Mal Vu, Mal Dit

Lanz und Precht

Pranzologen at Work

 

Am 12.7. war Richard David Precht zu Gast bei Markus Lanz. Schönes Bild: an den Schuhen kann man sie gut unterscheiden. Die Sendung erreichte 1,57 Mio Zuschauer und hatte damit eine Reichweite von 10,2 %.

Das Mütchen kühlen … bei sommerlichen Temperaturen

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Um 23 Uhr sind 1,5 Millionen Zuschauer nicht soo schlecht – zu anderer Gelegenheit hatte Markus Lanz auch schon mal 2,3 Mio und 20% Reichweite; also doch nur mittel. Immerhin: bei einem One-2-One muss man schon gewillt sein, dran zu bleiben: es ist kein im Hintergrund brabbelndes Nachmittags-TV. Auch der Gesprächsgegenstand reiht sich nicht gerade ins seichte Entertainment. Unwahrscheinlich, dass die Sendung auf die Mitte der Gauss’schen Verteilung zielt. Im Umkehrschluss, das ist jetzt spekulativ, kann aber doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit beanspruchen, versammelt Markus Lanz in etwa das, was Habermas einst die „raisonnierende Öffentlichkeit“ nannte – sagen wir: cum grano salis.

Das mag :-) dann auch rechtfertigen, die Sendung als „intellektuelles Spitzenformat“ zu qualifizieren. Abgesehen davon, dass anderwärts andere Meinungen zu Wort kommen – was, für sich genommen kein qualitatives Argument ist –, liefert das deutsche Fernsehen nur selten, und nur auf abgelegenen Sendeplätzen überhaupt, so etwas wie „Anspruch“.

Gestern, am 14.7. kommentierte Dirk Specht diese Sendung auf Facebook:

"Pranz ist das neue intellektuelle Spitzenformat im Fernsehen. Zwei Schwergewichte mit schwergewichtiger Mimik rattern schwergewichtig alle erdenklichen schwergewichtigen Themen runter und schaffen es erfolgreich, uns wissen zu lassen, dass aber auch gar kein Thema vor ihnen sicher ist. Mehr wissen wir danach natürlich nicht. Das ist aber offensichtlich auch nicht beabsichtigt."

In einem weiteren Kommentar dazu räumt Specht ein:

"Ich sage nicht, dass Precht falsche Aussagen tätigt. Das passiert ihm selten, denn er liest sich bis zu einer gewissen Tiefe in die Themen ein und versteht es hervorragend, kurz unter der Oberfläche gelesenes zu reproduzieren. Da ist also immer "was dran". Was es keineswegs darstellt, wäre eine Analyse. Diese Vielzahl von Themen in so kurzer Zeit ist intellektuelle Pornografie. Was Precht übrigens niemals leistet, ist eine eigene Leistung. Keine eigenen Ansätze, keine eigenen Ideen. Selbst seine Bücher, bei denen man das erwarten dürfte, sind stets Aggregate aus Drittquellen. Das disqualifiziert ihn als "Denker"."

Für seine Position erhielt bis Specht – ich hab grad noch mal nachgeschaut – 201-fache Zustimmung und fast 128 Kommentare. Sagen wir: Tausend Leser, lass es 2.000 sein, gegen 1,5 Mio. Zuschauer. Ich konstatiere das ohne falschen Zungenschlag, keine Häme! (Ich selbst komme in dieser Währung des Kanals nicht vor).

Worauf ich zunächst hinweisen will ist, dass der kommunikative Stil und auch das argumentative Spektrum mit der Grösse des adressierten Publikums korreliert. Publikum verändert, was jemand sagt, aber auch wie jemand was sagt. Auch in einer TV-Sendung lastet das Publikum – sowohl als Anspruch wie auch als Verantwortung – auf den gewählten Worten. Nicht zuletzt nennen wir ARD und ZDF staatstragend, weil sie nicht allein eine ausgesuchte Klientel bespielen, sondern „das Land als Ganzes.

Verantwortung allein rechtfertigt natürlich nicht, dass irgendwer dünne Luft verbreitet und – wie es Precht gern vorgehalten wird – herumlabert und -schwurbelt. Nur:

Das geschieht nicht.

Lanz und Precht haben, wie am Beginn der Sendung annonciert, über „das grosse Unbehagen“ gesprochen und über die „Angst, die uns am Ende doch packt“. Als Themenstellung ist das genügend breit, um den nachfolgenden Zug durch die Weltprobleme zu rechtfertigen. Und dann gehen sie – auch in einer einigermassen schlüssigen Reihenfolge – durch genau die Probleme, die jenes Unbehagen und auch die Angst evozieren: sozialer Abstieg / Kolonialismus + Globalisierung / Ökologie + Verzicht / Afrika + China / Ukraine + der Westen / Moral+Doppelmoral / Weltordnung / öffentliche und veröffentlichte Meinung / Demografie; wahrlich eine breite Themenpalette. 

Zunächst ein paar Worte zu Markus Lanz – er gilt gerne als gelackte Nebenfigur; das ist eine grobe Fehleinschätzung. Wie wenige andere im deutschen Fernsehen verfügt er über eine Geste und Tonlage, die andere zum Sprechen bringt, vielleicht sogar dahin, mehr zu sagen, als sie eigentlich vor hatten. Es ist ein Trick: Im Dialog spricht er und fragt und paraphrasiert, bis er unterbrochen wird, und lässt beinahe jede Unterbrechung zu – so provoziert er authentische Rede! Er will etwas in Erfahrung bringen, deswegen ist sein Nachfragen nicht hinterhältig, moralinsauer und polit-penetrant, wie bei Anne Will, sondern sachgerichtet, am kritischen Scheidepunkt orientiert. Das ist eine ausserordentliche Qualität! Und es ist eben nicht so, dass Lanz, als Moderator, im argumentativen Nichts wohnt. Immer wieder ist zu erkennen, dass er an vielen Stellen nicht die Meinung teilt, die ihm gerade vorgetragen wird: Er kennt zu viele und ist darüber zum Dialektiker geworden.

Aber auch wenn man den Sessel soweit zurückgeschoben hat, bis das Gesamtbild zu sehen ist – die kritischen Kommentare zielen doch eher auf Herrn Precht, überwiegend. Dirk Specht, und offenbar ist er damit nicht allein, hält ihn für einen Blender.

Nun habe ich seine bislang drei Bände Philosophiegeschichte gelesen und kann aus der Lektüre versichern, dass er in der Breite und in der Tiefe beschlagen ist. Richtig: das gilt nicht für alle sonstigen Themen gleichermassen, zu denen er sich äussert (das ist bei mir selbst übrigens nicht anders!). Allerdings, und das wiederum gilt ja für alle Fragen der Tagespolitik, werden wir erst in Jahren oder gar Jahrzehnten wissen, welche Position zu welcher Frage eine nachhaltige historische Gültigkeit erlangte: da mag jetzt die deutsche Ø-Haltung zu Bundeswehr und Pazifismus als Beispiel herhalten.

Ein anderer Vorwurf, der Precht gern gemacht wird, ist mangelnde Originalität und Kreativität. Soweit ich erkennen kann und zur Kenntnis genommen habe (ich habe kein Precht-Abo), ist der „Vorwurf“ nicht aus der Luft gegriffen. Noch aus meinem Studium weiss ich, dass die Mehrheit der Philosophen keine eigenen Ideen hat (beliebt ist dagegen, das immer Gleiche durch einen ganz eigenen Jargon zu verkleiden: Heidegger, Adorno, Sloterdijk); und ganz nebenbei gilt noch immer der Satz: es gibt nicht Neues unter der Sonne. Precht verortet die Welt in der Philosophie und ihrer Geschichte; zu einem eigenen Weltentwurf hat er es, nach meiner Kenntnis, noch nicht gebracht. Disqualifiziert ihn das? Wer bliebe dann? Wer dürfte noch sprechen?

Und noch eins: ob es praktisch weiterhülfe, den „ Probleme der Welt“ jetzt mit einem eigenen Weltentwurf begegnen zu wollen, steht dahin; ich rechne mit einem abschlägigen Bescheid. Was wir dagegen durchaus nutzen, sind Hilfestellungen bei der Einordnung dessen, was ist.

In der Sendung von Lanz hatten die beiden sich nicht vorgenommen, irgendein Problem zu lösen, im Gegenteil! Sie wollten zusammentragen, was eigentlich derzeit alles so beunruhigend ist. Dennoch kristallierte in der Sendung, die ich gesehen habe, EIN Thema aus allen anderen: Die Implosion des Westens. Man muss schon Europäer sein, um nicht zu schlucken, wenn die Regierungen der Mehrheit der Welt (die BRICS-Staaten repräsentieren mehr als 3 Milliarden Menschen) den Weg der westlichen Demokratien nicht teilen, ja, sogar für falsch halten. Das ist erschütternd. Ich habe den Eindruck, dass die meckernde Galerie diese Kern-Aussage entweder nicht gehört oder nicht verstanden hat. Precht und Lanz haben ein gemeinsames Verständnis davon, dass das Wertegerüst des Westens bröckelt, dass die Legitimationsgrundlage unserer Gesellschaftsverfassung in Frage steht. Das kann man, wenn man muss, überhören. Wer es gehört hat, sollte anerkennen, dass es, für die „staatstragenden Medien“ und an ein Publikum von 1,5 Millionen gerichtet, eine einigermaßen grenzwertig Position ist.

Daneben hatten auch eine Reihe anderer Bemerkungen das warmweiche TV-Format hinter sich gelassen, darunter Bigotterie des Mainstreams, die Kriege in – von Europa, Mitte, aus gesehen – etwas abgelegeneren Regionen schlicht zu ignorieren. Günther Anders hat darauf hingewiesen, dass die Zählung von Toten nicht als Vergleichsgrösse herhalten kann. Aber das Medienbeben, das der russische Überfall auf die Ukraine auslöst, steht in einem krassen Unverhältnis zu den Tagesnotizen zum Sudan, Südsudan, zum Darfur-Konflikt und überhaupt zu Afrika (und wo sonst wir nicht hinschauen). Unsere Moral ist sehr selektiv.

Ich rechne damit und unterstelle der „Pranz“-Kritikergemeinde, dass sie vermutlich NICHT gegen die von Lanz und Precht umrissenen Positionen antreten – und in der einen, die übrig bleibt, sind auch die beiden uneins. Denn die eigentliche Ursache, den Herren, und dabei vor allem Precht, kritischer zuzuhören, als es das Sendungsprotokoll hergibt, liegt, so darf man vermuten, in der Ukraine. Die meisten Feinde konnte Precht aktuell wohl mit seinem Appell zum Waffenstillstand gegen sich in Stellung bringen – und ich vermute, dass „der offene Brief“ auch hier den Kammerton auf die Ohren seiner Kritiker legt.

Wäre es keine „schwierige Frage“, und wären die Bewertungsgrundlagen gesichert(er), gingen die Wellen weniger hoch.

Wo genau liegt die Schwierigkeit?

In meiner Bewertung ist der Knackpunkt, dass man beiden Seiten nicht widersprechen kann: NATÜRLICH muss sich die Ukraine verteidigen (können) … aber ebenso NATÜRLICH erreicht der fortdauernde Krieg kein Ziel (der Kriegs“erfolg“ bemisst sich – auf beiden Seiten – in Tod und Zerstörung!). Precht fragt, was denn das eigentliche Kriegsziel sein könne? Sollten die Zahlen (20-30.000 Artilleriegeschosse täglich zu 600 ) nur in grober Annäherung stimmen (ich weiss nur, was berichtet wird!), könnten die Parolen über eine Gegenoffensive nur der Kampfmoral und den Verbündeten gelten, nicht aber der Realität. Lanz sagt: aber wir können die Menschen doch nicht einfach verrecken lassen. Ja. Stimmt. Eigentlich. Woanders können wir das (sagt Precht), aber er belässt sich nicht bei der Aufrechnung. Seine spitzeste Frage: Was eigentlich – und vor allem: wie viel – müsste der Westen liefern, um die russische Übermacht auszugleichen?

Es wären hunderte, wenn nicht tausende von Waffensystemen! Mit Blick auf den Einsatz der komplexen Technik, Munition, Ausbildung, Wartung: was unterschiede dann die Lieferung von einem Kriegseintritt?

Was mich jedoch am meisten irritiert, ist das „Moral“-Argument: Es gebietet, die Ukraine zu unterstützen – für den Einsatz GEGEN Tod und Zerstörung gilt es nicht? Vielleicht läge die intellektuelle Bruchkante ein paar Kilometer weiter östlich, wäre die Ukraine tatsächlich in der Lage, Russland konventionell Einhalt zu gebieten. Ich verfolge die verschiedenen Experten … und glaube es nicht: weder „konventionell“ noch „Einhalt“. Im Hintergrund dieses Moralkonfliktes lauert natürlich eine andere Frage. 

„Fordere nur, was Du auch durchsetzen kannst.“

Wir „Meinungsinhaber“ leiden doch alle an der gleichen Insuffizienz: Wir entscheiden nichts, wir werden nicht einmal gehört. Jetzt könnte man die Faust schütteln und ein entschiedenes „Aber hallo?!“ in den Raum rufen. Doch halt: in dieser Position kann man locker auch „alles“ fordern. Es kommt eh nicht drauf an. In anderen Worten: Wollen all die sozial-öffentlichen Scheingefechte auch nur ansatzweise zur Debatte beitragen, müssten sie ernsthaft und verantwortlich argumentieren. Dann müssen jene, die einen Waffenstillstand fordern, sich dafür verantwortlich erklären, dass der Aggressor seine Ernte einfährt (was so eine Verantwortung wöge, steht noch mal auf einem anderen Blatt). Aber auch jene, die für Waffenlieferungen sind, müssten sich eingestehen, dass sie selbst nicht bereit sind, die Waffen in die Hand zu nehmen. Das – nebenbei, aber eben doch nicht nebenbei: ziemlich teure – Bereitstellen von Waffen ist eine Ersatzhandlung, die die eigene Unwilligkeit, in den Konflikt einzugreifen, mit Solidaritätsgeheuchel kaschiert.

Machen wir uns doch nichts vor. In dem Moment, wo eine deutsche Mobilmachung ins Haus stünde, oder sei es auch nur eine „baltische“, wäre es plötzlich SEHR still in diesem Land! Bleiben wir konventionell: ginge denn die Solidarität mit der Ukraine soweit, Bomben auf München, Berlin, Frankfurt oder Hamburg billigend in Kauf zu nehmen? Die Bellizisten dieser Debatte erlitten Haltungsschäden, wenn es zum Schwur käme. Jede Wette: soweit ginge die Solidarität nicht. Precht und andere verweisen zu Recht darauf, dass es in der Ukraine nur Verlierer gibt; ukrainische zuerst und vor allem, aber natürlich auch russische – und schliesslich… Inflation, Getreide, Öl, Gas … in der ganzen Welt. Ich halte die Moralgeste der Pranzgemeinde für unangemessen.

Und auch das ist noch nicht das Ende der Argumentation!

Der Westen wackelt. Joe Manchin killt gerade die Präsidentschaft Joe Bidens. Die Türkei spielt zwischen Drohnenverkäufen und Nato-Erpressung ihre eigenen Spielchen. In Frankreich hat Macron seinen Rückhalt verloren und rutscht auf einer Abwärtsspirale. In Italien bricht gerade ein Eckstein des Euros heraus. In UK hinterlässt BoJo ein Land am Abgrund. In der EU betreiben Polen und Ungarn Obstruktionspolitik. Das eben noch bejubelte Erstarken der Nato sieht bei Lichte betrachtet eher aus wie der letzte lichte Tag eines Todgeweihten. Mit genügend Zynismus kann man prophezeien: ohne einen Krieg der Nato gegen Russland, läutet der Nato das Glöcklein. Denn wenn Donald Trump nicht vor Gericht kommt, wird er wieder Präsident; das überlebt die Nato nicht. 

Wem nicht bange ist um unsere Welt, der muss wohl die Augen geschlossen tragen. 

***

Ich will nicht ungerecht sein. Meine Position (oben) war sozusagen aus der Erinnerung, und dann aus der Hüfte. Also hab ich mir die Sendung nochmal angeschaut.

Unglaublich! Was ein engagiertes Gespräch, welch ein Mangel an vorformulierten Stanzen. Eine Tour de Force. Natürlich stimmt es, dass nicht jedes Problem, dass die beiden behandelt haben, tiefenscharf ausgeleuchtet wurde; wie denn auch! Nicht eine der angesprochenen Frage wäre in der Sendungszeit hinreichend vollständig abzuhandeln. Die Qualität aber besteht darin, das Wesentliche einer Problembeschreibung so zu kondensieren, dass der Bedeutungsraum die (unmögliche) Tiefe mittransportiert. Diese Qualität entsteht als Ergebnis von Wissen und Sprachbeherrschung. Den „Meinungen“ gingen die Analysen voraus!

Mal vu, mal dit

– so sagt Jean Luc Godard in, ich glaube, es war „Prénom Carmen“. Schlecht gesehen, schlecht gesagt. Ich finde das Urteil von Dirk Specht nicht nur falsch, es ist ungerecht, voreingenommen.

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Ja, ich stimme Ihnen zu. Haben Sie vielleicht auch die Lanz Sendung mit Joachim Gauck gesehen? Deren Gespräch hat mich noch mehr bereichert, auch da weniger Eitelkeit im Spiel war.

Karen Husemann

Gespeichert von admin23 am

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Nein, die habe ich nicht gesehen. Vielleicht steht sie noch in der Mediathek, ... ich setze sie mir mal auf die Agenda. Danke für den Hinweis!

IvD