Winds of Change im

Nach der Wahl ist vor der Tat

 

Der Westen geht unter, und wir in ertrinken Mutlosigkeit und Selbstmitleid. Die Jahre des Klagens, Bedauerns und Zweifelns haben uns wenigstens eine klare und strahlende Gewissheit hinterlassen:
Die Lage ist scheisse.

Gut. Das wissen wir jetzt.

Winds of Change – (CC – COPERNICUS SENTINEL DATA / ESA CC BY-SA 3.0)

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Dieser Tage las ich in der NYTimes einen drastischen Kommentar von Bret Stephens:

„We are a country that could not keep a demagogue from the White House; could not stop an insurrectionist mob from storming the Capitol; could not win (or at least avoid losing) a war against a morally and technologically retrograde enemy; cannot conquer a disease for which there are safe and effective vaccines; and cannot bring itself to trust the government, the news media, the scientific establishment, the police or any other institution meant to operate for the common good.
A civilization “is born stoic and dies epicurean,” wrote historian Will Durant about the Babylonians. Our civilization was born optimistic and enlightened, at least by the standards of the day. Now it feels as if it’s fading into paranoid senility.“

Und wär es auch wahr, es hülfe ja nicht weiter.
Oder sagen wir so: den achso grossartigen USA ist das vielleicht noch eine Nachricht, der deutschen Griesgrähmigkeit muss das niemand mehr erklären. Der Westen geht unter, und wir in ertrinken Mutlosigkeit und Selbstmitleid. Die Jahre des Klagens, Bedauerns und Zweifelns haben uns wenigstens eine klare und strahlende Gewissheit hinterlassen:

Die Lage ist scheisse.
Gut. Das wissen wir jetzt.
Können wir jetzt einmal daran gehen, der Lage den Kampf anzusagen?

In der Regel halte ich Optimismus-Gerede für eine Form der Ignoranz, umso mehr, wenn es bei sorgfältiger Analyse dafür keinen Anlass gibt. Inzwischen aber erscheint mir der Katastrophismus – wenn auch sachlich begründet – hinderlich, wenn es gilt, dessen Ursachen zu bekämpfen.

Es stimmt, wir haben lange Jahre und Jahrzehnte gelebt, als gäbe es kein morgen; sorglos, dabei gerne moralisch korrekt und in steter Versicherung unseres guten Willens. Mit Birkenstock und Jutetüte hatten wir unser Schärflein beigetragen, es hat uns genügt. Diese selbstgenügsame Haltung der Realitätsverschattung, des Wegschauens und des sich in „kluge-Fragen-stellen“ zu bescheiden, diese Blase einmal aufzustechen und zum Platzen zu bringen, war nötig. Wer es bis dahin selbst nicht hinbekommen hatte, dem hat Greta Thunberg den letzten Anstoss gegeben. Gut und richtig.

Mit Einsicht und Aufklärung allein jedoch ist keine Kaffeetasse zu gewinnen; tatsächlich ist das nur eine Verlängerung des Status Quo ante.

Wenn es nun aber darum geht, den schlechten Ursachen den Garaus zu machen, braucht es Energie, erneuerbare, wenn möglich. Ein gutes Beispiel für den Umgang mit- und die Überwindung der selbstverschuldeten Jammerhaftigkeit ist – Überraschung! –

Annalena Baerbock

Sie flog hoch und verbrannte sich die Flügel. Sie stürzte hart und es gab allen Grund, ihre Lage für aussichtslos zu halten: ich selbst hatte sie abgeschrieben. Immerhin: Noch als das letzte Zitat das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, wusste ich doch auch, dass der Mensch mit seinen Aufgaben wächst. Und eines kann, nein, muss ich schon jetzt anerkennen: Frau Baerbock zeigt Nehmerqualitäten.
Ich bin noch immer unsicher, ob sie sich nicht selbst überschätzt. Andererseits:
Das muss sie doch! Sie muss – und sei es die Kanzlerschaft – es sich zutrauen, und das geht nur mit dem Mut zur Lücke; ja, wie denn sonst, soviel Realismus muss sein. In den Lücken der Frau Baerbock wohnt die Erfahrung, keine Frage, in den Lücken des Herrn Luschet wohnt die Politik selbst.

Gleich nach dem Spatenstich gibt es in der politischen Arena nur noch zwei Formen des Handelns: eine letzte, die darin besteht, Geld bewilligen, und eine erste: reden. Nur das Reden ermöglicht schliesslich auch das Bewilligen. Die brilliantesten Reden sind es nicht, die derzeit aus allen Kanälen und über die Marktplätze schallen, aber kämpferisch und energiegeladen: das muss ich anerkennen. Mag sein, Frau Baerbock zieht sich am Ende am Schopf aus dem Sumpf.

Mir ist, übrigens, diese Haltung auch lieber, als die Fortsetzung des Positivismus-Gelabers im Weichspülgang der guten Beispiele. Ich habe etwas gegen gute Beispiele; oder anders: sie zeitigen nur selten auch gute Wirkungen; mehrheitlich sind sie Opium für's Volk. Mit ihrer dunkle Seite werden sie zu keinem anderen Zweck eingesetzt, als Ängstlichkeit und schlechtes Gewissen zu sedieren, und am Ende ist ihre Botschaft: so schlimm wird es schon nicht kommen. Mir ist der Kampf lieber! Im Kampf herrscht die Überzeugung, dass etwas bekämpft werden muss; es ist die in Energie gewendete Anerkennung einer besorgniserregenden oder gar Gefahren annoncierenden Analyse.

Jetzt könnte man meinen, ich rede vom Wahlkampf.

Das ist nur halb richtig.
It’s not over til it’s over, klar, kämpfen bis zum Schluss:
Haltung ist ansteckend, alles richtig.

Doch der entscheidende Hinweis ist dieser: Tatkraft und Kampfbereitschaft braucht es vor allem NACH dem Wahlkampf und im Angesicht des Ergebnisses. Es wäre ja nicht damit getan, eine irgendwie ergrünte Regierung ins Amt zu bringen, der eigentliche Kampf beginnt DANN! Der Aufbruch in eine neue gesellschaftliche Verfassung kann erst dann kommen, nach der Wahl. Und der braucht ein „Gemeinschaft der Willigen, der Mutigen, der Einsichtigen“. Auch hier müssen wir die Sachverhalte ein wenig aufräumen!

Gerade wenn die Tatkraft ins Spiel kommt, stehen die Missverständnisse reihenweise am Spielfeldrand. Denn das „gute Beispiel“ kommt gern mit seinem falschen Freund daher: Wenn nur jeder vor seiner eigenen Haustür fegte.

Das aber – ist nicht politisch!

Selbstverständlich ist es richtig, wenn jeder vor seiner Haustür fegt – kein Wort dagegen!
Politisch, gesellschaftlich, strukturell …, was wirklich Not tut, … findet aber auf einer ganz anderen Ebene statt.

Wo es politisch wird, kann ich zufällig am eigenen „guten Beispiel“ erklären.

Mein Haus hat eine Klärgrube, es liegt abgelegen; die Abwasser münden in einen Bach. Im Jahr 2015 hat mich das Wasseramt dazu verdonnert, eine Abwasser-Reinigungsanlage für wirklich teures Geld in meine Klärgrube einzubauen; allein die Wartung – „geprüft, alles OK“ – kostet mich jährlich 400 Euro. Dass ich in dieser Angelegenheit mit gutem Beispiel voran gegangen wäre, kann man wirklich nicht sagen; ich habe es, zwar einsichtig, aber doch auch widerstrebend, immerhin letztendlich getan.
Politisch wird dieses „Beispiel“ fünf Kilometer südlich.
Dort nämlich mündet mein Bach in die Werra. Und eben dort, in eben diese Werra, entsorgt die Firma Kali+Salz Jahr für Jahr 1,3 Mio t Chlorid [siehe „Punktquellen“, Seite 4]. Kurz mal im Kopf gerechnet: seitdem mein Abwasser gereinigt wird und all die toxischen Bio-Kilos unserem Bach erspart bleiben, summiert sich die Salzlast der Fa. K+S auf rund 8 Mio t; abgesehen davon, dass die Firma zusätzlich Millionen Kubikmeter Salzlauge in den Untergrund verpresst und damit das Grundwasser gefährdet.

Das meine ich: politisch(!) und dann auch ein wirklich „gutes“ Beispiel wäre es, die Chlorid-Einträge in die Werra zu verhindern – und dann, danach, einmal bei den privaten Kleineinleitern nachzuschauen, ob man da nicht auch was verbessern könnte. Zufällig kenne ich dieses „Beispiel“ aus der eigenen Anschauung; aber es ist nur ein Platzhalter für die allgegenwärtigen politischen Placebos. Statt bei sich selbst anzufangen, sollten wir bei uns selbst aufhören, und dagegen habe ich keine Einwände! Erst die Braunkohlekraftwerke, dann die Kleinfeuerungsanlagen; erst die Konzerne besteuern, dann die Familien – erst die grossen Stellschrauben, dann die kleinen; und, bitte sehr, gerne auch gleichzeitig, solange man bei dem vielen Kleinkram den Grosskram nicht aus dem Auge verliert.

Zurück zum Kampf.

In dieser Wahl entscheiden wir, mehr noch als über diese oder jene Koalition, darüber, dass etwas passiert. Dass diese endlose Aneinanderreihung von Placebos endlich einmal umgekehrt wird, und die wirklichen, die grossen und politischen Baustellen angegangen werden – und, keine Sorge, Deine und meine kleinen Baustellen werden sie schon nicht vergessen. Übrigens merken die Parteien, die mit Mass und Mitte das Placebo-Management beherrschen, dass es um’s Ganze geht. Deswegen keilen sie.

Letzte Frage, Preisfrage: Wenn es nun nicht – oder eben nicht „nur" – darum ginge, das Kreuzchen an die grüne Stelle … und vor der eigenen Haustür … usw., von welchem Handeln ist dann hier die Rede? Gute Frage, ne?

 

 

 

Nur gut, dass der Armin nicht auf meinem Blog vorbeischaut. Das Jammern der Union klingt in meinen Ohren nach einem Requiem. Und das will ich jetzt doch mal in Ruhe bis zum Ende anhören.