Die Europawahlen kamen zu dem erwarteten Ergebnis: jetzt sind alle ganz „erschrocken”.
Dekadenz bereitet den Faschismus vor
Sturmtief über Europa
Talkin'bout my Generation
Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen – Fräulein Sally Bowles
Ja – was denn nun? Es braucht ja eine Erklärung für die Disparitäten dieser Wahl. Warum profitiert die SPD nicht von ihrem Zugpferd Pistorius. Warum, umgekehrt, profitiert die CDU von ihrem Mittel…feldspieler Merz? Warum wird die AfD trotz ihres unsäglichen Führungspersonals dennoch gewählt wird? Und warum nun ausgerechnet die Grünen für die Regierungsarbeit abgestraft werden, während die tatsächlichen Treiber des Desasters, Scholz und Lindner, nahezu ungeschoren bleiben? In den Kopfnoten vom Mai spiegeln sich die Wahlen nicht.
Das Politbarometer erhebt „Sympathie und Leistung”. Fragen über Fragen, darunter auch diese: Was hat sich zwischen Mai und Juni geändert? Also: real.
Die Europawahl ist erschütternd, aber halten wir uns nicht mit der Erschütterung auf. Es gibt Grundsätzliches zu besprechen.
Talkin'baut my generation
Als es in der öffentlichen Debatte zuletzt darum ging, dass eine Generation „versagt” hat, stand 1989 auf dem Kalender. Damals musste das linke Lager seinen sozialistischen Illusionen abschwören. Der Prozess war schmerzlich, und die Mehrheit der Kursbuch-Intellektuellen verstummte in der Folge. Natürlich – dafür steht die Weltgeschichte – haben schon zahlreiche Generationen „versagt”, nur eben nicht in meiner Amtszeit als Zeitgenosse; in dieser geschieht es nun zum zweiten Mal, wenn auch mit gewissen Überschneidungen. 1989 hatte der Weltgeist die 68er von der Platte gefegt, jetzt sind die 78er dran, die Boomer:
Die Ampel ist in ihrer programmatischen und stilistischen Zerrissenheit die ultimative Repräsentanz der Boomer – sie hat versagt und mit ihr eine Generation. Sie haben es nicht hingekriegt: Uneins in der Richtung, schwach in der Durchführung und skrupulös in der politischen Rolle – sie können es einfach nicht. So meine, so die öffentliche Meinung, eine seltene Koinzidenz. Und, wenn ich die öffentliche Meinung insoweit ergänzen darf: sie übernehmen auch keine Verantwortung; nicht für das Heute und nicht für morgen. Was „mit uns nicht” zu machen ist, ist ihnen wichtiger, als die brennenden Probleme anzugehen.
Trotz Anerkennung einzelner Aspekte – das spiegelt sich in den demoskopischen Bewertungen (zumindest im Mai) – gilt das Diktum in der Summe wie im einzelnen. Während es Angela Merkel wenigstens gelungen ist, ihre Partei geschlossen im politischen Vakuum zu versammeln – sowie als Mediatorin historischer Ereignisse mit eben dieser anspruchslosen, ja demütigen Leere Kompromisse und Ergebnisse zu erreichen –, steht Olaf Scholz mit leeren Händen im Regen. Unter seinen Rettungsschirmen ist für ihn kein Platz. National kann er nur durchsetzen, was sowieso keinen Widerspruch duldet. International bleibt er ohne Profil. Was er leistet, ist nicht erkennbar: weder ist er im Stande, seine Koalition beieinander zu halten, noch, seinem Volk die Regierung zu erklären, und überhaupt: Arbeit?
Das ist ungerecht, ich weiss: es ist ja auch , wenn irgendwelche Amtsverweser Gesetze verabschieden (oder verhindern), die mir Übelkeit verursachen.
Zu Beginn seiner Amtszeit ist Robert Habeck über sich hinaus gewachsen, als er tat, was nötig war. Als er tat, wofür er gewählt wurde, sank sein Stern, zumindest hatte er daran seinen Anteil; richtiger aber ist: sein Stern wurde vom Himmel geschossen. Wurde schon einmal ein anderer Politiker derart konzertiert heruntergeschrieben (und -geredet)? Das Kartell reichte von der Springerpresse, über DLF, ARD und ZDF, die FAZ bis hin zu den Springergewächsen in der ZEIT-Politikredaktion – von den asozialen nicht gesprochen. Haben sie bei Andy Scheuer nur annähernd ähnlich massiv und konzertiert geschossen? Rudolf Scharping, Christian Wulff …, ja, stimmt, der Unterschied ist aber, dass die beiden persönlich vernichtet wurden (was es nicht besser macht), nicht politisch. Das Headline-Kartell heute ist politischer Player ohne Mandat („Please Stärke die FDP. Wenn die sehr stark sind können sie in Ampel so autoritär auftreten dass die platzt.” – MOC Döpfner zu Julian Reichelt).
Nun würde ich gerne Robert Habeck weiter die Stange halten, und ich glaube sogar, er wäre ein guter Kanzler; das geht nur leider nicht. Er hat eine Inselbegabung darin, in einer Ausnahmesituation festgefahrene Widerstände zu überwinden. Das gelang ihm mit der Stromtrasse in Schleswig-Holstein und mit der Energieversorgung bei Kriegsausbruch. Was ihm hingegen nicht gelingt ist, seiner Arbeit eine zukunftsweisende Richtung zu geben; im Gegenteil. Mit dem Heizungsgesetz und der Dieselsteuer hat er der Gegenwart geschadet (Dank tätiger Signalverstärkung durch die bundesdeutsche Journaille). Während er gleichzeitig das 2%-Argument ignoriert; ein schwerer taktischer Fehler. Hätte er es ernst genommen und umgedreht: Natürlich müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um den Klimawandel zu begrenzen. Punkt. Richtig ist aber auch, dass dieser Kampf nicht in Deutschland und auch nicht in Europa verloren geht! – so hätte er das (nur faktisch richtige) deutsche Ressentiment zu seinen Gunsten gedreht! Habeck versteht es nicht, die Ökologie kommunikativ zu verankern, und er weiss/t auch keinen Weg in ein ökologisches Wirtschaftssystem.
Auch Annalena Baerbock tat nichts für das grüne Thema: Während sie einerseits einräumt, „Wir brauchen China zur Eindämmung der Klimakrise.“, erklärt sie andererseits Xi zum Diktator. Bravo, das nenne ich mal geschickte Diplomatie. Statt China für seine Kohlekraft zu beschimpfen, also argumentativ, stellt sie den Präsidenten an die Wand, ad hominem. Klug. Da kann sie dann ihre China-Strategie gleich in den Schredder geben.
Pro Bonum, contra malum: die wertegeleitete Aussenpolitik! Die soll „das Richtige” wollen, und ist doch übergriffig, paternalistisch, kolonialistisch gar. Vor allem haben Werte nur wenig mit den Interessen Deutschlands zu tun (oder wenigstens der Ökologie)! Baerbock reist als Frauen- und Menschenrechtsbeauftragte durch die Welt, gegen Putin gibt sie die Falkin, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen. In Israel fordert sie umgekehrt einen Waffenstillstand: der Krieg gegen die Hamas sei militärisch nicht zu lösen. In der Dialektik von Solidarität und Zwei-Staaten-Lösung bleiben ihre Reisen in die Region aktionistisch und ohne Einfluss. Für das Klima muss dann ein Radweg in Peru herhalten. Und Europa? Schon mal gehört? Im Weimarer Dreieck geht es um die Ukraine. Macrons Sorbonne-Rede/n werden freundlich lächelnd ignoriert – aber auch eine eigene Europastrategie steht offenbar nicht auf der Agenda. Wenn das grüne Politik ist, darf man sich nicht wundern, wenn der Partei die Stimmung verloren geht.
Weder Habeck noch Baerbock gelingt es, etwas in der Koalition durchzusetzen oder auch nur kommunikativ glaubhaft zu machen, dass sie irgendwas für die Ökologie bewegen. Das liegt ursächlich natürlich (auch) an Olaf Scholz, denn vor allem liegt es an Christian Lindner – und den unter/stützt Scholz aus unerfindlichen Gründen. Bei Scholz wurde Führung bestellt: Lindner liefert sie – er trägt seinen Krug zum Brunnen. Dass Lindner in der regierenden Koaliton zum Oppositionsführer herangewachsen ist, verdient eine besondere Würdigung: Ein beeindruckender Betonkopf, ein Ideologe mit Zentralkommittee-Qualifikation. Wer solche Partner hat, braucht keine Opposition.
Die Ampel: ein Trio infernale, ja! Aber Schuld sind die Wähler! Wenn Du keine Partei ein ausreichendes Mandat erhält, kommt eben ein Drei-Körper-Problem dabei heraus. Man vergisst das so leicht. Wir machen die AfD für den Rechtsdruck verantwortlich, dabei ist es umgekehrt. Wir machen die Ampel für das Versagen der Politik verantwortlich, dabei ist es das Versagen der Wähler. Och, nöö, hier passt mir dies nicht, da passt mir das nicht, jetzt wähl ich Sonneborn, Tierschutz, Graue Panther, Freie Wähler, usw.. oder bleib zuhause.
Und dann sitzt ein Youtuber aus Zypern im Europa-Parlament, gleich neben Sibylle Berg; ich fand ja GRM ganz gut, aber was hat Frau Berg im Parlament verloren? Läuft das unter Kulturförderung, Version 2.0? Was ein Brainfuck. Unverantwortlich. Unseriös. Kindisch. Wir leisten uns das. (Jetzt könnte man sagen: Jeminee, ein, zwei Clowns unter 800? … man gönnt sich ja sonst nix? Nein – so ist es nicht:)
Es ist die Dekadenz, die dem Faschismus den Weg bereitet.
Nach dieser immer noch zu kurz geratenen Trauerarbeit: The Show Must Go On!
Ein wortkarges Interview auf mittlerer Flughöhe beendet Joschka Fischer mit den Worten: „Die Welt ist leider hart und gnadenlos – aber auch schön und erhaltenswert in Freiheit.” Joschka ist jetzt Herr Fischer. Er ist 77. Viel trennt ihn nicht mehr vom amerikanischen „Realismus” a la John Mearsheimer. Immerhin schätzt Fischer Macron „sehr”, auch wenn er das gespreizte Getue („egomanische Bauchtänze”) zwischen ihm und Scholz nicht versteht. Er plädiert nachdrücklich für eine europäische Verteidigung: „Wir müssen militärisch so stark werden, dass wir uns selber verteidigen können.” Jo, ich vertrete diese Position seit Jahren (Stichwort EUTO), mit einem Flohzirkus von Nationalstaaten wird das aber nichts. Fischer sagt auch: „Europa ist zudem der Kontinent der Kleinräumigkeit. Aus meiner Sicht hat der europäische Nationalstaat keine Zukunft. Er ist zu klein.” Nun sind es leider zu aller erst die Deutschen, die dem im Wege stehen. An gleicher Stelle wird ein Interview mit Jürgen Habermas aus dem Juni 2023 wiedergegeben, dort sagt der: „Das [nämlich der Gaullismus] ist wohl auch der falsche Name für die Europapolitik von Macron, dessen ehrgeizige Initiativen für ein in der Welt politisch handlungsfähiges Europa alle am Widerstand der deutschen Bundesregierung, vor allem an Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren Finanzministern Schäuble und Scholz, gescheitert sind.” Sag ich doch! Und als Kanzler macht es Scholz kein Jota besser.
Jetzt könnte man sagen: Europa scheitert nicht allein an Deutschland und Frankreich; da sind die Vizegrad-Staaten, Ungarn, Italien … das stimmt schon. Richtig ist aber auch: Europa scheitert daran, dass es in den Europa-Wahlen kaum bis gar nicht um Europa geht; mehrheitlich kriegt die nationale Politik ihr Fett: in Deutschland war für 55% die Bundespolitik ausschlaggebend. Für 87% der AfD-Wähler war die Wahl ein „Denkzettel für die Regierung”, bei den Wählern des BSW galt das für 71% (ich zitiere Maurice Höfgen). Ich will nicht über politische Reife schwadronieren, nur ein ernsthaftes Interesse an Europa ist daraus nicht abzuleiten.
Jetzt aber drehe ich den Spiess um: auch wenn die Wähler für ihre Parteien verantwortlich sind, so sind die Parteien für die Wahlen verantwortlich. Welche Partei, welche Politiker, verfolgen welche europäischen Ziele (oder haben sie wenigstens vorgetragen)? Die SPD plakatierte sinnfrei: „Besonnen handeln, SPD wählen”, auch den Grünen ist Europa nur das Mittel des nationalen Zweckes: „Ein starkes Europa bedeutet ein sicheres Deutschland.” Die FDP weiss nicht, was ein Kategorienfehler ist: „Wirtschaft liebt Freiheit, so wie Du”. Gut, von der AfD ist nichts anderes zu erwarten: „Unser Land zuerst”. Das hilft in Brüssel, denn Le Pen, Meloni, Wilders und Orban denken genauso! Selbst Volt weiss nicht zu sagen, worum es ihnen geht: „Sei kein Arschloch.” Oder „Für mehr Eis”. Sie wurden wohl von Sonnemann beraten, der ja einen neuen Job braucht. … Spass muss sein.
Derweil hielt Emmanuel Macron seine zweite Rede an der Sorbonne! Die deutschen Wahlkampfstäbe müssten vor Scham im Boden versinken, und kein Norbert Röttgen, kein Kevin Kühnert, keine Sarah Wagenknecht, na, die sowieso nicht, überhaupt niemand, die oder der sich für Europa ein- oder mit Europa auseinandersetzt. Diese kollektive Ignoranz, dieses kollektive Versagen ist vor allem deshalb so befremdlich – weil es nicht an Hinweisen fehlt.
Harald Welzers Schlussfolgerung (wieder: FuturZwei) zielt auf einen „erfolgreichen Rückzug” des europäischen Westens; man muss das als ein persönliches Übersprungsargument verbuchen. Welzer verweist auf Gorbatschows historische Leistung, die Sowjetunion aufgelöst zu haben, ignoriert aber, dass Putin das Ergebnis dieses imperialen Rückbaus ist. Und dann: wen motiviert ein Rückzug? Ein geruhsamer Lebensabend im Vorgarten? Bitte, keine Einwände, aber eine Politik, die nichts erreichen will, nimmt auch niemanden mit.
Ohne einen föderalen europäischen Staat hat diese unsere Weltregion keine Zukunft, zumindest keine, die sie selbst gestalten kann: ihr wird beschieden werden. Das nicht zu begreifen, dafür nicht zu kämpfen, das ist das Versagen der Boomer, zuerst, aber auch der Gen xyz, die zwar alle Welt bereisen, aber aufgehört haben, über den Tellerrand zu blicken.