Des Bürgers neue Kleider

Simon Strauss schreibt über Identität

Fast. Redlich. Knapp.

02-03-2019
 

Man irrt ja gern: Das Ende der Geschichte, eine Prognosen wie von den Zeugen Jehovas, war dann doch nicht über uns gekommen. Nun hat Francis Fukuyama der Westlichen Gesellschaft „Identität“ diagnostiziert.

Fürwahr: ein merkwürdiger Ort

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"Ich, Ich, Ich. Ich großgeschrieben, Ich durchgestreckt. Überall Ich." 

Intellektuell ist das weit weniger „gefährlich“. Für den Augenblick besteht auch gar kein Zweifel, und auf längere Sicht, wenn es nämlich sich um eine Krankheit handelt, so mag sie, bei der richtigen Therapie, auch vorübergehen. Tödlich, so der Stand der Forschung, ist sie nicht. Nicht unmittelbar, nicht gleich, noch nicht. 

Oh diese Lücke, 

Wenn auch im Ton nach meinem Geschmack eine Idee zu akademisch und, wenn ich so sagen darf, vor allem im Abgang allzu staatstragend, hat Simon Strauss die Diagnose und den medizinischen Stand der Identitäts-Debatte, in der notwendigen Breite und doch von allem Überflüssigen befreit, zusammengetragen und, bis kurz vor die Ziellinie, klug kommentiert. Sein Essay findet sich hier. Ich sehe in seiner Darstellung eine Leerstelle – am ursächlichen Anfang der Entwicklung und an ihrem vektoriellen Ende, und ich möchte versuchen, einen Hinweise zu geben, wie die zu schliessen wären.

Die Wurzeln der Strauss'schen Argumentation reichen bis tief in die Revolte, wenn nicht gar bis in die Revolution, doch sein Text erscheint bei der Bundeszentrale für Politische Bildung, also quasi auf Feindesgebiet. Am Schluss macht er Konzessionen, die entweder opportunistisch oder gedanklicher Unschärfe geschuldet sind: Sein Bürger-Begriff ist leer. Und obwohl er in seinem Argumentationsbogen nahezu alles benennt, was der Debatte Not tut, schreckt er doch vor der letzten Konsequenz seiner Analyse zurück: Identität – gemeint ist hier die Identität als politische Instanz – ist das Ergebnis kollektiven Scheiterns, nämlich das zurückbleibende Einzelne, dem es nicht gelungen ist, nur als Teil des Ganzen erfolgreich zu sein. Um diesen Schaden exakt zu benennen, müssen wir uns die Unterscheidung von Revolution und Emanzipation vergegenwärtigen.

Auch Strauss ist genau diesem Sachverhalt auf der Spur. Er erkennt in der Identität zwar eine begriffliche Modeerscheinung, aber mehr als nur eine Trendumkehr. Da ist ein (Achtung) langwellige Entwicklung bei der Arbeit. Strauss verortet die Bemühungen um „Emanzipation“ an den Anfängen der heutigen Entwicklung, wenn auch faktisch, aus der Perspektive des Tages:

„Solange das ideale Ziel der Emanzipation nicht erreicht ist, macht aber das, was eigentlich als das Mittel gedacht war, das Ziel des politischen Handelns aus: das Bekenntnis zur diskriminierten Gruppe.“

Ich halte das für fast vollkommen richtig, mit der einen, aber wie ich meine: gewichtigen, Einschränkung, dass ein Bekenntnis stets und notwendig am ANFANG der Emanzipation steht. Das BeKenntnis markiert die ErKenntnis, dass da ein Mangel ist, dass da eine Ursache, ein emanzipatorischer Vektor ist. 

Emanzipation

Am 1. Dezember 1955 hatte Rosa Parks ihren Sitzplatz nicht für einen Weissen geräumt. Sie war allein, eine Ein-Frau-Gruppe, doch bis sie bei ihrer Festnahme den Bus Nr. 2857 verliess, war sie zur Initiatorin einer Bürgerrechtsbewegung geworden. Auch wenn eine Menge (Gruppe) klein ist, oder gar kleinst-möglich, enthält sie doch bereits alle Attribute, die es für eine Menge (Gruppe) braucht: Existenz und Differenz. „Wir sind eine klei-ne, ra-di-ka-le Minderheit!“ so die Parole des SDS. Und die Frauen, eine Frau anfangs, begannen „die Revolte in der Revolte“.

Weil in den Grossgesellschaften kaum irgendein Phänomen singulär ist [qtip:(1)|ich halte den Begriff der Singularität, wie ihn Andreas Reckwitz einsetzt, für verfehlt – und auch, ein hübsches Paradox, für inflationären Missbrauch. Dass es seit den ~1970er Jahren einen gesellschaftlichen Hang zur "Originalität" gibt, zunächst selbstironisch als "Verrücktheit" bezeichnet, ist dagegen unstrittig, doch war diese Verrücktheit so singulär wie das Tragen von Parkas und BlueJeans], allenfalls gibt es eine mehr oder weniger grosse regionale Streuung, markiert die ErKenntnis (als Differenz) statistisch immer das Vorhanden-Sein einer Gruppe. 

Diesen argumentativen Aufwand muss ich betreiben, um klar zu machen, dass die Frage der Identität, das Selbst-Bewusstsein, die Differenz, am Beginn jeder Emanzipation stehen muss. Der entscheidende, der Tipping Point aber ist, dass damit die Emanzipation die Formulierung eines Gruppeninteresses ist; so sieht es  auch Strauss. Denn an diesem Punkt wird aus einem politischen Impuls eine Art Lobbyarbeit; wohlverstanden: sehr oft einer notwendigen, richtigen Lobbyarbeit, aber eben nicht mehr nur einer auf die Allgemeinheit und das Gemeinwohl zielenden Revolution. Rosa Parks wollte nur mit dem Bus fahren, ohne sich von Weissen kujonieren zu lassen.

Emanzipation aber ist die Partikularisierung der Revolte/Revolution. Während die Revolution die falschen (kollektiven) Verhältnisse adressiert und umstürzen will, fordert die Emanzipation die Veränderung meiner (identitären) Verhältnisse. Ich lese Strauss so, dass ihm dieser kleine, entscheidende Zwischenschritt, der Bezug auf das Scheitern des radikalen Umsturzes, fehlt. Ein Indiz dafür, scheint mir, liegt in der Tatsache, dass die Segregation der Schwarzen in Amerika die Identitätsdebatte in Deutschland nicht erklären kann. Dass sich die Identität als politische Instanz auch in Deutschland in die Pole-Position geschoben hat, hat, glaube ich, biographische Ursachen: Polemisch formuliert: Wer einmal mit der Revolution zu kämpfen gelernt hat, wird nicht damit aufhören, nur weil die Revolution scheitert; sie, die Revolution, wird dann eben portioniert.

Wenn das stimmt, dann liegt auch der historische Fehler der Identitätspolitik an ihrem Beginn, und findet nämlich in genau dem Moment statt, wo der revolutionäre Impetus sich nach den Zielen befragen lässt: „Was wollt ihr eigentlich?“ – und darauf antwortet! Das eigentlich ist der historische Moment, in dem das Interesse vor das Gemeinwohl tritt. Jede zusammensuchende, einzelne Antwort auf diese Frage verrät die Revolution und setzt an die Stelle des holistischen Umbruchs, des Neubeginns, des Relaunch lediglich Teilergebnisse. 

Des Bürgers Kern

So hat es begonnen. Deswegen scheint es mir auch ein in die Zukunft zielender Rekurs auf einen Citoyen (Bürger) nur die halbe Konsequenz. Zwar sehe ich in dem Versuch durchaus bereits den Zug zum Allgemeinen, zum Gemeinwohl. Paradoxerweise sind aber auch die Bürger, wie Autofahrer, Steuerzahler und Versicherte, nur eine Teilmenge – und so wird sich auch an sie die Frage richten: „Was wollt ihr eigentlich?“ An der Frage kristallisiert der Widerspruch: „Wir wollen das Gemeinwohl.“ ist ja keine tragfähige Antwort – während eine teleologische Antwort vergleichbar dem Gehalt des „Wir wollen Sozialismus!“ oder „We want the world and we want it now!“ aus der blossen Bürgerlichkeit nicht ableitbar ist. Deswegen zahlt die Strauss’sche Antwort auch mit zu kleiner Münze:

„Wie kann der kollektiv aufgekratzte und von allen technischen Revolutionen enorm in Mitleidenschaft gezogene menschliche Geist beruhigt werden? Welche Art der Bildung kann für uns eine gute Zukunft bedeuten? Wie reagieren wir als säkularisierter Westen auf die durch Migration und Kulturtransfer initiierte Renaissance der Religion? Eine bürgerliche Bekenntniskultur erlaubt es, sich diesen Fragen mit Enthusiasmus und Zuversicht zu stellen.“

Oder anders gesagt: Der Rekurs auf den Bürger hofft auf die vernünftige Reform mit Bahnsteigkarte, Ikea und Rentenanspruch. Wenn die Identitätspolitik einen Irrweg in das Einzelinteresse markiert (und sei es ein vertretbares), dann führt der Rückweg zum Gemeinwohl, nicht durch eine kultur-kritische Feuilleton-Debatte, sondern nur über eine Auflösung des herrschenden ClusterFuck: Klima, Digitalisierung, Finanzsystem, Migration, nur über das abstrakte Ganze. Da ist dann auch kein Narrativ gefragt, sondern ein Konzept.

Das ist eine Machtfrage!
Das ist die Systemfrage.