Ray Kurzweil schrieb Homo S@piens".

20 Jahre später

02-02-2019
 

1999 veröffentlichte Ray Kurzweil sein Buch „The Age of Spiritual Machines“ (dt.: Homo Sapiens, Köln 1999). Beim Research war es mir grad wieder untergekommen.

1999 – Der Klammeraffe war noch eine Nachricht.

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Vor 20 Jahren hatte ich über dieses Buch schon einmal nachgedacht. Und wie ich nun darin blättere und noch mal nachgelesen habe, was ich damals dazu schrieb, bin ich überrascht. Obwohl ich seit den 1980er Jahren und um 2000 auch beruflich wahrlich zu den Apologeten der Digitalisierung gehörte und als Evangelist der Zukunft huldigte, verspürte ich schon damals ein Grummeln in der Magengegend. Dass sich das bis heute zu einem Röhren und Brausen verstärkt hat, eigentlich eine logische Folge.

Kurzweil hat damals mit Verve und Vision die Stimmung der Zeit gleichermassen reflektiert und geprägt; reflektiert in der Zukunfts-freudigen technologischen Erwartungshaltung und geprägt mit seinen (streckenweise beinahe berauschenden) Vorhersagen. Das Buch wurde mit

begeisterter Skepsis

aufgenommen, genau sowas wollte man hören – glauben freilich wollte man das nicht unbedingt. Viel Fiction, die sich als Extrapolation der Science ausgab, hervorgegangen aber eben auch aus einer tiefen, breiten Kenntnis technologischer Forschungsstände und Potentiale. Der Grenzverlauf war … ungesichert.

Das Buch selbst teilt sich in einen „theoretischen“ und einen „praktischen“ Teil. In seinen theoretischen Darlegungen ging es Kurzweil darum, für die anschliessenden Vorhersagen seines praktischen Teiles die Grundlagen zu vermitteln: Wo, wie und warum sind die Behauptungen, die ich aufstellen werde, in der bestehenden wissenschaftlichen Diskussion begründet? So etwa könnte man die Konzeption des Buches beschreiben. 

Der eigentlich interessante und auch inspirierende Teil ist natürlich der zweite, praktische, in dem Kurzweil in vier Zeitsprüngen (2009, 2019, 2029 und 2099) Zukünfte entwirft, die er rubriziert (Computer, Bildung, Körperliche Behinderung, Kommunikation, Wirtschaft, Politik, Kunst, Militär, Gesundheit, Philosophie) und wiederkehrend prognostiziert. Diese Zeitsprünge werden jeweils von einem „Gespräch mit Molly“ abgeschlossen, einer dem Autor befreundeten Bekannten, die den Vorzug geniesst, jeweils schon in der beschriebenen Zeit zu leben und insofern Auskunft geben zu können. Das ist unterhaltsam.

Den meisten Lesern, die Kurzweil damals gelesen haben, werden vermutlich zwei, drei Fiktionen besonders in Erinnerung sein:

  • Molly hatte sich frühzeitig einen PDA zugelegt, einen Personal Digital Assitant (war es ein Newton? oder der Palm?, verschiedene Hersteller hatten sich in dem Thema versucht, bevor die Funktionen ins Smartphone migrierten) der ihr im Alltag mit allerlei Auskünften, Hilfestellungen und der Übernahme von Transaktionen zur Seite stand. Molly gab ihrem PDA einen Namen, George, wir Menschen tun sowas. Wenn ich es recht erinnere, war das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine aber doch eher ein gespanntes, zu Beginn waren da überwiegend Unzulänglichkeiten.
  • Bis 2019 hatten sich bei Kurzweil die Dinge rasant entwickelt: Mollys Neffe, so erfahren wir (ob wir das nun wissen wollen oder nicht), sei eine Cyber-Jungfrau, ein Mensch, der ausserhalb der Virtualität noch nie Sex gehabt habe. Naja, die Jugend, sie, Molly, in 2019, bevorzuge ganz entschieden das Reale; was ja in seiner Relativität nichts ausschlösse, ergänzt sie. Das sei auch auf Reisen sehr praktisch.
  • Um 2029 herum ist es nicht mehr die gleiche Welt: Im Volkszählungsprojekt seien ernsthafte Probleme aufgetreten, nachdem virtuelle Personen den Anspruch erhoben hätten, mitgezählt zu werden – ein eher technisches Problem, kein ethisches oder philosophisches. Denn virtuelle Personen hätten Neigung, sich mit anderen Virtuellen zu Multiplen zu vereinigen und auch wieder aufzulösen usw., das alles sei ein grosses Durcheinander. Hinzu kämen die Persönlichkeitssimulationen früherer oder lebender Orginal-Substrat-Menschen. Das Ganze kollidiere natürlich dann, andererseits, auch mit der traditionellen Rechtsprechung, die noch an eine Rechtsperson gebunden sei, usw.

Auch diese Probleme waren vorübergehend: Bis 2099 dann waren Molly und George in einer Entität verschmolzen

Wenngleich die Dialoge zwischen Molly und Ray immer ein wenig gestelzt daherkommen, ist das doch amüsant zu lesen – und es regt die Phantasie an. Nur mit der Realität, das sticht ins Auge, hat es nicht allzuviel zu tun. 

Und so geht es auch mit den rubrizierten Vorhersagen, die Kurzweil aus der Perspektive 1999 für wahrscheinlich hielt. Zwar kommt es immer wieder zu Überlagerungen, also zu Einzelmengen, in denen Kurzweils Prognosen ungefähr das tatsächlich Erreichte abbilden, mehrheitlich aber schiessen Kurzweils Vorstellungen grandios über de realen Entwicklungsstand hinaus. Für das Jahr 2019 hatte Kurzweil prognostiziert: „Die Menschen benutzen dreidimensionale Displays, die in ihre Brillen oder Kontaktlinsen eingebaut sind.“ Naja, Google Glass wurde 2015 eingestellt, vor allem auch, weil sich die Brille zu einem Arschloch-Attribut entwickelt hatte. Zudem gebe es holographische Displays mit einer Auflösung, die der menschlichen Sehschärfe entspreche und daher den Eindruck vermitteln könne, dass ein Gesprächspartner körperlich anwesend sei. „Das allumfassende taktile Environment steht nun überall in überzeugender Qualität zur Verfügung.“ – und könne nahezu jegliche körperliche Empfindung simulieren und stimulieren, darunter Druck, Feuchte, Textur und Temperatur. Die Interaktion mit dem Computer sei überwiegend optisch und akustisch – mit ein paar Rundungsungenauigkeiten könnte man das akzeptieren –, und Assistenten seien in der Regel Avatare. Gelernt würde überwiegend mithilfe „intelligenter, softwaregestützter simulierter Lehrer.“ Usw. Offenbar hatte der Zeitgeist 1999 eine

Sturmfrisur!

Was man Kurzweil zugute halten muss ist, dass sein Ausguck nicht an der Wirklichkeit vorbei, vielleicht nur über sie hinweg geträumt hatte; tatschlich ging es sehr viel langsamer voran. Nicht ausgeschlossen, dass sich in dieser Verlangsamung das Auslaufen des Moore’schen Gesetzes widerspiegelt. Auch ob es voran ging, auch das ist die Frage! Die von Kurzweil vorgestellten Ziele, Visionen und Erwartungen reflektieren eine Haltung, die versucht, die Unfähigkeit des Menschen zu überwinden, sich exponentielle Entwicklungen vorzustellen. Allein dieser Gedanke hatte mich damals ungeheuer beeindruckt – es fehlte ihm jedoch noch der „Gartner Hypecycle“, mit dem die überschiessenden Erwartungen sozusagen in einen Korrektur-Loop geschickt werden müssen. Die Diskussion der BlockChain etwa, soo viel hat sich nicht geändert, durchläuft derzeit gerade den Des-Illusionierungs-Abschwung …

 

A propos: dieses „soo viel hat sich nicht …“ wird uns noch auf die Füsse fallen. Nur mal so, als Prognose :-) Es ist ja unser Hirn, das da immer wieder auf die gleichen Tricks reinfällt; ein Apparat von nur noch mittlerer Qualität, wenn wir es einmal mit den Vorstellungen vergleichen, die wir uns von den Computern der Zukunft machen. Und so mag es durchaus dahin kommen, dass wir eines Tages lieber mit George verschmelzen, als weiterhin in „anthropozentrischer Mediävistik“ zu verharren. 

Und noch eins, by the way … denn das tönt schon wieder nach dem Positivismus, der heute doch wohl seinen tipping point hinter sich hat. Finden wir uns nicht bereits mitten in einem neuen Klassenkampf: Ingenieure verordnen dem Rest der Menschheit ihre Zukunft, unaufhaltbar und rücksichtslos, ohne Mandat; mit Demokratie hat das nichts zu tun. Ian Pearson, ein britischer Zukunftsforscher, hatte mich 2003 mit der Prognose überrascht, dass er eine Welle technologischer Reaktanz erwarte, sobald in einem breiten Publikum Klarheit darüber entstehen würde, was die Digitalisierung auslöst.

Ich hatte widersprochen, damals. Tja.