Oft zu hören, dass die Meinungsfreiheit in Gefahr sei. Wo die Klage auftaucht, führt sie gern rechtspopulistische oder Verschwörungstheorien im Gepäck. Klar: DER Vorwurf ist bekanntermassen blanker Unsinn, denn die Öffentlichkeit wird mit eben solchen Behauptungen regelrecht geflutet (darunter die Klage um den Verlust der Meinungsfreiheit als nur eine von zahlreichen Absurditäten ist).
Meinungsfreiheit und Engagement
Precht, mal wieder, auch Thilo Bode
Du sollst nicht bei Dir selbst anfangen!
Mit gutem Gewissen auf dem Heimweg ...
„Über die Moral der Bundesrepublik in Berlin Mitte entschieden wurde und ganz Sachsen Anhalt keinen Beitrag dazu geleistet hat. Es gab, sozusagen, eine völlige Fokussierung des moralischen Fortschritts … und man konnte es nicht wirklich diskutieren, weil der so hochaufgeladene, moralisierende Diskurs mit Beschämung gearbeitet hat, und das ist eine wahsinnig wirkvolle Waffe, wenn man noch ein kleines Stück irgendwo abweicht von irgendwas, dann musste man eben mit shitstorms, cancel culture usw. rechnen – auch hier wieder: rechte Instrumentarien.” Richard David Precht
I.
Geflutet, die Flut – Ja, wo laufen sie denn? In den asozialen Medien, in der NZZ, in Cicero und natürlich in den Publikationen rechter Provenienz. Was die Meinungsfreiheit betrifft, so ist ihr damit genüge getan!
Fragen wir dagegen: wo laufen sie nicht? – so fallen uns durchaus eine Reihe von meinungsführende Medien, die sich standhaft weigern, diesem Meinungsspektrum als Platform zu dienen. Was die Meinungsfreiheit betrifft: auch das ist – grosso modo – OK; die dürfen das. Darüber hinaus gibt es Veranstaltungen, in denen rechten Positionen applaudiert wird und andere, wo deren Verdammnis auf der Tagesordnung steht. Was die Meinungsfreiheit betrifft: alles im grünen Bereich.
Aber. Wenn sich zwei Menschen mit diametral entgegengesetzten Positionen begegnen, so ist rasch Schluss mit der Freiheit, und zwar gleichgültig aus welchen Lagern die Antagonisten stammen. Mitunter gibt es Versuche, doch sobald das einleitende Geplänkel an die Reizwörter gerät, kommen Emotionen ins Spiel, Polemik, Hörverluste, Aggressionen, Tunnelähnliche Firewalls wölben sich über den Sprechern. WENN eine Diskussion um die Meinungsfreiheit geführt werden muss, dann hier, sozusagen „im wirklichen Leben”.
II.
Wieder einmal hat auch Richard David Precht seine Nase im Wind und stellt auf der Buchmesse sein neues Buch vor. Er spricht von den – ich habe das Buch nicht gelesen, weiss davon nur aus einer Rezension und einem Interview auf der Buchmesse – Dogmen und Unsagbarkeiten im linken und liberalen Diskurs, und seine Diagnose ist breiter angelegt. Im Interview – aus dem auch das einleitende Zitat (oben) stammt – sagt er:
„Je stärker ich mich individualisiere, desto intoleranter werde ich gegenüber anderen Meinungen und, vor allem, umso verletzlicher werde ich.”
Das ist die Wirkung, die Ursache sieht RDP nicht zuletzt in den Grünen:
„Es gibt, glaube ich, keine Partei, die so sehr bemüht war, einen gewissen Konformismus nach ihrem Gusto in der Politik einzuführen, …”
Und … so kam es, dass über die Moral in Berlin Mitte entschieden wurde.
Gegenstand der Klage dann war/ist … je nach Gelegenheit, die Sprache, die Wokeness, die Political Correctness. Alles richtig: aber es reicht noch nicht an den Kern des Geschehens.
Die blaming- und cancel culture ist, insoweit „politisch” überhaupt das richtige Attribut ist, vor allem reaktionär. Sie verlagert einen (mehr oder weniger) politisch konnotierten Sachverhalt in den Bereich ad hominem, nimmt ihn aus dem öffentlichen Raum und transferiert ihn ins Private, in einen Diskurs nämlich der intersubjektiven Machtausübung. Es ist schon erstaunlich, dass dieser Aspekt öffentlich ignoriert wird: nicht dieser oder jener Sachverhalt steht in Frage, sondern die relative Position des Sprechers zu einem anderen; Narzissmus, sozusagen zur Basis politischer Argumente. Wer blamed, dominiert den anderen, regiert, zumindest das Gespräch. Für dieses Blaming eignen sich allerlei Argumente und insbesondere Sprechtabus – selbstverständlich alles was Anzeichen von Rassismus aufweist, falsch geführte Gender-Debatten, unzureichende LBGTQ-Rücksichten, aber, sozusagen umgekehrt auch, beispielhaft, eine Kritik etwa an der Seenotrettung oder eine Kritik des Feminismus. Nicht hinhören, nicht argumentieren, sondern senden – und dann die Antenne abschalten bis zur nächsten Sendung. Bezeichnend die Aggressivität – als seien die „falschen” Argumente regelrecht Angriffe, Attacken auf das Gegenüber.
Während also die Meinungsfreiheit im Allgemeinen und Abstrakten ausser Frage steht, sind zugleich im Speziellen und Intersubjektiven Intoleranzen zweifellos diagnostizierbar, wenn nicht massiv; das Phänomen wird in Summe Polarisierung genannt: die Ritualisierung und Dogmatisierung der Sprechakte. Inhaltlich führt das in Regressionen, Stagnation zumindest, keinesfalls in eine Weiterentwicklung der Argumente/Positionen/Diskurse.
Was nun die Meinungsfreiheit betrifft: ich kann das hier aufschreiben, auf einer vom Mainstream weit abgelegenen Plattform, und keiner hindert mich daran, keine Strafverfolgung setzt ein, meine berufliche Existenz bleibt ungefährdet (Gnade mir, wenn so ein Post einmal aus Veersehen viral ginge). Es aber zu sagen, öffentlich, in einer Veranstaltung, es gar zu verteidigen, das macht einsam. Die Standardreaktion ist (beschämendes, siehe Precht) Schweigen.
Immerhin ist es aber nicht ein persönliches Befinden, um das es in der Frage geht, sondern das Ausbleiben eines politischen, strategischen, dialektischen Diskurses. Deswegen jetzt folgende Wendung – ein nur scheinbar
III. Ganz anderes Thema:
In Berlin stellte Thilo Bode sein Buch „Resist!” einem kleinen Publikum vor, eine intime, kleine Blase in den Räumen von „publix” , einem „Haus für Journalismus und Öffentlichkeit”. Das Buch, halb Bio, halb Appell, selbstkritischer Rückblick, Empfehlung „an die Jugend”, berichtet zunächst über Bodes Lebensweg: Entwicklungshelfer, Zwischenschritte in der Wirtschaft, dann lange Jahre Greenpeace-Chef und schliesslich Gründer von FoodWatch. Natürlich bewundere ich Thilo Bode als Person (und auch das Engagement sehr vieler anderer NGOs). Klagen allein reicht nicht, man muss etwas tun. Jede*r. Bodes Leben ist beeindruckend und paradigmatisch. Und seine Botschaft: Wirkliche Änderungen entstehen nur in Konflikten (nicht in freundlich-hoffnungsvollen Diskussionen), ist aller Ehren wert.
Dies gesagt habend zurück zu Meinungsfreiheit und Polarisation:
Nur halte ich dieses Engagement für falsch, wenn nicht für kontraproduktiv!
Bei einer solchen Kritik, zumal wenn sie die Dialektik der NGOs auffächern würde, wäre die Raumtemperatur in so einer Veranstaltung unmittelbar um 15 Grad abgesunken. Einerseits würde es als geradezu ehrenrührig beraunt, einem verdienten Klimakämpfer, der Thilo Bode zweifellos ist, die Lebensleistung abzusprechen. Andererseits erwartet das Publikum nicht – das in Teilen selbst in dieser oder jener Klimabewegung aktiv, dieser zumindest aber zugeneigt ist (wie sich im Publikumsgespräch zeigte) – im Windschatten einer solchen Kritik am Ende auch die eigene Motivlage in Frage gestellt zu bekommen.
Und überhaupt: was, bitte, ist denn falsch daran, sich zu engagieren? Tätig zu werden? Flagge zu zeigen?
Im ZEIT-PodCast sagt Mojib Latif, ein multi-renommierter Klimaforscher aus Kiel, er könne den Satz: „Man solle bei sich selbst anfangen“ nicht mehr hören, denn natürlich gehe es beim Klima um die systemische Dimension, an die der Einzelne nicht heranreicht (auch im Plural nicht).
IV.
So rede ich schon lange, und doch, das ist nicht genug.
Einerseits: Es sind Placebos, die Energie absaugen, die das eigene Gewissen beruhigen und vor allem davon ablenken, das nichts, gar nichts von den Erfolgen (wirklich stattgehabten – Brent Spar, FCKW, Atomausstieg, kein Widerspruch im Einzelnen!), die ich schätze und begrüsse, etwas daran geändert hat, dass seit 50 Jahren die Klimakatastrophe heranwächst – mit dem höchsten CO2-Eintrag in die Atmosphäre – jemals – im letzten Jahr. Seit (über) 50 Jahren bleiben diese Erfolge unterhalb des Problemhorizonts: ich war auf nahezu jedem Gründungsparteitag der Grünen und musste erleben, wie Robert Habeck (den ich ebenfalls schätze und streckenweise auch bewundere) beim Emir von Katar seinen Diener gemacht hat, um dort LNG einzukaufen – das schlechteste aller Erdgase – um die Versorgung unserer Wirtschaft sicherzustellen.
Das Tabu, das ich damit beklage ist, dass der linke und liberale Aktivismus, dass nichts von den Protesten und Aktionen – der Club of Rome nicht, die Grünen nicht, Greenpeace nicht, die Fridays nicht, die Strassenkleber nicht, … das System auch nur angekratzt hat. Generationen haben sich im guten Gewissen ihrer aufrechten Engagements eingekuschelt und haben aufgehört, politisch, strategisch, strukturell, systematisch zu denken (und zu handeln).
Und schlimmer noch: dass kein Erfolg – hier – etwas daran ändert, dass in China, Indien, Indonesien, Brasilien und in ganz Afrika die Klimakatastrophe mit Verkehr und Wohlstand, mit Kohlekraftwerken und Betonlandschaften, gefüttert wird, demgegenüber alles Engagement geradezu implodiert.
Andererseits spreche ich nicht gegen Engagement, sondern gegen das partikulare (und mehr noch das identitätsgetriebene) Engagement. Es ist mehr als klar, es pfeifen die Spatzen, so noch vorhanden, von den Dächern: wir haben es mit einer Systemkrise zu tun. Das Klima, die Digitalisierung, die Finanzindustrie, die Migration – ohne einen Systemwandel sind die drohenden Krisen nicht abzuwehren. „Eigentlich” weiss das jede*r, und tatsächlich ist es genau dieses Bewusstsein, das so atemlos macht und dem gegenüber viele sich lieber mit den kleinen Fragen beschäftigen, in denen möglicherweise, mit genügend Lautstärke und Durchhaltevermögen noch was zu ändern ist. Es IST Eskapismus, freilich, der ist besser auszuhalten als die Ohnmacht gegenüber dem System.
Das akzeptiere ich in der Regel auch, nicht aber von jenen, denen die Mittel zu Gebote stehen, in grösserem Rahmen zu denken.
V.
Und, noch eins: für den Rechtspopulismus und den drohenden Faschismus gilt die gleiche Anamnese. Mit Hoffnungen, dem persönlichen Engagement, den guten Wünschen ist dem nicht beizukommen. Diese politische Entwicklung speist sich aus den gleichen Energien, wie der genannte Eskapismus: in existentiellen, und, schlimmer noch, in Abstiegsängsten gefangen, blühen die Regressionen und die Sehnsucht nach den einfachen Antworten.
Es geht sogar, hier wie dort, um die beinahe gleiche, ausstehende Antwort: nenn es Narrativ, nenn es System, nenn es Vision, wenn der Gesellschaft kein Angebot für eine bessere (wenigstens keine schlechtere) Zukunft glaubwürdig erscheint, wendet sie sich ab in die Regression, in den Eskapismus, in den Populismus – und schliesslich muss es „der starke Mann” richten, und sei er eine Frau.
Auch auf dieser WebSite ist jetzt die Temperatur um 10 Grad gefallen.
Das ist das Problem der Linken.
Und wenn sie sich dem Problem nicht stellt, ist sie dazu verdammt, dem Lauf der Geschichte zuzuschauen. Um dann, nachher, wenn es denn ein Nachher gibt, wieder schlau und glasklar analytisch die Stirn in Falten zu legen.