Michael Seemann hat den ersten Teil eines Essays öffentlich (hier) gemacht, in dem es um „die Wahrheit“ geht. Insofern noch mehrere Teile dieses Essays ausstehen, lässt sich über den Gehalt seiner Überlegungen noch nichts Abschliessendes sagen.
Sag die Wahrheit
Das Problem mit der Objektivität
#MichaelSeemann
Was ist der Fall? Die Wahrheit ist alternativlos.
Allerdings stellt er seine Überlegungen unter ein Axiom, das im Widerspruch zu seinem Gegenstand steht (siehe Punkt 2 im Zitat unten). Er ist, wie wir lesen, an einer Diskussion seines paradoxen Angangs nicht interessiert, also berede ich das hier einmal ausführlich mit mir selbst.
Zitat:
„[…] Hier stellen sich viele Fragen: Warum kann eine aufgeklärte, plurale Medienöffentlichkeit selbst den dümmsten Lügen nichts Wirkungsvolles entgegensetzen? Warum muss Trump keine Angst haben, seine Anhänger/innen zu enttäuschen? Welche Kombination aus technisch-medialen und kulturell-sozialen Umstände mussten aufeinandertreffen, diese neue Situation herbeizuführen? Was ist Trumps Strategie, was ist sein Endgame (falls es das gibt)? Und was hat das alles mit dem Internet, dem Kontrollverlust, der Alt-Right-Bewegung und dem so genannten Dark Enlightenment zu tun?
In diesem mehrteiligen Essay versuche ich die Frage beantworten, wie es dazu hat kommen können. Im nächsten Teil, will ich mich mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit in der westlichen Hemisphäre durch das Internet beschäftigen.
An dieser Stelle muss zunächst einmal eine Definition – oder sagen wir – ein Bekenntnis – zur Wahrheit stehen, gerade, weil das heute nicht selbstverständlich ist. Ja, ich glaube an die Existenz von einer unserer Wahrnehmung und Interpretation unabhängigen Wahrheit. Diese Wahrheit ist mal mehr mal weniger gut durch wissenschaftliche und andere intersubjektive Methodik belegbar. Ihre Wahrhaftigkeit stützt sich einzig auf ihre Belegbarkeit und die dafür eingesetzte Methodik. Wenn eine Wahrheit belegbar ist, gilt sie so lange, bis sie widerlegt wird.
Ich will an dieser Stelle nicht in die Tiefen der Epistemologie abtauchen, denn das soll hier nicht das Thema sein. Wer sich für diese Fragen interessiert, wird hier nicht fündig. Wer eine andere Auffassung von Wahrheit hat, der möge bitte hier aufhören zu lesen und weiter klicken, ich bin an diesen Diskussionen nicht interessiert.“
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Schon die hier zitierte Passage von Michael Seemann weist darauf hin, dass die Wahrheit, von der Seemann redet, eine Machtfrage ist: ICH definiere sie, und wer diese Definition nicht teilt, möge anderwärts trollen gehen. Damit macht er nichts anderes, als im Namen einer „objektiven“ Wahrheit eine „alternative Wahrheit“ zu behaupten.
Ich verstehe, warum Seemann diese Diskussion nicht führen will: würde man sich drauf einlassen, entgleitet einem am Ende … alles (ich versuche am Ende zu zeigen, dass dieser Verdacht falsch ist). Wenn es aber, wie Seemann axiomatisch festlegt, eine objektive, beweisbare Wahrheit gäbe, so müsste diese zumindest einräumen, dass ihre Gültigkeit eingeschränkt ist.
Warum?
Erstens: zwei Personen können nicht dieselbe Anschauung von einer Sache haben. Wie sehr sie sich auch mühen wollten – die eine hat stets eine, und sei es minimal, verschobene Perspektive als die andere, und dieser Versatz kann und wird dazu beitragen, dass zwei im Zweifel etwas je anderes „sehen“/anschauen – und für wirklich nehmen. Wo sie sich auf etwas einigen wollten (und sie müssen, wollen sie nicht als Monaden in einem Kokon vegetieren), so müssen sie „verabreden“, was Wahrheit ist. Naturgemäss wird das umso schwerer, je mehr Menschen an einer solchen Verabredung beteiligt sind, und ebenso naturgemäss muss die Verabredung dann umso generischer ausfallen – und etwaige Abweichungen für inexistent erklären.
Zweitens: Von den Sachverhalten, die je mit streng wissenschaftlicher Perspektive als „objektiv“ anerkannt wurden, haben sich (wenn nicht die Mehrheit, so doch) signifikant viele auf dem Zeitstrahl als „falsch“ erwiesen. Ein Teil dieser Änderungen entstammt der „Natur der Sachverhalte“ (indem sie schlicht anders sind, als zuvor behauptet – Beispiel: die Welt ist eine Scheibe), ein anderer Teil entstammt der Tatsache, dass die Sachverhalte auf dem Zeitstrahl aus physikalischer „Notwendigkeit“ inkonsistent sind (Entropie, Quantenmechanik, Halbwertzeit … aber auch das anthropologische, also durch Menschen herbeigeführte Delta). Allein die „objektiv“ unabweisbare Tatsache, dass von „der Wahrheit“ je ein Teil grob daneben liegt, unterminiert das „Konzept Wahrheit“.
Drittens: Das Interesse entscheidet über die Wahrheit. Wer, wie Seemann, von einer dritten Instanz ausgeht, der „Objektivität“, führt gleichsam einen Gott ein, der im Zweifel entscheidet – und Gott ist, in diesem Fall, Seemann, der festlegt, was ist. Er ignoriert, dass zwei Menschen existentiell nicht dasselbe Interesse haben können (würde nicht das Interesse über die Wahrheit entscheiden, hätte das Subjekt – letztlich – nicht nur keine Existenzberechtigung, sondern müsste sich auch „darein schicken“ – „ich lege meine Seele in Gottes Hand …“ – … und bekanntlich entscheidet in dem Fall der Pabst).
Leider will Seemann diese Argumente nicht hören. Das wäre Wurscht, würde er nicht, in „all seinem Tun“, danach streben, Einfluss zu nehmen. In dem er einen politischen – also an die Öffentlichkeit gerichteten – Anspruch vertritt, müsste er (a: zumindest) zur Kenntnis nehmen und (b)„abwehren“, was seine Sicht bestreitet. Denn die Hürde, die er nehmen muss, ist politischer Natur: wie kann seine Diskussion relevant oder gar sinnstiftend werden, wenn sie in ihren Axiomen auf einer Fiktion aufsetzt?
Seemann versucht, das politische Interesse derjenigen „die die «Wahrheit» bestreiten“ dadurch zu negieren, stillzustellen, zu überwinden, dass er ihre (alternative) Wahrheit leugnet. DAS genau ist aber der Ursprung des Schismas. Es geht nicht um Wahrheit oder Unwahrheit, sondern um Interesse.
Was diese Diskussion aber vollends desavouiert, ist die Tatsache, dass die Diskussion über die Wahrheit (Deutungshoheit - that is) von der Diskussion über die Macht und ihrer Aus_Wirkungen ablenkt (vielleicht kommt er ja noch dahin!). In der Diskussion um die Wahrheit aber geht Seemann Trump auf den Leim, in dem er sich auf dessen Ablenkungsgefechte einlässt. Er missversteht das politische Kalkül, ein politisches Interesse einer (sehr) kleinen Gruppe dadurch (quasi) zu legitimieren, dass sie dieses Interesse „umfirmiert“ und behauptet, es sei das Interesse einer Mehrheit (die wiederum erst auf lange Sicht erkennen könnte ob, oder inwieweit, das stimmt).