Die SPD als Sozial-Fall

Marc Saxer führt eine Debatte über

im Kulturklassenkampf

 

Die SPD debattiert? Eine Scheindebatte, das ist das Problem.
Die Rolle eines Peter Glotz ist vakant, gefühlt bereits seit Jahrzehnten: ein Vordenker der SPD fehlt.

Marc Saxer übt

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Julian Nida-Rümelin hatte sie vielleicht für eine Weile behauptet, stellvertretend, hat sie aber nicht ausgefüllt. Nun bewirbt sich Marc Saxer – und würde er nicht widersprechen, könnte es ihm nie gelingen; im Brotberuf, wenn man das einen Beruf nennen kann, ist er Abteilungsleiter Asien in der Friedrich-Ebert-Stiftung. 

Wanted: Denker

Um sich für die Rolle des Vordenkers zu qualifizieren, versucht Saxer mit zäher Beharrlichkeit, handlichere Griffe an verstaubte Begriffe zu schrauben, so dass, wenn‘s denn klappt, am Ende eine Debatte dabei rauskommt. Solche Debatten sollen, einerseits, der Politik eine Richtung vorgeben, vor allem in die Zukunft, raus aus den multiplen Halb- und Vorkrisenmodi, in denen der halbe Globus gefangen ist und, andererseits und vor allem, auch seiner Partei, der SPD, einen Weg weisen, raus aus dem Personaldschungel, raus aus den falsch rum aufgestellten Startlöchern, raus aus dem fehlgeleiteten Moraldiskurs – hin zu einer strategischen Repolitisierung des Programms. 

Saxer hätte sich eine einfachere Aufgabe suchen können. Jüngst hat er via facebook (mal wieder) einen Aufsatz (aus dem ipg-journal) verlängert und hat damit einen seichten Sturm im Cocktailglas losgetreten.

„Gegen Rechts, heißt es, muss man Haltung zeigen. Allerdings scheinen Hashtags, Ausladungen und Konzerte den Vormarsch der Rechtspopulisten nicht aufhalten zu können. Die Suche nach einer besseren Strategie beginnt mit der Frage, wessen Werte hier eigentlich verteidigt werden. Denn der Kampf gegen Rechts kann gar nicht funktionieren, solange er als Teil eines Kulturklassenkampfes ausgetragen wird. Und dieser Kampf verläuft zwischen den Mittelklassen der Gesellschaft. Darum streiten wir in Zeiten extremer Ungleichheit über Moral und Identität und nicht über Verteilung."

Von Kämpfen ist also die Rede, naja. In diesem Aufsatz erscheinen nicht alle Frontstellungen gesichert. Saxer spricht von einer „neuen“ Mittelklasse, die sich aus Akademikern und Intellektuellen zusammensetzt (BabyBoomerBashing ist eines von Saxers Hobbies) und stellt sie gegen eine alte Mittelklasse, die sich aus Unternehmern, Facharbeitern und Angestellten kompiliert. Es sei nun so, dass die neue (ältliche) Mittelklasse der alten (jung gebliebenen?) ihre Werte oktroyiere und dabei einen Kulturklassenkampf auslöse. Dann treten allerdings noch rechte Populisten auf den Plan, die gegen den Liberalismus zu Felde ziehen, und schliesslich ist auch ein Prekariat involviert, das sich allerdings eher passiv, nämlich durch Abwesenheit an der Wahlurne, in der Sache äussere. Zeilen später haben sich die Frontstellungen verschoben:

„Der Kulturkampf zwischen Kosmopoliten und Kommunitariern wird entscheiden, wer zukünftig in Politik, Medien, Kunst und Wissenschaft den Ton angibt.“

Dass die Verhältnisse unübersichtlich sind, wissen wir seit uns Habermas Mitte der 1980er Jahre darüber in Kenntnis setzte. Immer noch ist es ein wenig wie im Kinderzimmer, wenn die Spielsachen nach dem Aufräumen in einer sauber ins Regal sortierten noch grösseren Unordnung zu liegen gekommen sind, der Lego-Fighter neben dem Joystick von der Playstation und den Porsches und Ferraris von Mattel, drunter und drüber ein paar übrig gebliebenen Bauklötzchen  ... usw., und Du musst den ganzen Kram erst wieder aus dem Regal auf den Boden pfeffern und ausbreiten, um die verstreuten Mosaikstückchen von wenigstens einem dieser Angebote sortenrein zusammenzusuchen. 

Seien wir gerecht

und beschäftigen wir uns mit dem, was Marc Saxer eigentlich, jedenfalls vermutlich sagen will. Er sagt (wenn wir die Klassenkampfrhetorik mal für den Moment zur Seite schieben), dass die Auseinandersetzungen um Moral und Identität davon ablenken, dass wir andere und zwar grössere Probleme haben. Gott sei Dank weiss ich, dass es ihm nicht allein um Verteilungsgerechtigkeit geht.

Zu den – wenigstens in meiner Weltsicht – fundamentalen Irrtümern der bestehenden Diskussionen gehört die These, dass das rechte Milieu, das mit den AltNazis anfängt, über die NeoNazis, Rechtspopulisten bis in die CSU und an den Sarrazin-Rand der SPD reicht, als eine Reaktion auf Verteilungsungerechtigkeiten gewachsen sei und, ergänzend, aus dem Gefühl, von der Privilegienvergabe der dynamischen Gesellschaftsentwicklung abgeschnitten zu sein. Ich sage damit nichts Neues (und vermutlich nicht viel anderes, als Saxer auch): In meinen Augen hat das „rechte“ dieses Ruckes mit Politik eher wenig und mit Psychologie und SchrotSchussSchäden aus der Amygdala eher mehr zu tun, AUCH wenn politische Führungsfiguren diese Psychologie politisch zu instrumentalisieren versuchen. Das Vokabular ist rechts, das stimmt, aber noch halte ich es, wenigstens in seinen parlamentarischen Erscheinungen, für ausgeliehen. In meiner Interpretation herrscht in den verschiedenen Milieus eine Mischung aus Verwirrung, Unordnung und einer grassierenden Wert-Entropie, die als zentrale Ursache – und zwar – die ganze linke Hälfte der Gauss’schen Verteilung bestimmt (ich müsste noch sagen: Verteilung von was; das bleibt ungenau: es spielen Intelligenz, Konfliktfähigkeit, Aufklärung, Adaptionsfähigkeit und ähnliche charakterbildende Faktoren zusammen, die eine Verteilungskurve, sagen wir: „gesellschaftlicher Reife“ ausbilden). Allerdings bedürfen auch die Sammelbegriffe Verwirrung, Unordnung und Werte-Entropie der Erläuterung.  

Werte werden allenthalben beschworen, europäische, aufgeklärte, zivilgesellschaftliche, liberale und auch nationale, religiöse, identitäre. In aller Regel, und das meint: über die letzten zweihundert Jahre, haben sich solche Werte im Verbund eines Anschauungsraumes präsentiert: wer links ist, ist auch gegen AKWs, für Gerechtigkeit sowieso, Emanzipation im allgemeinen und im besonderen, gegen Krieg und Autoritarismus; eine Auswahl, es gibt Untergruppen. Zu den traditionellen (:-) Auszeichnungen der linken Werte zählte es über viele Jahre, progressiv zu sein, fortschrittlich. Tempi passati. Heute sind die Linken konservativ, und es ist ein Konservatismus der Bestandssicherung, der Verteidigung des Erreichens, des Beharrens auf gelernten Analysen, und ja, auch der Reaktanz gegenüber der Dynamik des (technischen) Fortschritts. Und nicht nur die "progressiven" Werte sind unter die Räder geraten. Auch die rechten Werte sind durcheinander, seit sich Alice Weidel zu ihrer Homosexualität bekennt und Alexander Dobrindt eine konservative Revolution anzetteln will. Die Worthülsen rechter Ortsbestimmungen finden – zwischen Scheidungsrate, Antalya-all-inclusive, Pornokonsum und die Kirchen bleiben leer – in der Lebensrealität wenig Andockpunkte. Am besten trifft es noch: Bigotterie auf allen Seiten.

„Waren es früher vor allem die Minderheiten, die sich um ihre Identität scharten, ist es den Identitären Bewegungen gelungen, der gesellschaftlichen Mehrheit einzureden, auch sie sei eine bedrohte Minderheit.“

Auch hier handelt es sich um analytisches Missgeschick: es gibt keine Mehrheits-bildenden Cluster mehr, schon der Blick in die Parlamente macht das offenbar, aber auch in der gesellschaftlichen Breite ist so etwas vereinheitlichendes und vereinnahmendes wie „eine Mehrheit“ nicht in Sicht. Heute haben wir es mit (phänomenologisch verwechselbaren aber psycho-sozial maximal) divergierenden gesellschaftlichen Kleingruppen zu tun. Das haben Identitäre nicht erfunden, es hat bereits mit den Sinus-Milieus begonnen (wurde mit der Hartz-Gesetzgebung weiter aufgespalten) und endet mit partikularistischen Digitalisierungsszenarien, mit denen vormals relativ homogene Obermengen in inkompatible Untermengen aufgelöst werden. Arbeiter wurden Facharbeiter – die technologische Entwicklung hat ihre transitive Anschlussfähigkeit ausgehebelt, und es braucht heute nahezu alle zehn Jahre eine komplett neue Ausbildung, um mit dem Tempo der Produktivität mitzuhalten. 

Mehrheit sind diese Minderheiten nur qua intellektueller Zuweisung. 

„Der Kampf der Mittelklassen um die kulturelle Hegemonie erklärt, warum sich die politische Hauptkonfliktlinie nicht um Verteilungsfragen dreht, sondern um kulturelle Fragen wie Sexualität, Identität oder Sprache.“ 

Letzteres beklage ich natürlich auch, eine Massenhysterie, eine flächige Verdunklung des Zeitgeistes; ersteres jedoch halte ich schon lange nicht mehr für die Hauptkampflinie und, um da eins drauf zu setzen, für eine politische (im Sinne der „Rückeroberung des Politischen“) schon gar nicht (allenfalls für eine, nach der auch „das Private politisch ist“). Vielleicht hilft es, daran zu erinnern: 

Das eigentliche Problem der SPD ...

... sind nicht linke oder rechte, verteilungspolitische oder kulturelle Kampflinien – und die Partei würde sich nicht wieder- oder gar neu erfinden, wollte sie sich auf die eine oder andere Seite schlagen. Das eigentliche Problem der Partei ist, dem Grunde nach, wie man so schön sagt, eine Begründung ihrer Existenz.

Eine Partei, die sich historisch an das Narrativ der sozialen Gerechtigkeit gebunden sieht (mehr als ein Narrativ war es seit Ende des WWII ohnehin nicht mehr), kommt in thematische Verdrückung, wenn eine Gesellschaft beginnt, über das BGE zu diskutieren. Denn die eigentliche Aussage hinter dem BGE ist die bereits überzeugende, nicht mehr nur behauptete Möglichkeit, dass soziale Gerechtigkeit eine gegebene, nicht mehr nur utopische Bedingung für alle ist. Das braucht noch zwei Sätze:

Soziale Gerechtigkeit hat zwei Erscheinungen: die des Überlebens und die des Neides.

Tatsächlich war die SPD als Partei des Überlebens unabdingbar und hat genau hier ihre historischen Verdienste. Die Impulse, die mit dem Kampf für die Überlebensbedingungen angefangen haben, hatten auch bis hinein in die Lebensbedingungen ihre Berechtigung, denn es gab gute Argumente dafür, dass das blosse nicht-Verhungern und nicht in gesundheitsverachtenden Produktionsumfeldern zu krepieren zwar eine conditio sine qua non, aber keine hinreichende ist. Nur sind diese Zeiten vorbei. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen von EUR 3000+ hat mit den Manchester-Bedingungen der SPD-Gründerjahre aber auch nichts mehr zu tun. Heute dominiert der Neid und zeigt sich paradigmatisch in der periodisch wiederkehrenden Debatte – etwa – um die Abgeordnetenvergütung.   

Wie ausgehöhlt das soziale Engagement der SPD inzwischen ist, zeigt sich auch an den „Kämpfen“, die sie heute führt: Mindestlohn, Kitaplätze, Frauenquote, Mietpreisbremse. Ich will gar nicht darüber diskutieren, ob diese „Kämpfe“ richtig oder falsch sind, ich will auch nicht behauten dass es keine Gerechtigkeitslücken gebe, keine Misstände, keine sozialen Konflikte etc.. Es hat nur in Summe nicht mehr den existentiellen Charakter, der das politische Engagement ehemals so zwingend erscheinen liess. 

Tatsächlich gibt es auch heute gravierende Umverteilungsfragen: wenn x% der Bevölkerung (das x ist nach Region oder Perspektive variabel) über 50%+ des Gesamtvermögens verfügen, so sind die Fragen der Verteilung dringlich, allerdings nicht für die Mehrheit der Bevölkerung existentiell. Vielmehr scheint es so, dass es da offenbar ein irgendwie zweites Universum (der Aldis, Klattens, Quandts ...) gibt, dass für Normalsterbliche so fern und so unerreichbar ist, dass es sie quasi nichts angeht. Umgekehrt aber setzt hier eine ganz andere, nämlich eine Begrenzungs- und sogar schon Rückführungsnotwendigkeit ein: Denn wenn diese Vermögensschere sich immer weiter öffnet, geraten zu allererst und vor allem die Ansprüche der Mittelschichten auf Partizipation und Transition in Gefahr (das meint die Lebensperspektive auf Aufstieg und Vermögen). Die Super-Vermögensfrage ist weder sozial-, noch christ-, noch liberaldemokratisch, es ist eine schlicht demokratische Machtfrage, denn die Vermögen können sich die Macht kaufen und tun es ausgiebig. 

Mit ihrem Thema ist der SPD allerdings auch die Klientel abhanden gekommen; man weiss nicht recht, was war zuerst? Es gibt „Arbeiter“, es gibt "Angestellte", noch. Ihre einzige Bedrohung in einem fest verzurrten Sozialstaat ist: Arbeitslosigkeit. INNERHALB eines gegebenen Vertrages, mit xUndDreissig-Stundenwoche und 13. Monatsgehalt, haben sie wenig zu beklagen. Die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit wiederum kann kaum Bestandteil solcher vertraglichen Regelung sein, resultiert sie doch aus den Wettbewerbsbedingungen und ist daher nur höchst indirekt beeinflussbar. Über die Produktivitätsanforderungen des Unternehmens an seine Standorte dagegen lässt sich (wohlverstanden: unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen) nicht verhandeln. Wir sehen bei Opel, dass über Arbeitslosigkeit „Kompromisse“ erkämpft werden – was nichts anderes ist, als ein quantitativer Vorruhestands- und Arbeitslosigkeitsregler (dessen Ergebnisse dann wieder dem Steuer- oder Beitragszahler aufgebürdet werden, aber das ist eine andere Debatte).

Gleichermassen ist auf Seiten der Angestellten kein Blumentopf zu gewinnen, nein, es ist eigentlich eher so, dass aus Arbeitern längst Angestellte geworden sind; die Unterscheidungen verwischen (ein schönes Beispiel dafür war die White Collar- und Samthandschuh-Produktion des VW-Phaeton in der Gläsernen Fabrik Dresden). Dieser Klientel geht es gut, und alles, was sie interessiert ist, wie es ihnen noch besser gehen könnte (was überwiegend legitim, nur nicht wirklich als Austragungsort politischen Engagements geeignet ist).

Das ist denn auch der eigentliche Grund, warum es den Grünen derzeit so gut geht: sie haben! ein Thema – auch wenn es sich überwiegend als Image und in Propaganda realisiert. 

Für die SPD ist das S ist Problem, das „Sozial“. Der Partei fehlt eine definierende Themenstellung – die ja bei Lichte besehen auf dem Tisch liegt, aber eine komplette Neudefinition der Partei nach sich zöge. Wenn es eine Übersetzung für Manchester-Kapitalismus in unserer Zeit gibt, so müssten wir vermutlich vom Digital-Kapitalismus sprechen (auch wenn wir diesen Kapitalismus nach einer allfälligen Grenzkostenbetrachtung vielleicht besser einen Monetarismus nennen sollten). Wenn, wie es eigentlich nicht anders zu erwarten ist, die SPD das Thema der Digitalisierung verschläft und wenn sie das mit der Digitalisierung verbundene Thema der „Bedeutungslosigkeit“ der Menschen nicht zu dem ihren macht (siehe dazu Harari: gegen Ausbeutung kann man sich wehren, gegen Bedeutungsloigkeit nicht) – und solange die FDP noch auf alten Marktvorstellungen herumreitet, bestünde da tatsächlich eine historische Lücke – so bliebe ihr nur eine Beerdigung zweiter Klasse: in den Geschichtsbüchern.