Was Ivan sagt ...

... ist nicht alles richtig.

 

Ivan Krastev ist ein mitteleuropäischer Intellektueller, der seine Euroskepsis bereits an vielen Stellen ausgedrückt hat. Nun sieht er eine Chance, seine alten Thesen in neue Schläuche zu giessen.

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In der Zeit veröffentlicht er heute "7 Schlüsse aus der Coronavirus-Krise"; es sind Kurz-Schlüsse.

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Vieles von dem, was ist und was wird, ist das Ergebnis einer öffentlichen Herrichtung: die materielle Realität gibt es (= diesen oder jenen Standpunkt) nicht her, aber das mediale framing verändert die materielle Realität. In anderen Worten: Wir leben unter dem Primat medialer Befassung. Du musst irgendwas nur lange genug behaupten, allein der Plapper-Effekt des medialen Herdentums macht Deine Behauptung self-fulfilling.

Das ist natürlich sehr pauschal und von der argumentativen Klassifikation kaum von dem unterschieden, was ich oben behaupte. Im Einzelfall ist vieles weitaus differenzierter, auch in der medialen Abbildung. Sagen wir so: ich übertreibe zur Deutlichkeit hin.

Unter dieser Präambel betrachte ich jetzt die 7 Thesen Ivan Krastevs.

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  1. Die Stunde des Staates
    Das Virus, sagt Krastev, bringe den Staat „auf ganzer Linie“ zurück. Zunächst: Genuin ist die Finanzkrise 2008ff mit der Coronakrise heute unvergleichbar. Wenn die Systembanken in Schieflage geraten, ist das kein sozio-demografischer Sachverhalt, sondern ein administrativer. Die Gesellschaft ist „nur“ mittelbar betroffen. Und auch in der Finanzkrise war es „der Staat“, der mit Big Government-Entscheidungen die Mittel bereitgestellt hatte, die systemische Implosion zu vermeiden.

    Man könnte anders fragen: was wäre denn die Alternative? bürgerliche Selbsthilfe? Sollten (könnten) Bürgervereinigungen das Virus jagen? Was, bitte, ist denn Krastevs argumentative Qualität? Wenn die Autobahn repariert werden muss, ist das auch „die Stunde des Staates“. Der Staat verantwortet ein Paket von Gesellschaftsdientleistungen; (medizinische oder andere) Gefahrenabwehr gehört dazu. Im Bilde gesprochen: der Regenschirm hat eine Weile in der Ecke gestanden, weil die Sonne schien; das heisst aber doch nicht, dass (erst) mit seinem Einsatz bei Regen „die Stunde des Regenschirms“ gekommen wäre; und so ist es mit der Feuerwehr, der Polizei oder dem Katastrophenschutz. 

    Das Argument Krastevs macht Stimmung; sonst nichts.
     

  2. Stärkung des Nationalismus
    Das ist nun beinahe das gleiche Argument, und es ist nicht qualifizierter. Selbstverständlich werden Krisen subsidiär bewältigt, was denn sonst. SELBST wenn auf europäischer Ebene für einen (nie dagewesenen) Fall koordinatorische Vorsorge getroffen worden wäre, so entscheidet doch „die Lage vor Ort“ darüber, was und in welchem Umfang getan werden muss. 

    Hinzu kommen die Hürden der Koordination: Wenn keine prozessualen Verabredungen bestehen, müssen die regionalen Instanzen veranlassen, was getan werden soll. Da ist ja der Faktor Zeit im Spiel. Diese Massnahmen zunächst einmal sauber transnational zu verabreden, ist nur dann eine Option, wenn unterwegs keine Flurschäden anwachsen. Dass jetzt die nationalen Massnahmen unterschiedlich sind: so what? In einer vorbildlosen Situation kann es nicht anders sein. Nichts an den nationalen Entscheidungen ist deutsch, französisch oder chinesisch; vielmehr sind die Entscheidungen föderal geprägt, erratisch, zentralistisch oder diktatorisch etc..
     

  3. Experten seien in „wieder“ Mode
    Das Argument ist – in Zeiten der Gutachterkriege – beinahe lächerlich. Wieder zieht Krastev die Finanzkrise zum Vergleich heran, in der die Fehleinschätzungen der Experten zu einem grundsätzlichen Misstrauen geführt hätten. Wer heute die Pfauenkriege der Herren Drosten/Wieler vs. Kekulé verfolgt, kann zu keinem anderen Bild gelangen. Vorher wie nachher gilt aber doch: „Wen sollen wir denn sonst fragen?" Etwa Jürgen Klopp? Dorothee Bär? Claus Kleber? 

    Wenn Krastev sagt: „Professionalität ist wieder in Mode“, dann fragt man sich, was eigentlich war vorher? Was hat sich geändert? Auch wo die Experten unterschiedlicher Meinung sind, ist ihre Expertise doch „professionell“ – oder was!? 
     

  4. China siegt über USA
    Abgesehen davon, dass Krastev auch hier exekutive und adminstrative „Haltungen“ (MindSets, Gesellschaftsmodelle ...) unsinnigerweise nationalisiert, und auch abgesehen davon, dass in dieser Gegenüberstellung der „intellektuelle Faktor Trump“ unberücksichtigt bleibt – bezeichnet er doch einen qualitativen Punkt. Nämlich die Frage, welche Vorgehensweise, welches Paradigma einer Krise angemessen ist. Und da zeigt sich – jesses, was wäre daran neu – dass in der Krise demokratisches oder föderales Vorgehen ineffizienter ist (und das Rumgeeiere ins Abseits führt). Man kann es noch einfacher sagen: In der Krise herrscht das Primat des Handelns. Dabei kommt es zu Entscheidungen – und Fehlentscheidungen; schlimmer aber wären Diskussionen. Krastev sieht China als „Sieger“, die USA als Verlierer – als handelte es sich um Wettspiele – und legt damit nahe, dass er dem autorkratischen Handeln Chinas mindestens im Ergebnis zuneigt.

    Dazu hat Sascha Lobo auf SPON das zu Bedenkende gesagt (und er hätte 9/11 und die Homeland-Security zum Beleg anführen können): „Meiner Erfahrung nach sind dauerhafte Grundrechtseinschränkungen viel leichter durchsetzbar, wenn es Präzedenzfälle gibt. Und solche Einschränkungen sind Einbahnstraßen, es wird immer nur schärfer, aber fast nie lockerer. ... Was mit Corona gerechtfertigt wird, wird danach viel einfacher in viel milderen Fällen zu rechtfertigen sein.“
     

  5. Panik wird zum Freund
    Implizit steckt auch dieses Argument bereits im vorigen: auch Panik ist „autoritativ“, nämlich ein „imperativer“ Fluchtimpuls. Allerdings übersieht Krastev, dass jene Panik, die in der Finanzkrise „der Feind“ gewesen wäre und die jetzt „der Freund“ sei, SEHR unterschiedliche Zielgruppen adressiert: nämlich die „Panik der Märkte“ und die „Panik des Volkes“. Der Unterschied ist entscheidend: Während die Panik der Märkte selbst-erfüllend ist, ist die „Panik des Volkes“ sozusagen selbst-vermeidend.
     
  6. Ein neuer Generationenkonflikt
    In der Diskussion um Marc Saxers „Boomerbashing“ habe ich versucht, deutlich zu machen, dass das Generationenargument in etwa die gleiche Qualität hat wie: „Deutsche essen Sauerkraut“. Der analytisch entscheidende Punkt ist, in meinen Augen, dass die „eine Generation“ kein handelndes Subjekt ist, kein konsistentes Bewusstsein hat und ebenso der Gauss‘schen Verteilung unterliegt wie eine andere Generation. Der Unsinn dieses Argumentes liegt doch darin, zu unterstellen, dass in einem kollektiv-aufsummierten Handeln auch ein kollektiver Wille, ein Vorsatz zum Ausdruck käme. Das ist verführerisch, aber falsch: „Wer auf der A5 von Kassel nach Frankfurt unterwegs ist, will nach Süden.“ Eben nicht: Manche wollen nach Frankfurt, andere nach Düsseldorf oder Nürnberg. Nichts davon hat mit "Süden" zu tun, es sei denn bei jenen (weingen), die in den Winterurlaub unterwegs wären – und davon gibt's grad nicht so viele.. 

    Wer „Generationen“ gegenüberstellt verwechselt Korrelationen mit Ursachen und Wirkungen.
     

  7. Menschen oder Wirtschaft retten
    Welch dramatische Alternative – aber auch das ist argumentativ kurzatmig. Politisches Handeln geht immer um die Abwägung von Interessen; und, mit mehr oder mit weniger existentieller Dramatik, dabei geht es stets auf Leben und Tod. Wer heute den Shut down entscheidet, bekommt es morgen mit  den Selbstmordraten oder Kriminalitäten oder gesundheitlichen Ausfallerscheinungen oder häuslicher Gewalt jener zu tun, die durch diesen Shut down in die (Existenz-)Krise geraten sind. Umgekehrt genauso: wer den Shut down verhindert, zahlt die wirtschaftliche Kontinuität mit der Triage in den Krankenhäusern. 
     

Es ist natürlich immer einfacher, eine gegebene Position zu kritisieren, als eine eigene zu formulieren. Irgendwas zu sagen, macht aber auch keinen Sinn. Wenn ich genauer hinschaue, hat Ivan Krastev nicht wirklich zu einer qualifizierenden Meinungsbildung in dieser Krise beigetragen. Ich finde es ärgerlich, vor allem, weil Krastev mit seinen dumpfen Thesen eben nicht die Meinungsbildung befeuert, sondern das Raunen verstärkt. Und ich finde es ärgerlich, dass die Zeit dazu beiträgt. Meinungsbildung wäre: Einen Beitrag direkt dagegen zu stellen – und sei es: meinen.