Sapere aude! Wittgensteins Diktum habe ich immer im Kant’schen Sinne interpretiert, nämlich dass an den Grenzen meiner Welt Mangel erkennbar wird; als verwiese mich Wittgenstein auf Lücken in meiner Begriffswelt.
Die Grenzen meiner Sprache …
Über Klarheit
… sind die Grenzen meiner Welt
So weit, so gut (CC-BY-NC-SA 4.0 – Bild 4117; rlp.museum-digital.de)
„Strebe, suche, benenne“, sagte der Satz zu mir, kenne und erkenne den richtigen Begriff für „alles“: und so – meine adaptierte Fortschreibung – „habe den Mut, Deine Grenzen zu überwinden“.
Erst spät kam mir die Idee, dass man den Satz auch umkehren kann: als Grenzbeschreibung! Meine Sprache zieht eine Grenze, die mich von dem trennt (oder schützt?), was sie nicht erreicht.
Diese Umkehrung hat eine gewisse Sprengkraft: sie diagnostiziert eine ausschliessende, vielleicht sogar abwehrende Sprache. Kinder und Geheimdienste machen das absichtsvoll, doch hier, bei Wittgenstein, und auch in meinem Twist, wird das Ergebnis eher mit Erstaunen, vielleicht auch Frustration konstatiert. Besondere Bedeutung bekommt die Sprachgrenze, wenn der Sprachinhalt mit dem kommunikativen Ergebnis nicht zur Deckung kommt. Wenn beispielsweise Judith Butler „Anmerkungen zu einer Theorie der performativen Versammlung“ macht, und darin zu einer „Neubetrachtung der Versammlungsfreiheit in Bezug auf die Volkssouveränität“ vordringt (S. 222), ist möglicherweise nicht allen Lesenden gleichermassen klar, von welchem Volk die Rede ist.
„(1) Die Volkssouveränität ist eine Form der reflexiven Selbstgestaltung, die von dem repräsentativen Regime zu trennen ist, welches durch sie legitimiert wird; (2) sie entsteht im Verlauf eben dieser Trennung; (3) sie kann kein Regime legitimieren, ohne von diesem getrennt zu sein, dass heisst …; (4) ihr Akt der Selbstgestaltung ist in Wahrheit eine ganze Serie räumlich verteilter Akte, … (5) ausserdem kann die Inszenierung von „wir, das Volk“ sprachlich erfolgen oder nicht; … “
Im Original ist das hier zerstückelte Zitat etwa eine Buchseite lang; … und ich will nicht behaupten, dass Frau Butler (schon gar nicht komplett) unverständlich sei. Ich frage mich nur, mit wem sie hier spricht? Denn was sich zeigen lässt ist, dass nicht nur Volk und Regime getrennt sind, sondern auch das Volk und Judith Butler. Dort jedenfalls, wo „Wir sind das Volk“ sich manifestiert, lassen sich mit der denkbarsten Wahrscheinlichkeit nicht einmal Spuren einer „reflexiven Selbstgestaltung“ – und schon gar keine „Volkssouveränität“ nachweisen; dafür sorgt die Gruppendynamik mit ihren Energien der kollektiven Ent-Rationalisierung und der „dynamischen Verhaftung“. Das Thema hat Tendenz, ausdiskutiert werden zu wollen – doch geht es mir beispielhaft um die Sprache und ihre Grenzziehungen. In einer kantig-bösartig überspitzenden Wendung könnte ich sagen: hier spricht eine alte, weisse Frau über Phänomene alltäglichen Geschehens, sozusagen kontaktlos, berührungsfrei; sie redet auf einer Metaebene über das, nicht von und schon gar nicht mit dem Geschehenen. (Nur gut, dass mich niemand liest ...)
Frau Butler ist kein Einzelfall. Es reizt mich, mit ihr ihre (tatsächlich sprachlich einigermassen belastete) Generation für ihren hochnäsigen Sprechgestus an die Wand zu stellen (und natürlich auch mich gleich mit in die Reihe). Doch das griffe zu kurz. Weitaus mehr spricht für den Verdacht, dass sich in ihrer Sprache – wie in vielen anderen – eine déformation professionelle des akademischen Apparates zeigt; an empirischem Material aus allen Generationen gäbe es jedenfalls keinen Mangel.
Klar
Wittgenstein behauptet oder fordert im Vorwort des Tractatus, dass alles, was sich überhaupt sagen lässt, klar gesagt werden kann. Er selbst hält sich selten bis gelegentlich an das eigene Diktum, und gleich nach seinem Rigorosum in Cambridge soll er zu Bertrand Russell gesagt haben: „Mach Dir nichts draus, Ihr werdet es nie verstehen.“ Andererseits passt die geforderte „Klarheit“ auch allenfalls in ein ProSeminar: wenn die Anstrengung, sich klarer auszudrücken, nachgefragt wird. Aber im kommunikativen Tagesgeschäft? Die Antwort variiert natürlich mit der Interpretation des Begriffes „klar“.
Ich selbst habe einmal einen Text von Ulrich Sonnemann sozusagen ins Deutsche übertragen. Sonnemann „… setzt der Sache zuliebe allerorten Widerstände gegen das, was die gängige Phrase Kommunikation nennt.“ [Zitat Roger Behrens, der damit seinerseits Adorno zitiert]. Das ist eine wohlwollende Umschreibung der Tatsache, dass Sonnemann unverständlich ist. Er selbst, von mir um eine Bewertung meiner Übersetzung gefragt, sagte, das sei ja nicht komplett falsch, aber er verstehe meinen Ansatz gar nicht, es sei doch bereits bei ihm alles sehr klar.
Das war mindestens frech! Sonnemann zählt, wie Adorno, zu den massgeblichen Vertretern der Kritischen Theorie. „Zu einfach machte man es sich, würde man vermuten, dass Sonnemann heutzutage so unbekannt sei, weil seine Theorie so sperrig und seine Sätze endlos lang und in ihren Gedanken verstrickt seien. Richtig ist, dass es bei Sonnemann kaum einen Satz gibt, der nicht mindestens zweimal gelesen werden muss, damit man seinen Gehalt erfassen kann.“ [Behrens a.a.O.]
Kritisch
Das galt und gilt für die Kritische Theorie, und wenn nicht in toto, dann über weite Strecken. Und vielleicht kann man es erklären. In ihr – das Sein bestimmt das Bewusstsein – kamen sehr unterschiedliche Motive und Umfeldbedingungen zusammen: das IfS (*1923) und seine (~marxistische) Denkwelt, für sich bereits ein Akt des Widerstands, repräsentierte einen Schutzraum – dem die Realität jedoch inhaltlich widersprach und materiell zu Leibe rückte; nach Verbot und Enteignung durch die Gestapo, floh das Institut sozusagen geschlossen und emigrierte gleichsam als einsame deutsche Forschungsinsel nach New York. 16 Jahre später, in denen Deutschland 1000 Jahre hinter sich gebracht hatte, übersiedelte das Insitut von dort, um 1950, zurück in den Elfenbeinbeton seiner universitären Halbwelt. Denn natürlich waren die Rückkehrer, inzwischen oder wieder, Fremdlinge im eigenen Land. Es ist vermutlich nicht ganz abwegig, die in der Sprache dann mitschwingende Ignoranz (wenigstens auch) als eine Reflektion der Verletzlichkeiten ihrer Protagonisten zu interpretieren. In anderen Worten: Unter prekären Existenzbedingungen gewährt eine „Heimat erzeugende“ Sprache auch eine Art von Asyl.
Nur … war die Kritische Theorie weder die erste noch die letzte Spezial“wissenschaft“, die sich vor der allgemeinen Verständlichkeit in einer rituellen und verklausulierten Sprache versteckte. Ob bereits Pharaonen, Priester oder Schamanen vergleichbare Techniken nutzten, ist mir nur vage bekannt. Sicher aber sind der Römische Ritus und die lateinische Kirche eine frühe (früheste?) Praxis dieser ausschliessenden Mechanik; oder war es die Mathematik? Anyway: Mir geht es um ein verbreitetes wissenschaftliches oder ganz allgemein fachliches Verständnis, das seine Referenzen (ausschliesslich?) in der (abgeschlossenen) peergroup findet und sich nicht am Interesse und schon gar nicht an den sprachlichen Usancen seiner „Wirtsgesellschaft“ orientiert. Besonders lästig und mitunter gar ärgerlich wird das Phänomen, wann immer wir uns gezwungen sehen, uns zum Verständnis des eigenen Körpers mit dessen Ärzten ins Benehmen zu setzen.
Die Gegenprobe gibt einen Hinweis darauf, dass eine ausschliessende Sprache nicht ganz ohne Vorsatz entsteht: in der sogenannten populärwissenschaftlichen Literatur werden die „Übersetzungsleistungen“ zwischen den Fachsprachen der Spitzenforschung und dem Verständnis der Allgemeinheit durchaus erbracht; zumindest wird darin ein Versuch unternommen.
Klug
Dieser Gedanke führt uns zu dem dem fachlichen Jargon innewohnende Rational; ja, ich glaube, es gibt eines. Natürlich „will die Wissenschaft“ ihre Erkenntnisse nicht eigentlich der Öffentlichkeit vorenthalten, sagen wir: nur äusserst selten oder in Wirtschaftskrimis – unter der Prämisse jedoch muss es, irgendwo, ganz tief unten, einen Grund geben dafür, dass Erkenntnis die Tendenz hat, ein sprachliches Biotop auszubilden. Ignorieren wir für den Augenblick Persönlichkeitsstörungen, kränkelnde Arroganz und herrschaftlichen Missbrauch, so ist zunächst einmal „das Neue“ – in seiner Eigenschaft als Unbekanntes – der Katalysator eines sprachlichen Engpasses. Ein Beispiel: Warum wird die Erde unter den Kastanien nicht weniger, obwohl jedes Jahr kubikmeterweise neue Blätter aus den Bäumen wachsen (die der Herbstwind davonträgt oder die dann doch von mir zur Seite geharkt werden … müssen)? Ohne den Begriff der „Photosynthese“ bleibt die Antwort auf die Frage sozusagen literarisch. Denn die fachliche Wortschöpfung benennt nicht nur den (neu) erkannten Sachverhalt, sondern fasst ein weitläufiges Narrativ zusammen, den kompletten Forschungsprozess mit all seinen zurückliegenden Zwischenschritten und überwundenen Sackgassen. Und je weiter das forschende Interesse – in seiner je chemischen, biologischen oder physikalischen Fachrichtung – in die Materie vorgedrungen war, um ihr die Geheimnisse abzutrotzen, desto mehr Sachverhalte wurden dabei „neu“ aufgedeckt, für die es – zuvor – keinen Begriff gab. Kurzum: die Fachsprache entsteht, weil die Umgangssprache keine distinkten Begriffe für genau diese komplexen Erkenntnisprozesse bereitstellte.
In einer Fachsprache werden also nicht allein Worte benutzt, die Dinge dingfest machen, etwa die „Doppel-Helix“, sondern umfangreiche themenspezifische Forschungshistorien, -Sichtweisen und Interpretationen sprachlich „mitgetragen“ – in diesem Fall womöglich die (nicht ganz unumstrittene) Sicht von James D. Watson im gleichnamigen Buch. Damit hätten wir zumindest eine Legitimation für die (zuweilen ausufernde) sprachliche Differenzierung innerhalb von Themengebieten. Nebenbei bemerkt versperren sich auch nicht alle fachsprachlichen Narrative der Einsicht des Publikums. Für James D. Watson jedenfalls kann ich berichten, dass das spannende und verständliche Buch, lange her, meine schulische Performance im Fach Biologie nachhaltig verbesserte.
Komisch
Damit wir jetzt nicht in einem watteweichen Einerseits-Andererseits steckenbleiben, muss ich auf die oben vorübergehend geparkten psychologischen und zuweilen durchaus handfesten Teilaspekte zu sprechen kommen, nämlich die der vorsätzlich ausgrenzenden Sprache. Das geht nicht ohne Polemik, denn die These, die bereits in dieser Ankündigung eingewoben ist, lautet: Nicht wenige Fach-Karrieren basieren auf dem Unwillen und/oder der Unfähigkeit, die eigene Sicht allgemeinverständlich darzulegen – und zwar im Zusammenspiel mit der nachsichtigen Bereitschaft der Peers, etwaige Wolkengebilde wohlwollend gelten zu lassen. Und oftmals ist es noch schlimmer: Es gibt Denker und Forscher, die das, was sie nicht zu sagen haben oder nur nachplappern, in irgendeinem Bullshit-Bingo verklausulieren und es gibt sogar solche, die es regelrecht darauf anlegen, unverstanden zu bleiben. Denn was keiner versteht, kann auch niemand beurteilen, geschweige denn widerlegen – und so macht man sich solitär, „unvergleichbar“, besichert womöglich eine (akademische) Position und erleichtert die Verteidigung gegenüber (vorsätzlich herbeigeführten?) Missverständnissen: „Das habe ich nie behauptet.“! Übrigens ist die Alchemie ein schönes Beispiel für diese Praxis und es braucht nicht allzu viel Phantasie, sich vergleichbare Experten auch heute noch vorzustellen. Zumal, wenn „Drittmittel“ ins Spiel kommen.
Nichts davon kritisiert die Wissenschaft, nicht institutionell und nicht in ihren Ergebnissen! Das Problem ist – wo nicht krimineller oder psychopathologischer Natur – die Kommunikation. Am Anfang dieser Überlegung reflektierte ich meine eigenen etwaigen Grenzen und Lücken; was daran Selbstkritk, Einsicht oder Forderung ist, bleibt natürlich bestehen. Den eigentlichen Anstoss aber gab mir eine hellsichtige Passage, in der Neal Stephenson in seinem jüngsten Buch („Fall; or, Dodge in Hell“) über einen „modernen“ Turmbau zu Babel (und dessen Scheitern) erzählt. Bei Stephenson ist das Teil einer „digitalen Bibelerzählung“ und damit ein Puzzlestein unter vielen; für mich jedoch ist es ein „Urmotiv“.
Sprachliche Desintegration ist eine erste Erscheinung – und wird aber zum zentralen Treiber – gesellschaftlichen Zerfalls. Es wäre unsinnig, „die Wissenschaften“ und die Marotten ihrer Fachsprachlichkeit dafür verantwortlich machen zu wollen; sie aber auch! Eingereiht gehört auch die Politik mit ihrem Stanzenapparat, der jeden Sachverhalt unter ausgewogenen Banalitäten vernebelt. Mindestens ebenso trägt dazu bei, wie „die Journaille“ mit ihrer rituellen Pseudo-Aufklärung und ihren „Hysteriekurven“ jedweden Sachverhalt zerredet und zerbröselt. ... Noch sind wir nicht in den Abgründen der US-amerikansichen Auseinandersetzung angekommen, in der beispielsweise der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, ausgerechnet die erneuerbaren Energien und den Green New Deal für die winterliche Stromkatastrophe verantwortlich erklärt (während fossile und sogar Atomkraftwerke wegen eingefrorener Wasserpumpen heruntergefahren werden mussten). Doch in der Corona-Krise sind auch wir mit den mangelnden sprachlichen Befestigungen des Landes konfrontiert.
Konsequent
Gibt es Abhilfe? Leider lässt sich schlechte, falsche oder ausschliessende Sprache nicht verbieten. Oder doch: wir sehen es gerade in der sogenannten Genderfrage. Nur lernen wir genau dort, dass eine repressive Sprachkritik ziemlich unverblümt im „Neusprech“ endet. Auf die oder den einsichtigen Einzelnen zu setzen – das wäre die Alternative – und eine kollektive Disziplin des Sprechens und Nachfragens einzufordern, ist auch nicht gerade mein Lieblingsargument: Der und die Einzelne bleiben noch in Summe stets die Minderheit.
Verdammte Hacke: Mehr fällt mir aber nicht ein.