Ein gordischer Knoten

Das Recht

Das Problem ist die Möglichkeit

 

Seit Ralph Nader wissen wir, dass das US-Recht seine Bürger vor Fehlern von Unternehmen schützt – wenn sich jemand darum kümmert, das gerichtsfest zu beweisen

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Seit Ralph Nader – besser noch seit Erin Brockovich [qtip:1|es gibt sie wirklich, Jg. 1960] wissen wir, dass das amerikanische Recht seine Bürger gegenüber fahrlässigen oder vorsätzlichen Fehlern von Unternehmen schützt – wenn sich jemand darum kümmert, das gerichtsfest zu beweisen. Gelingt es –, wie es Brockovich gegen Pacific Gas and Electric gelang, die daraufhin 333 Mio $ an Entschädigungen zahlen mussten, wir erinnern uns aber auch an Verfahren gegen die US-Tabakindustrie („Im Hauptpunkt verpflichtete sich die US-Tabakindustrie, den Klägern während 25 Jahren mehr als 200 Milliarden US-Dollar zu leisten“),  und schliesslich auch an die „Vergleiche“, auf die deutsche Autohersteller wegen ihrer Abgasmanipulationen eingehen mussten – gelingt es also, werden hohe und gelegentlich absurd hohe Entschädigungszahlungen fällig.

Well, sagt Murphy’s Law, shit happens.

Kluge und bewunderswerte Rechtsanwälte haben die US-Industrie mit ihren erfolgreichen Klagen – gegen überwiegend verachtenswürdige Unternehmenspraktiken, dass wir uns da nicht falsch verstehen – zu der Erkenntnis verholfen, dass sie, die Industrie, sich gegen derlei ruchlose Angriffe, von Anwälten, nur wehren kann, wenn sie jeden auch nur entfernt denkbaren Pups in die Gebrauchsanweisungen oder Nutzungsbedingungen von „allem“ hineinschreibt und davor warnt. Ist es möglich, ist es ein Problem. Und – wenn man schon mal dabei ist, Papier kost nix und ist geduldig, so kann man ja vorsorglich gleich noch alles mögliche andere dahineinschreiben, das einem sonst so am Herzen liegt.

Die NYTimes – die, nachdem ich den AGB zugestimmt habe, mir für 2 Euro im Monat die Nutzung ihrer WebSite erlaubt [qtip:2|die FAZ, zum Vergleich, gibt es nur mit Papier und kostet 45,90, mit Sonntagszeitung 48,90] – diese NYTimes also hat sich in einem Text des „Editorial Board“ mit den Auswüchsen dieser Praxis beschäftigt:

„The root problem is that consumers are simply outgunned. Because corporations and their lawyers know most consumers don’t have the time or wherewithal to study their new terms, which can stretch to 20,000 words — about the length of Shakespeare’s “Julius Caesar” …
A 2012 Carnegie Mellon study found that the average American would have to devote 76 work days just to read over tech companies’ policies. That number would probably be much higher today. …
… It is understandable, then, that companies may feel emboldened to insert terms that advantage them at their customers’ expense. That includes provisions that most consumers wouldn’t knowingly agree to: an inability to delete one’s own account, granting companies the right to claim credit for or alter their creative work, letting companies retain content even after a user deletes it, letting them gain access to a user’s full browsing history and giving them blanket indemnity. More often than not, there is a clause (including for The New York Times’s website) that the terms can be updated at any time without prior notice.“

Man müsste doch mit dem Klammerbeutel gepudert sein, solchen Terms of Use zuzustimmen! Nur: wir tun es, ich tu es – täglich. Kommt ein UpDate, kommt ein Request. Bei jeder neuen App, von denen ich – ich hab mal nachgezählt – derzeit 54 tatsächlich un//regelmässig nutze, muss ich kilometerlangen Agreements zustimmen, allein bei Apple x mal im Jahr. Einmal habe ich versucht, zu verstehen, was ich da akzeptiere. Mit den Apple AGB – damals für das OS 10.2 – hab ich mich einmal einen ganzen Tag lang beschäftigt. Dabei sind juristische Texte bereits für den native speaker schwer zu verstehen! Keine 14 Tage später gab es ein iTunes und dann noch ein Safari- und ein Sicherheits-UpDate hinterdrein: nee, nicht nochmal! Vermutlich steht eh dasgleiche drin, oder? Oder nicht?

Da ich meine Browser-History inzwischen drei mal die Woche lösche – selber Schuld! – muss ich den Terms of Use und dem Tracking und tonnenweise sogenannten „berechtigten Interessen“ – wer hat die berechtigt ?? – täglich an die 20 mal widersprechen, jedes Mal – mein Job ist Research – wenn ich eine WebSite neu aufrufe. Wir werden mit Millionen und Milliarden dieser „Zustimmungsaufforderungen“ belästigt. Immerhin: seit auch Linus Neumann im Logbuch Netzpolitik (Folge 377) darüber klagt, fühl ich mich nur noch halb so bescheuert.

Neulich hab ich gelesen, dass ich den Eiffelturm fotografieren darf. …
Bitte???. Die Erinnerung war schon etwas verblasst. Jetzt hab ich noch mal eben vier Nutzungsbedingungen bestätigt, um zu folgenden zwei Zitaten zu gelangen:

„Ja, ihr habt richtig gelesen, nicht jede Pariser Sehenswürdigkeit darf ohne Weiteres fotografiert werden. Einige von ihnen unterliegen bestimmten Bildrechten, die man kennen sollte, … Die Nutzung von Fotos vom Eiffelturm am Tag ist heutzutage urheberrechtsfrei. Für Aufnahmen vom Eiffelturm am Tag gibt es keinerlei Beschränkungen. …
Bei Nachtaufnahmen vom Eiffelturm sieht das allerdings schon etwas anders aus. Die Beleuchtung des Eiffelturms ist urheberrechtlich geschützt. Sie umfasst die Scheinwerfer, das Blinken zu jeder vollen Stunde nach Einbruch der Dunkelheit sowie die goldfarbene Beleuchtung am Abend.“

***

Wie simpel und sonnig muss das Zusammenleben der Menschen und der Völker gewesen sein, als Kaiser Justinian um 530 im sogenannten Codex Iustinianus – der in Wahrheit (©!) auf dessen quaestor sacri palatii Tribonian zurückgeht, aber das nur am Rande – , eine einheitliche Grundlage für Recht und Ordnung legen liess. Man kann sich noch heute ein Bild davon machen: das Werk ist in deutscher Sprache und für 38,65 auf Amazon verfügbar. Damals kam das Recht mit schlappen 1279 Seiten zurecht, allerdings muss man einräumen, dass seinerzeit weder Bildungsbeihilfen – wie im BAföG – noch europäische – wie im EuBeihilfR – zu regeln waren und auch Fragen des TelMediaR unterbelichtet blieben.

Das Deutsche Recht präsentiert sich sehr anschaulich in der Reihe „Beck-Texte im dtv“; spasseshalber hab ich die mal gelistet (–> Abb rechts). Die Reihe besteht aus 76 Gesetzestexten und Ordnungen, die im Durchschnitt je 750 Seiten umfassen; zusammen gut 57.000. Das Energie-Recht liegt mit 2116 Seiten vorn; ein veritables Wunder, wenn tatsächlich noch Strom aus der  Steckdose kommt. Noch das Nachbarschafts-Recht hat 271 Seiten; auch ein Wunder, wenn da mal nichts schief geht! Dass sich dagegen das Betreuungs-Recht mit 141 Seiten zufrieden gibt, ist vermutlich dem allgemeinen Pflegenotstand geschuldet – ich schätze, ab, sagen wir, 350 Seiten wäre der Beruf so risikoreich, dass sich gar niemand mehr dafür fände.

Die Formalisierung und Verrechtlichung unseres Alltags hat ein Ausmass erreicht, in dem der tägliche Umgang mit dem Alltag zum Problem geworden ist. Es scheint, dass im Allgemeinen wie auch im Speziellen ein rechts-konformes Leben eher unwahrscheinlich geworden ist. Ist das jetzt Fortschritt oder Wahnsinn? Vermutlich beides. In der Küche und im Leben gilt: getretener Quark wird breit, nicht stark. Hier wäre das aber noch zu prüfen: Es wäre ja in Summe OK, wenn sich das Leben durch unser schier überbordendes Rechtsverständnis verbesserte.

Dabei ist die wohl erste Frage, ob es denn überhaupt angewandt wird? DaStatis.de hält aussagekräftige Statistiken bereit: In Sachen Strafgerichtsbarkeit wurden (alle jetzt nachfolgenden Angaben beziehen sich auf 2019)          4 938 651 Verfahren in deutschen Gerichten abgeschlossen, in denen 728.900 Menschen verurteilt wurden.

Die übrige Gerichtsbarkeit hat – grob zusammengerechnet – 4.757.000 Verfahren (inkl. Altlasten) behandelt, von denen – das wäre jetzt der Verfahrensstau – knapp 1.785.000 nicht abgeschlossen wurden (Spitzenreiter bei den unerledigten Fällen sind Zivilsachen vor Amtsgerichten mit 550k, gefolgt von der Sozialgerichtsbarkeit mit 470k offenen Fällen; folgt die Familie 340k, dann die Verwaltung/Asyl 175k und die Verwaltung/allg. 104k; dann die Arbeit 110k und schliesslich die Finanzen: 35k). Ich muss gestehen, dass ich mir ob des Zusammenzählens unsicher bin: nämlich ob ich alle relevanten Statistiken gefunden habe und/oder ob es darin zu Überschneidungen kommt, … ich kann nur sagen: ich hab mich bemüht, aber eine Restunsicherheit bleibt. Die Statistik übrigens, der ich diese Zahlen entnehme, trägt die Überschrit: „1. Geschäftsentwicklung beim xxx-gericht“, wobei für xxx Finanzen oder Arbeit oder … einzusetzen ist.

Das Recht ist ein Business!

Offenbar korreliert das Verfahrensaufkommen mit der Regelungswut, die sich in den Beck-Texten spiegelt; ich vermute eine Kausalität! Offen bleibt, ob das Leben dadurch besser wird. Ich zweifle aus eigener Erfahrung, aber auch in der Übersicht. Rund 10 Mio Gerichtsverfahren jährlich – wo in etwa verliefe wohl die Grenze, jenseits derer eine erfolgreiche Rechtspflege in eine pathologische Streitwut umschlägt? Soll ja nicht heissen, dass ich das private Rechtsempfinden irgendeines Entscheiders oder die Willkür eines Potentaten bevorzugte, das wäre natürlich ein grobes Unverständnis. Es ist ja richtig, dass Dinge geregelt und, insofern, verlässlich sind. Doch wie so oft liegt irgendwo in der Quantität eine Schwelle, jenseits derer sie in Qualität umschlägt. Diese ins Saure umgeschlagene Qualität besteht darin, glaube ich, dass uns das Gefühl dafür abhanden kommt oder bereits verloren ist, was richtig und was falsch ist.