Eigentlich ist Zack die Heldin

Nils Westerboer schreibt Athos 2643

Ein Toter, noch einer – ja, spinnt denn die Marfa?

 

Science Fiction, wenn sie gut ist, ist Philosophie, sagen wir: fast.
Vermutlich hab ich das schon irgendwo geschrieben, aber dreifach hält besser. Ich werde also jetzt eine Lobrede auf Nils Westerboer schreiben; naja, nur um es „schlecht“ zu finden – und dann eine Besprechung zu schreiben, dafür ist mir die Zeit zu teuer.

Das ist Zack!

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Übrigens ist Zack auch die Erzählerin. Oder ich frag mal: Rüd als Held? Der ist doch eher ungeeignet, eigentlich ein Angsthase und auch sonst: ein paar Mal ist er schon schlau, aber in Summe ...? Nun … gibt es gewisse Schwierigkeiten, denn um die Qualitäten des jüngsten Buches dieses Autors zu fassen zu kriegen; Man muss in die Geschichte einsteigen, aber verraten soll man auch nix ...

Also Spoiler Alert!

Andererseits, wen das beruhigt: auch beim dritten Hören des Buches habe ich mich nicht gelangweilt.

Zur Sache: In „Athos 2643“, die Zahl ist eine Jahreszahl, buchstabiert Nils Westerboer, was auf uns zukommt, wenn passiert, wovor uns Roberto Simanowski gewarnt hat – Du erinnerst Dich: über dessen Buch „Todesalgorithmus“ habe ich zuletzt geschrieben. Auch jetzt geht es um eine KI, die auf alles aufpassen soll – und – höchste Zeit – das Thema drängt (siehe Simanowski: Klimawandel …)! Weil: es ist eine beunruhigende Story, Mord oder Todschlag …, und die KI hat es nicht verhindert? Klar, wenn man soweit ab ist vom Schuss, und Athos ist ja bekanntlich jott-we-deh, und wenn man sich dann auf seine „Marfa“ verlassen muss, und das muss man!, dann ist es schon zutiefst irritierend, um das Wenigste zu sagen, wenn unter ihrer Aufsicht jemand ums Leben kommt, oder!

Zur Orientierung, falls Du Dich da nicht so auskennst: Athos wohnt im äusseren Sonnensystem, und zwar handelt es sich um einen recht kleinen (derzeit – ich hab ihn nicht gefunden – vermutlich also noch unentdeckten) Mond des Neptun – wir erinnern uns: in die Gegend hatte uns doch bereits Dietmar Dath auf seiner Reise zur Neptunation entführt, offenbar wird der Kiez nowadays gentrifiziert. Nee, war'n Scherz: Dort, auf Athos, wohnt seit 2642, also seit knapp einem Jahr, eine Handvoll „Mönche“. Es ist eine bunte Truppe, wie sich herausstellt, die möglicherweise gar keinem Gott dient, und was die da treiben, bleibt auch lange unklar. Jedenfalls gehen sie barfuss und in Sack und Asche, soviel Askese muss sein.

Athos hatte seine Zeit im 24. Jahrhundert, als hier was-auch-immer im bergmännischen Untertageabbau ausgebeutet wurde. Inzwischen ist das Möndchen ist von Stollen und Schächten regelrecht zerwurmt; dann … war der Abbau von dem was-auch-immer unwirtschaftlich geworden. Und so wurde Athos zu einer Geisterstadt, wie nach dem Goldrush, inzwischen nur noch ein Kloster, das von den paar Mönchen bewohnt wird. Plus Drohnen (erstaunlich, dass die Drohnen noch im 27. Jahrhundert State-of-the-Art sind, immerhin, ein wenig aufgemöbelt, immerhin, wurden sie schon; z.B.: wenn Dir mal die Hand ab ist, kann eine Ersthelferdrohne sie Dir wieder dranfrittern). Die meisten Drohnen sind allerdings für die Fleischproduktion zuständig, so ein Schlachthofszenario halt, unappetitlich, da geh ich nicht näher drauf ein. Vollautomatisiert, na wenigstens das. Das Fleisch wird zum Neptun exportiert. Die Mönchen haben da nichts mit zu tun. Was das Personal betrifft, es fehlen noch ein paar Komparsen, die haben aber, mit einer Ausnahme zum Ende hin, eine mehr herumschwebende Rolle.

Nein, ein Stück Personal hätt’ ich fast wieder vergessen: Zack. Ich sag mal so: Zack ein „Stück Personal“ zu nennen ist politisch nicht komplett unkorrekt; lass mich erklären. Denk Dir so einen Mini-Beamer, die Zwischengrösse, mehr als eine Streichholz- und weniger als eine Zigarettenschachtel. Das ist Zack. Natürlich ist sie eine „fototonische gynoide Emission mit nur eingeschränkter Solidität“; klar? Nee? Also: diese Schachtel erzeugt eine Art Hologramm, nur dass dieses Hologramm, also beinahe, ein richtiger Körper ist, wie: zum Anfassen, also fast. Später greift jemand in die Programmierung von Zack, und dann hat sie sogar „militärische Dichte“. Konnte ich das verständlich machen? Zack ist eine KI, die aussieht wie ein Mensch, eigentlich nur eine 3D-Grafik, aber mit Ansätzen von körperlicher Schwere (Licht: Teilchen oder Welle, Du verstehst) und technisch wohnt sie in dem Kasten. Und den trägt „der Inquisitor“ mit sich herum, den ich damit auch noch rasch ins Bild hole. Hab ich gesagt, dass Zack weiblich ist? Nein? Nun, ist sie ja auch nicht. "Zack ist keine Person." (S. 83) Es ist eine Schachtel, ein Kästchen, mehr nicht. Wenn aber Zack das zu kurze Kleidchen von der Schulter rutscht … Mann-o-Mann! Komm! Darf man sowas heute noch schreiben? Zack weiss alles, sieht alles, hört alles, aber anders, als die Marfa, gehorcht sie auf’s Wort. In dem Punkt werden jetzt die Meinungen vermutlich auch wieder auseinandergehen …

Und, genau, sie hört auf den Inquisitor, und der heisst Rüd Kartheiser, Para-Rüd Kartheiser genauer gesagt, wobei: Para ist sein Status. Er ist ein hohes Tier. Ein Inquisitor ist … zunächst einmal kein Kommissar, mehr eine Art Inspektor oder Untersuchungsrichter oder so; sozial hochgestellt, aber fachlich mehr Service und Wartung; mit der Kirche – der Mönche wegen könnte man auf die Idee kommen – hat das nichts zu tun; Rüd ist für wildgewordene KIn zuständig. Sein Auftrag auf Athos: Bring die KI auf Vordermann! Eine Marfa, in deren Obhut Menschen sterben, das geht gar nicht!

Und zwar ist die Marfa die Athos-KI, zuständig für Luft, Wärme, Sicherheit, … alles. „Marfa“ ist eigentlich eine Gattungsbezeichnung; es ist ein Lebenserhaltungssystem, überwiegend in Bergbau-Habitaten im Einsatz. Da es auf Athos nur eine Marfa gibt, ist das auch ihr Name. Das legt folgende Schlussfolgerung nahe: diese Marfa ist wohl ziemlich alt – und die Vermutung ist korrekt. Sie stammt noch aus Bergbauzeiten! Wer weiss, vielleicht ist sie schon ein wenig schrullig?

Die Marfa weiss alles, sieht alles, hört alles, kennt alles; ausserdem verfügt sie über einen kompletten Erddatensatz. Das ist schon der Hammer! So ein Erddatensatz enthält „alles“, und das ist jetzt noch mehr: alle Informationen, Protokolle, Aufzeichnungen, alles Wissen sowieso, das komplette Leben und so weiter; und zwar stammt dieser EDS hier von über einer Milliarde Menschen. Er ist vollständig! Und wenn die Marfa jetzt alles, was sie sieht, hört oder riecht mit dem abgleicht, was sie WEISS, also auch mit dem kompletten EDS, dann kann sie plus/minus alles vorhersehen. Der machst Du nix vor! Sie weiss, wer wer ist, und was er oder sie je gemacht, gesagt oder gewollt hat. Und sie weiss auch, was eine Milliarde andere je gemacht, gesagt oder gewollt haben. Da bleibt vom Individuum nicht viel übrig: alles vorhersehbar. Und so weiss die Marfa, wer was wann tun wird, und warum, und DESwegen ist es so unerhört, dass ein Mensch gestorben ist. Nicht einfach so Herzinfarkt, nein: Eine Fleischerntedrohne hat Hilal, einem Menschen, divers, in den Kopf gesägt. War das ein Unfall? Gibt es Unfälle überhaupt, wo eine Marfa alles sieht, hört, steuert und regelt?

Es gibt keine Unfälle, soviel, denkt Para-Rüd Kartheiser, sollte klar sein. Aber dann war es eine Tötung!

Das ist der Moment, wo der komplette Simanowski ins Spiel kommt, nämlich wenn es um die ethische Voreinstellung der Marfa geht. Sie läuft nämlich auf UTIL! Und das hat auch einmal Sinn gemacht, damals, zu Bergbauzeiten. Denn damals musste die Marfa durchaus entscheiden, ob, im Zweifel, wenn es nur das Entweder gibt, oder das Oder, ob also der Arzt überleben soll, oder der Wirt von der Shisha-Bar. Für eine Bergbau-Community ist der Fall klar: ein Arzt ist für das Überleben aller wichtiger als ein Wirt, der eine ohnehin fragwürdige Funktion innehat und auch noch gesundheitsgefährdende Stoffe ausreicht. Genau das macht die ethische Voreinstellung UTIL: entscheiden zum besten Wohle aller. Wenn die Marfa die Tötung eines Menschen zugelassen hat, so muss es zum besten Wohle aller geschehen sein – und dieses beste Wohl kann Para-Rüd Kartheiser nicht erkennen! Um’s verrecken nicht!

Damit haben wir auf Athos eine hochbrisante Situation: die Marfa tut Dinge, die Leben kosten und damit mehr als nur zweifelhaft sind; kriminell womöglich, jedenfalls justiziabel. Die der Inquisitor nicht versteht, nicht einmal Zack, obwohl es Zack beinahe, vom Zugriff auf die Steuerungssysteme abgesehen, mit der Marfa aufnehmen könnte.

Mehr sag ich nicht.

Du sollst das ja noch lesen! Aber soviel musste ich schon sagen, denn so wird deutlich, dass Nils Westerboer auf eine hochspannende Art erzählt, womit zu rechnen sein wird, wenn demnächst die Menschheit – wg. Klimawandel – die Kontrolle an die Marfa abgeben wird, oder eine ihrer jüngeren Schwestern.

Jetzt sollte vielleicht noch ergänzen, dass Westerboer das auch auf eine literarisch durchaus überzeugende Art erzählt. Eine kleine Kostprobe:

Rüd zählt leise die Sekunden.

Alle verharren wie Kinder nach einem Stopptanz. Gembdenbach ist der Einzige, der es wagt, seinen Blick von einem Cönobin [das sind die Ordensbrüder] zum nächsten springen zu lassen, als müsse er kontrollieren, ob sich jemand heimlich bewegt. Als sich Shufeng etwas Wasser aus dem Gesicht wischt und dabei wie in Zeitlupe vorgeht, hält er Blickkontakt mit ihm. Andraschs lautes Atmen ist das einzige Geräusch während der ganzen Zeit. In Uris Gesicht zeichnen sich rasende Gedanken ab, als würde er millionenfach Abwägungen durchlaufen, die ihn jedoch allesamt dazu bringen, weiter regungslos zu verharren, während Marwan überraschend unbeteiligt wirkt. Leise atmet Gembdenbach auf, als er meint, die Zeit sei um. Aber das Warten dehnt sie nur. Erst als die letzten zehn Sekunden verstreichen, senkt Andrasch langsam die Hand und fasst sich an die Nase.

Etwas Blut glänzt auf seinen Fingerspitzen. (S. 269)

Die Marfa hatte das vorhergesagt „Jemand wird bluten“, und zwar in zwei Minuten. Jetzt willst Du vielleicht über „rasend“ oder „millionenfach“ meckern, zweimal ist etwas einzig, aber sind wir nicht kleinlich! Es sind nur ein paar Zeilen, und sie schaffen tatsächlich Spannung, vermitteln detailreich eine Situation.  … dass Andrasch von dem Stress, den die Marfa ja selbst erzeugt hat, Nasenbluten bekommen wird, was nur die Marfa wissen kann … schon eine coole Idee.

Para-Rüd Kartheiser wird sich dazu entscheiden, die Marfa auf DEON umzustellen; weil, wenn nur so ein paar people auf Athos leben, ist DEON einfach die bessere Disposition. Unter DEON ist jedes Leben gleich wert! Und wenn es dann darauf ankommt, müssen die Menschen eben selbst entscheiden, was zu tun ist; und ob sich jemand opfert oder nicht … und dann alle darunter leiden; usw., und die Marfa wird jede Entscheidung akzeptieren. Müssen.

Die Frage ist, ob es genügt, dass Rüd das entscheidet. Denn es wird sich gezeigt haben, dass die Marfa ihre eigenen Vorstellungen hat.

Lesenswert.