre wahren Absichten verborgen und verleugnet – um sie dann stikum und im Hinterzimmer durchzuziehen. Jetzt lassen die Umstände das nicht mehr zu, die Krisen liegen offen zu Tage: die Politik muss sagen, was Sache ist, was zu tun ist.
    Das will das Volk aber nicht hören.
  9. Nein, anders: Das Volk hat verstanden, glaubt aber nicht an die Lösungskompetenz des Personals.
    Das Volk wäre sogar bereit zu leiden, Blut, Schweiss und Tränen. Es muss nur irgendjemand die Zielsetzung überzeugend vortragen.
    Oder aber, weil für den Job find sich ja niemand, der es auch hinkriegen könnte, oder aber das Volk ignoriert das Problem und will feiern, aans-zwoa-gsuffa!
    Alles dazwischen, wie es vom herrschenden Interessendschungel vorverdaut wird, ist von Übel.
     
  10. Dem Volk fehlt also das Zielbild, um dessentwegen es sich von den rechten Parolen und der Propaganda mit +/– Überzeugung abwenden könnte. Die Diagnose kann man zusammenfassen:

Das Volk ist das Problem!

Es bezweifelt mit sicherem Gespür die Zukunftsfähgigkeit des bestehenden Systems. Der Zweifel wird gespeist von einem Kräfteparallelogramm aus Parteien, Lobbies, Medien und sozialen Influencern, das über einem multiplen Krisengeschehen flottiert – die Stichwort sind bereits ausgeleiert: Ökonomie, Ökologie, Digitalisierung und Migration. Welchselbes dort, wo die Krisen „noch nicht“ (wie im Ahrtal oder an der bayerischen Grenze) eingetreten sind, bereits genügend nachdrücklich mit existentiellen Auswirkungen droht.

Das Volk versteht die Bedrohung durch die Krisen – zu Recht – als Angriff auf den eigenen Lebensentwurf. Es erkennt nicht, wie der Angriff abgewendet werden könnte; will, wo es ans eigene Leder geht, es nicht verstehen, das mitunter auch. So spielt das zusammen – und liefert die Prozentpunkte für die AfD: Wird es existentiell und das Zutrauen in sich selbst UND in die Garantiemächte schwindet (in diesem Fall die Regierung), haben obskure Heilslehren Konjunktur. Wo es existentiell wird, erscheint jede dialektische Botschaft als Folter. Dagegen, eine Art Abwehrzauber gegen die Verunsicherung, wird die simpelste Lehre befördert, die verständlichste, vermeintlich überzeugende – und fast immer falsche – Lehre von der Rückkehr ins Gestern, zum Status Quo ante. Früher war alles … blabla, aber wenigstens nicht so dramatisch wie heute. Das Volk versteht nicht – und über weite Strecken ist da mehr Vorsatz als intellektuelle Insuffizienz im Spiel –, dass die Krisendynamik kein Rückwärts gestattet: nicht die Krise ist der Elefant im Raum, sondern ihre Unumkehrbarkeit.

Weimar ante portas

In der aktuellen Zeit (Nr. 39, 14.09.2023) verdichtet Bernd Ulrich die politische Lage in einer Frage:

  • „Was ist eigentlich los mit diesem Deutschland, dass sich schon wieder eine Nische auftut für eine neue aussichtsreiche Anti-Mainstream-Partei, obwohl es die AfD doch schon gibt oder auch die Freien Wähler sowie die ihrerseits nicht ganz unpopulistische Linke? Mit anderen Worten: Sahra Wagenknecht drängt es keineswegs zu einer neuen Partei. Eine neue Partei drängt es zu ihr. Draußenmenschen suchen eine Draußenfrau. Was bei ihr ankommt, muss woanders weggelaufen sein. Wird das politische Zentrum der Republik zentrifugal?“

Einer Wagenknecht-Partei, heisst es in dem Text, wird ein Potential von 20% zugebilligt. Ulrichs Frage liesse sich, als Antwort umgedeutet, auch so formulieren: Keine der existierenden Antworten überzeugt das Volk. Man fühlt sich an Herrn Wendriner erinnert.

Und so droht, eine zunehmend realistische Befürchtung, eine historische Wiederholung.
Björn Höcke hat zuletzt „33+“ als Wahlziel ausgegeben; der Hintersinn ist hinterfotzig; die Rezeptur ist gleichwohl eindeutig. Die AfD verfolgt die These, dass mit einer Reihe von rechts-national-populistischen „Programmparolen” (hier und da an’s 21. Jahrhunderts adaptiert) der unfriendly takeover der Republik gelingen könnte – und zwar wie damals auch: demokratisch legitimiert.
Ich glaube, ich fürchte das auch.

Ich glaube es vor allem, weil die AfD als Partei jung ist! Das politische Tempo hat zugelegt, der lange Marsch wurde auf die paar Schritte ins Parlament verkürzt, und für einen Fait accompli genügt eine Nachmittagssitzung bei nachlässigem Interesses. Noch ist AfD von der Realität unberührt, muss, kann nichts beweisen und wird so für ihre Radikalität belohnt.

Hinweis auf die Jugend einer Institution: Die Grünen waren auch einmal radikal; als missratene „Kinder“ der Republik wurden sie genau dafür von den „Eltern“ der Republik abgestraft: als Erziehungsprozess. Deswegen haben sie die Metamorphosen der zurückliegenden Jahre vor allem als eine Bewegung zur Mitte hin betrieben, um endlich an die Schalthebel der gesellschaftlichen Gestaltung zu gelangen: ein Reifeprozess, im Ergebnis eine Vasektomie. Die AfD muss sich damit nicht aufhalten, im Gegenteil. Dort, in ihrem Ghetto, ist Radikalität ein Ausweis dafür, es mit der verachteten Realität aufnehmen zu wollen.
Das gilt in beiden Richtungen: „Die Realität” bekämpft in der AfD nicht (mehr) die eigene Brut, sondern die doch so gründlich und glaubwürdig abgebüsste Historie. Es sind Outcasts, undankbare Ossis, und ein paar intellektuelle Opportuniker, Rittergutsbesitzer, die, von der deutschen Demut angeekelt, die Welle reiten, wie es grad Mode ist. Es ist also auch umgekehrt keine Familienaufstellung: für die AfD ist die Republik fremdes Territorium, Feindesland, Heimat – als Vorwand einer Eroberungsphantasie. Und dabei helfen können all jene, könnten jedenfalls, die immer schon am Katzentisch sitzen mussten, die Gebeutelten, Ignorierten, die Seligen der Politik: ihr Ressentiment gilt es zu kitzeln, zu bedienen, zu motivieren.

In Summe, das war schon immer so, ist das die halbe Republik.

Da liegt denn auch die (einzige) Chance im Umgang mit der AfD: die Mehrheit zurückgewinnen, jene, die von den herrschenden Strukturen, vom Juste Milieu (materiell und vor allem intellektuell) übersehen werden. Schwer, wenn nicht unmöglich, unwahrscheinlich allemal, denn alle, die strategisch und kommunikativ überhaupt dazu in der Lage sind, wurden bereits vom „System” eingenordet, vereinnahmt, korrumpiert. Das nährt meine Zweifel, ob es ohne eine Katharsis überhaupt möglich ist. Da ist ein Abgrund vor dem Katzentisch, und der ist nahezu unüberwindlich: längst eine Glaubensfrage (dem Rational entzogen). Inzwischen sind die Verhältnisse dabei, das Vorzeichen zu wechseln. Scheiss auf den Esstisch! Galt der Katzentisch vormals noch der Verbannung, Verstossung, jedenfalls als Strafe, hat sich inzwischen, den sozialen Medien „sei Dank”, ein ganz eigenes Kraftfeld entwickelt: Das zwar auch die AfD nicht beherrscht, allenfalls abschnittsweise, vorübergehend. Doch das Umfeld bietet Opportunitäten. Wer nur lang genug von der allabendlichen Weltbesprechung ausgeschlossen war, den bestimmen längst die Zweifel an jener Welt. Am Ende, siehe Donald Trump, behauptet der Katzentisch eine eigene, ganz andere Welt. Die Sonne dreht sich um die Erde, und die ist flach.

Es ist eine Chance, auch wenn sie derzeit in Sack und Asche geht. Sie besteht darin, die Welt neu zu erzählen. Die liberale Wachstumswelt der Moderne ist ein klapperndes Gerippe. Irgendwie hoppelt es noch, aber die Feuerschrift steht an der Wand. Auch das Gespräch am opulent-glänzenden Mahagonitisch ist eingefahren und im  Zweifel verfangen, Lebenslügen inklusive. Jedenfalls am Katzentisch kann es nicht überzeugen. Was also muss neu erzählt werden, im Ganzen und im Einzelnen? Es müssen die Ängste genommen, aber auch die Aussichten benannt werden. Beide betreffen sie das Kommende, über das Aussagen, wie wir wissen, nicht leicht zu treffen sind.

Ja, aber das genügt nicht!

Wohlmeinende Zeitgenossen, ich zähle mich in dieses Lager, sprechen von den Risiken, skizzieren das Drohpotential kommender Katastrophen, … , und schüren so die Ängste. Nicht besser steht es um die Aussichten. Doch das Rezept ist verfallen! Solange die bestehenden Risiken vertagt und kleingeredet wurden, war das (vermutlich) die richtige Strategie. Das hat sich geändert. Das Volk weiss Bescheid. Deswegen muss diese Rede aufhören. Ängste lassen sich nur im Indikativ überwinden: als Aufgabe, nicht als Drohung. Realismus gilt auch für die Aussichten. Die Erzählung muss sagen: was sein wird und wie das Leben dann aussieht, welchen Platz Ich-Du-Er-Sie-Es darin finden können. Indikativ statt Wolkenkuckucksheim, auch wenn es bitter wird. Das Volk glaubt nicht an die AfD, behauptet es höchstens, zieht es in Erwägung, denkt immer noch in Kategorien des Protestes, weil die herrschende Erzählung mit der Zukunft (nur) droht.

Ein schöner Schlusssatz, dem es leider an Konsequenz fehlt.

***

 

Es gibt Ansätze, überwiegend ideologisch, mehrheitlich unausgegoren.

Naomi Klein (und in wechselnden Perspektiven andere auch, darunter Jeremy Rifkin) hat einen Vorschlag gemacht:
The Green New Deal (GND). Auf eine Parole zusammengeschmolzen: der Umbau der Alten Welt ist ein gigantisches Wirtschaftsprogramm.

The Green New Deal

Ursula von der Leyen hat zumindest die Parole für Europa adaptiert, bislang mit mässigem Erfolg. Joe Biden hat den IRA ungefähr als Regierungsprogramm am GND angelehnt und damit den finanziellen Rückhalt gegeben. Ideologisch und unausgegoren daran ist, dass dieses US-Wirtschaftsprogramm, gigantisch, wie es daher kommt, gewaltige Ressourcen verschlingt, gewaltige Emissionen produziert und als Muster ohne Wert bleibt, wollte man es auf die Welt anwenden. Der GND hat eine A-Seite: es ist das bislang praktikabelste Projekt; die Willigen können sich darauf einlassen. Es hat aber auch eine B-Seite: Grünes Wachstum zu versprechen ist ein Widerspruch in sich, Augenwischerei, die den Nachteil hat, dass das Publikum dahinter kommt.

Michael Hardt und Antonio Negri haben in „Empire” und mehr noch in ihrer „Assembly” einen spätsozialistisch-basisdemokratischen Vorschlag ausgearbreitet, analytisch mitunter faszinierend bis brilliant, aber auch von vergilbten Mustern geprägt und praktisch wertlos.

Noah Yuval Harari, von Hybris gesättigt, gibt der Menschheit und dem Jahrhundert gleich 21 Lektionen an die Hand. Das ist zuweilen intelligent, manchmal eher schlau, gelegentlich etwas abseitig, eine konsistente Theorie oder „Erzählung” ist es nicht; allenfalls Futter für die Eggheads. Wenigstens ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben – die auch mit unserem Thema AfD zu tun hat:
„Es ist viel schwerer“, sagt NYH, „gegen Bedeutungslosigkeit zu kämpfen als gegen Ausbeutung.“

Wie Harari liefert auch Eva von Redecker allenfalls, immerhin, ein Mosaikstück. Sie diskutiert die Freiheit: Die Freiheit am Eigentum (das sie „Phantombesitz” nennt) ist die Ursache für den Verlust der Freiheit auf dem Zeitstrahl. Sie verlegt die Freiheit in die Zeit: Weg von der räumlichen Freiheit (Entgrenzung). Ich halte das für eine Ausflucht, räume selbstverständlich aber ein, dass die alte Freiheit der Befreiung ganz gehörig im Wege steht.

Maja Göpel ist mit einem Bestseller bekannt geworden, in dem sie ein „neues Denken” einfordert, – oder gar vorgibt? Sie beschreibt das Gegenteil des GND:
Wenn sich die Natur bei steigendem Wirtschaftswachstum nicht erhalten lässt, geschweige denn davon erholen kann, muss eben der materielle Wohlstand sinken (auch Nico Paech, Tim Jackson und viele andere denken in diese Richtung). Als Bestseller muss man dem Buch einen gewissen SM-Touch konzidieren – oder der Kauf ist eine Ersatzvornahme, denn sachlich, inhaltlich kommt DeGrowth weniger gut an: Verzicht ist nicht so knackig wie ein GND. [Maja Göpel, Unsere Welt neu denken, Berlin 2020, S. 120, siehe auch] Es gibt handfeste Vorschläge in diesem Text, kritisch jedoch blieb: keiner ihrer Vorschläge wird umgesetzt werden, solange nicht das System selbst auf die Agenda kommt.

Ulrike Herrmann dreht das Schrumpfen um ein paar Drehungen weiter. Sie nimmt sich die britische Kriegswirtschaft zum Vorbild. Der Erfolgsfaktor damals: die Regierung egalisierte die Einschränkungen über alle Klassen und Stände; niemand wurde bevorzugt: Lebensmittel gab es nur auf Bezugsschein, egal ob Lord, Banker, Bäcker, Betriebsdirektor oder Briefträger. Darin sieht Herrmann eben jenen Gerechtigkeitsfaktor, den es braucht, um eine einschränkende Erzählung überzeugend zu gestalten. Hinzu kam: der Staat diktierte die Produktion, verstaatlichte sie aber nicht. Das Modell, sagt Herrmann, war erfolgreich.

Alles Neuland

Usw., die Beispiele sind zufällig und bleiben unvollständig. Auch werden die Halbsätze den genannten Büchern (natürlich) nicht gerecht, die Zusammenfassung trifft es aber schon: DEN grossen Wurf gibt es nicht.

Und selbst wir annehmen müssen, dass „das Volk” einen solchen Ansatz weder erkennen noch kennen würde, wenn es ihn denn gäbe: es, das Volk weiss genau, also wir wissen, dass genau der fehlt. Und ich glaube, dass es ihn nicht geben kann: die Aufgabe ist zu komplex. Ich habe viel über das Manhattan-Projekt gelesen; das kommt der Dimension der Aufgabe nahe. Nach meiner Überzeugung wird die Gestaltung der Zukunft nur als grosses Menschheitsprojekt möglich, vermutlich unter Einsatz auch von KI.

Naiv und ein bischen blauäugig?
Schon.

Doch erstens ist die BRICSplus-Initiative von genau diesem Kaliber – und der Westen wird sich damit schwer tun. Und zweitens wird die AfD (oder …national-…populistische Ansätze) weiter prosperieren, solange „das Volk” „der Politik” nicht glaubt, dass sie es hinkriegt.