Die SPD – das Dilemma der Welt

Was könnte man von ihr wollen?

Es liegt ja nicht an NRW

 

Die Lage der SPD ist traurig, das Personal ist verbraucht, die Programmatik ist bedauernswert.

Wenig Wind – © Dirk Vorderstraße – Wikimedia

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In der ZEIT – anlässlich ihres bevorstehenden Abschieds als Parteivorsitzende – wird Katja Kipping (zahlungspflichtig) interviewt. Man muss sich nicht wundern, dass es der SPD schlecht geht, wenn sogar links von ihr abgrundgähnende Langeweile herrscht und die Fragen des Interviewers intelligenter daher tänzeln als die Antworten der Frau Kipping es überhaupt nur versuchen. An anderer Stelle (ebenfalls in der ZEIT), in einem Doppelinterview oder Streitgespräch zwischen Franziska Heinisch und Winfried Kretschmann, fragte der grüne Ministerpräsident die keck neubauernde Studentin allen ernstes, was die Jugend eigentlich zu meckern habe, wenn er sich für die Arbeitsplätze stark mache: das genau sei doch Zukunftspolitik. Wenn so der „linke Rand“ tönt, was soll dann Menschen oder gar linke und liberale Wähler noch überzeugen, wo es um die ausgewogene Mitte der Gesellschaft geht? Nach der Wahlniederlage in NRW schien die Frage der WAZ (sagt wieder die ZEIT) den Nagel auf den Kopf zu treffen: „Wo will die SPD noch punkten, wenn nicht in NRW?“ Und doch schien es nur – denn tatsächlich war die Frage falsch gestellt. Abgesehen davon, dass es schon kaum noch eine tragfähige Definition davon gibt, was eigentlich linke vs. rechte Positionen in einer übersättigten Gesellschaft sein sollen, gibt es ganz offenbar auch ganz praktische Stolperstrecken für jene, die sich traditionell nach links orientieren wollten.  

Es liegt ja nicht an NRW oder den spezifischen Bedingungen des Landes. Die herkömmliche Argumentationsfigur „NRW: (weil) bevölkerungsreichstes Bundesland – (deswegen)  Stammland der Sozialdemokraten“ galt zwar für die Jahre 1980-2000. Seither – ein rot-grüner Ausrutscher unter Hannelore Kraft – ist NRW CDU-Land. Das hat wenig mit NRW zu tun, gilt es doch für ganz Deutschland: Kohl-Schröder-Merkel; aber ja! Bei Lichte besehen war ja auch Gerd Schröder nicht gerade der in der Wolle gefärbte Fahnenträger der Sozialdemokratie. Man könnte sogar noch weiter gehen: das hat auch nur wenig mit der CDU zu tun. 

Ich mache zwei systembestimmende Klammerbegriffe für den Untergang der Sozialdemokratie verantwortlich: der eine ist der „Industriestandort Deutschland“. Im späten 20. Jahrhundert hatte die SPD (und insbesondere die Gewerkschaften) noch einen tragenden Anteil an der Gestaltung dessen, was traditionell unter CDU-Oberaufsicht für diesen Standort an Rahmenpolitik zu gelten hatte. Es änderte sich aber in eben diesem ausklingenden 20. Jahrhundert fundamental, was „Industrie“ zur Industrie gemacht hatte: alles, was Dreck und Lärm verursachte, übernahmen sukzessive die Kuka-Roboter. Den Arbeitern ging (und geht) die Arbeit aus. Andererseits übernahmen feinmechanische Dienstleister die Kompilation der modular gefertigten Warenwelt. Wer einmal einen neuen Phaeton in der gläsernen Fabrik in Dresden abgeholt hat, erlebte einen Kulturschock: leise und zurückhaltend konzentriert surrten die Montagebänder über einem staubfreien hellen Parkettfussboden, auf dem die mit weissen Overalls und Handschuhen ausgestatteten „Produktionsmediatoren“ den edlen Materialien höflich und zuvorkommend den Weg in das Fahrzeug wiesen. Kann sein, dass mir jetzt meine Phantasie einen Streich spielt, aber ich meine mich zu erinnern, dass aus dem Hintergrund klassische Musik den Montageprozess überwölkte – und wenn es so nicht war, hätte es so sein können! Dass Löhne in diesem Umfeld eher wie Gehälter aussehen, ist da nur folgerichtig. Und während im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts noch rund 55% der Erwerbstätigen „Arbeiter“ waren, sind es 2016 noch 19,3%. Fast möchte man sagen: „Da hast Du’s!

Aber es ist nicht allein der Wechsel in die Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, der zweite gesellschaftsbestimmende Begriff ist natürlich der der „sozialen Marktwirtschaft“. Nicht allein die etwaige „finanzielle Partizipation“ der Erwerbstätigen an den Erfolgen der Unternehmen (in der Automobilindustrie werden [qtip:(1)| wurden vor Corona] regelmässig Erfolgsprämien ausgeschüttet), vor allem die liberale Grundausstattung des Landes hat das Land der Sozialdemokratie entfremdet. Gewiss bildet das Durchschnittseinkommen von fast 4.000 Euro den Wohlstandsbauch der Republik – und damit das Herzstück eines Epochenwechsels. Unter dem Regime dieser Bauchlastigkeit geht es um vieles, nur nicht mehr um den Klassenkampf. Ja, es geht nicht mal mehr um die soziale Frage, denn für die gibt es Tarifpartner und Trillerpfeifen, Warnstreiks und Nachsitzungen. Die soziale Wahrheit ist, dass die vormals sozialdemokratische Klientel satt ist. Und solange sie ihren „fair share“ bekommt und ein leidlich gutes Leben führen kann, ist es diesem unteren Mittelstand auch vergleichsweise gleichgültig, dass „sich die Bosse die Taschen vollstopfen“: so what! Das letzte Hemd hat keine Taschen. Grundneidisch dagegen ist die Einstellung eben dieser Klientel gegenüber den Diäten oder Gehältern ihrer Volksvertreter – und auch das ist ein Faktor, der einer spiessigen Sozialdemokratie auf die Füsse fällt. Dass der Gesamtbetriebsrat von VW, Bernd Osterloh, mit Prämie sogar mal 750.000 Euro ins Nest schleppte, bei 200.000 Euro Grundgehalt, das ist für einen gut verdienenden Durchschnitts-Einkömmler denn doch schwer zu ertragen [qtip:(2)| Ich selbst meine, damit kein Missverstädnis aufkommt, dass „politische“ Gehälter mit den „industriellen“ zumindest vergleichbar sein sollten – und davon idR weit entfernt sind]. Von diesem „Sonderfall Politiker“ abgesehen ist aber die eigentliche Aussage, zu der das sozialdemokratische Bewusstsein in der sozialen Marktwirtschaft zusammendampft: Das Sein bestimmt es! 

Das Problem der Sozialdemokratie ist, dass Gerd Schröder ihr letzter grosser Repräsentant war. Denn wenn die letzte Hervorbringung einer dunnemals revolutionären Partei ein Genosse der Bosse ist, dann widerspiegelt sich darin nur jenes VW-Bewusstsein, dass sich in der Basis eh schon durchgesetzt hat. Nur kann man dann auch gleich auf das Original vertrauen, zumal eine CDU, die von Frau Merkel mit strategischer Weitsicht exakt soweit nach links verschoben wurde, dass sie die nunmehr mehrheitsfähigen liberalen Positionen einsammeln kann: Bankenrettung, Atomkraftwerke, Berufsarmee, Ehe für alle, Grenzöffnung, Euroschulden, und ideologisch gerade grün genug, dass die eigenen Arbeitsplätze nicht in Gefahr geraten. 

Es ist also nicht NRW, sondern es sind die Köpfe und die Bäuche, für die oder bei denen die SPD keinen Stich mehr machen kann. Dieses Dilemma der SPD ist das Dilemma des Landes, wenn nicht gar: der Welt. Was eigentlich wäre denn eine „progressive“ Position? Und es ist ja so, ganz im Gegenteil, dass die Problemlage überhaupt nicht nach einem „progressiven“ Ausweg sucht, sondern nach einem „resilienten“.

Nicht jeder wird dem zustimmen wollen: da wären doch noch die Grünen. Tatsächlich zeigen die Grünen eine beeindruckende Aufwärtslinie. Das … sollte man nicht überbewerten. Wer das oben zitierte Interview (Heinisch vs. Kretschmann) gelesen hat, wird sich mit dem Verdacht herumquälen, dass die Grünen, einmal in Amt und Würden, sich auch nicht anders entwickeln werden, als alle staatsveranstaltenden Parteien vor ihnen. Die Sozialdemokraten waren, sachma: stimmt dat eijentlich?, die „progressive Speerspitze“ der Gesellschaft, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Grünen hatten diese Rolle an dessen Ende. Da sich jedoch die technologischen Rahmenbedingungen so rapide entwickeln, schnurrt auch die Halbwertzeit der Grünen in die Vergangenheit. Sie haben zwar ein paar (papiertigernde, siehe Kretschmann) ökologische Ideen, aber keine für das 21. Jahrhundert. Das ist das Dilemma: Wie mit Segelboot, Eigenheim und SUV – oder wenigstens doch mit einem „ordentlichen Leben“ in eine ökologische Gesellschaft umsteuern? Und wer ist zuständig?

Deswegen: Dilemma. Und deswegen: sogar der Welt. Denn wem könnten wir die Entwicklung der Welt anvertrauen? Aber ja! Es stimmt, dass es am Ende immer die Personalfragen sind, die das Schicksal entscheiden. Nachdem wir bereits programmatisch kein Land gesehen haben, fehlt auch beim Personal jede Aussicht. Frau Merkel hat, das müssen auch Kritiker einräumen, das Land durch unruhiges Gewässer gesteuert. Viel Kurs hat sie dabei nicht vorgegeben, man fuhr auf Sicht und liess sich von wechselnden Winden treiben. Jetzt haben wir Sorge, dass Armin Luschet oder Friedrich Schmerz das Ruder zu fassen kriegen, oder gar ein Markus Schröder. Das will sich niemand ausmalen. Für Herrn Röttgen fällt mir keine passende Verballhornung ein. Das ist aber kein Beinbruch: der ist zu intelligent, als dass ihn seine Partei wählen wollte. Hab ich wen vergessen? Olaf Schmalz? Stimmt, der redet immer so lieb, macht seinen Jobb, und dann? Die Richtung? Das Ziel? Wohin? Geld ausgeben kann ich auch. Und er allein? Für ein Orchester reicht es nirgends. Wir haben, in Summe und mit Wohlwollen, eine Handvoll zweiter Geigen; gleich danach wird es eng, nicht zu reden von der Frage, wer am Pult steht. Skylla und Charybdis: kein DirigentIn UND die Partitur fehlt.

Vielleicht könnten wir Macron überreden, der kommt ja mit seinen Franzosen nicht so gut zurecht.