Grosse Koalitionäre haben sich geeinigt

in der Präambel

 

Dankenswerterweise ist der Koalitionsvertrag durchnummeriert, Zeile für Zeile, es sind 8371. Lebten wir nicht in digitalen Zeiten, dass wäre ein ganz schöner Packen Papier, und als Leser hätten wir einen ersten Eindruck von einem soliden Stück Arbeit, das da vor uns gelegen hätte.

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Nun bewegen uns aber Fragen, z.B. die danach, ob auch etwas Brauchbares darin steht. Eine alte Weisheit besagt, dass Papier geduldig sei; und wie steht es damit bei einem pdf-Dokument?  Immerhin sind die Zeiten nicht nur digital, sondern auch beschleunigt; was gilt heute, was gilt morgen noch? Wird Frau Merkel die Strecke durchhalten? Wird Herr Schulz sein ramponiertes Image wenden können? Aber zunächst: Wird es überhaupt dazu kommen? Das Mitgliedervotum der SPD ist, man soll ja nicht unken aber, durchaus unsicher. Nun, meine Prognose: Parteien sind wie Orchester – es wird gespielt, was auf dem Pult liegt. Alles andere würde die SPD zu einer 10%-Partei abschmelzen, und das kann auch der aufrechteste Gang an die Abstimmungsurne nicht wollen.

Also gut: worüber sollen sie abstimmen?

In der Präambel– es sind ja nur zwei Seiten, aber gleich hier bin ich steckengeblieben – steht alles, was die Grossen Koalitionäre Wünschen und Wollen; lesen wir sie als eine Art Management Summary. Darin spiegeln sich die grundlegenden Haltungen des regierenden Personals, das MindSet, und ein paar Vorhaben werden in der obersten Abstraktion skizziert. Um an den Kern der Aussagen zu gelangen, ist es nötig, die positivistische Geste des Geschwafels, den Kammerton politischen Handelns, von der Oberfläche zu kratzen. Die Anstrengung tut Not, denn darunter zeigt sich die fundamentale Fehldisposition eines Personals, das die Zeichen der Zeit nicht erkennt.

Ein Koalitionsvertrag, ein Regierungsprogramm, das sind in der Tonlage schon sehr simpel gestrickte Literaturen.  Aber auch in diesen an die Galerie gerichteten Vorträgen gibt es grosse Unterschiede. Der Grosse Koalitionsvertrag hebt an: 

„Wir erleben neue politische Zeiten mit vielfältigen Herausforderungen für Deutschland – sowohl international als auch national. Deutschland ist weltweit ein anerkannter Partner, aber nur mit einem neuen Aufbruch für Europa wird Deutschland langfristig Frieden, Sicherheit und Wohlstand garantieren können. Die Europäische Union muss ihre Werte und ihr Wohlstandsversprechen bewahren und erneuern. Nur eine starke Europäische Union ist der Garant für eine Zukunft in Frieden, Sicherheit und Wohlstand.“

Möglicherweise ist der „Bürger draussen im Lande“ sprachlich weniger verwöhnt, intellektuell weniger anspruchsvoll; was mich betrifft, mein frischer Elan, mich mit der Materie auseinanderzusetzen, sackt schon während der ersten Zeilen in sich zusammen. 

Es ginge auch anders! 

 

Emmanuel Macron hat sein Regierungsprogramm auch an die Mitte seines Volkes adressiert, aber es tönt wie aus einer anderen Welt:

« Mon contrat avec la Nation » 

[Mein Vertrag mit der Nation] heisst es da, und hier zeigen die ersten Paragraphen doch ein anderes Verständnis von der Welt:

„Seit mehr als 30 Jahren ist es uns nicht gelungen, das Problem der Massenarbeitslosigkeit oder der Integration zu lösen.
Radikale neue Transformationen verändern unser Leben und unsere Gewissheiten. Die digitale Revolution verändert die Art und Weise, wie wir produzieren, konsumieren und zusammenleben.

Der Klimawandel zwingt uns, unsere Organisation und unseren Lebensstil zu überdenken. Die neue Weltordnung erlegt uns einen dschihadistischen Terrorismus auf, der unser Land in den letzten Jahren heimgesucht hat, während autoritäre Regionalmächte entstehen und unser amerikanischer Verbündeter die Grundlagen seiner Diplomatie zu revidieren scheint.

Aber der Rückzug auf uns selbst, die Weigerung, die Welt so zu sehen, wie sie ist, oder der Wunsch, Frankreich trotz allem umzudrehen, sind keine Lösungen. Er ignoriert seine stärksten Impulse und die Bedeutung unseres Schicksals. Das Projekt, das ich Ihnen vorschlage, besteht darin, mit Ihnen ein neues Frankreich zu errichten, das innoviert, sucht, schafft und lebt, ein Frankreich des erneuerten Wohlstands und des Fortschritts für alle. Das einmal mehr die Speerspitze eines europäischen Projekts sein wird, das ihm ähnelt. Ein Frankreich, das befreit, um nicht länger durch überholte Regeln blockiert zu werden. Und gleichzeitig ein Frankreich, das die Ungerechtigkeiten des Anfangs repariert und jeden Bürger schützt, um ihm zu ermöglichen, im Leben erfolgreich zu sein.“ [qtip:(1)|siehe dazu: storage.googleapis.com/en-marche-fr/COMMUNICATION/Programme-Emmanuel-Macron.pdf], [qtip:(2)|Die Übersetzung (von Deepl.com) ist vielleicht nicht bis ins letzte Komma überzeugend, aber es wird schon klar, wie Macron mit seinem Land spricht] 

Fronkreisch, Fronkreisch!

– zurück zu den Gartenzwergen und ihren Zipfelmützen.

„Unser Ziel ist ein nachhaltiges und inklusives Wachstum, dessen Erträge allen … und die Chancen der Digitalisierung nutzen.“ [Zeile 14-16]
Da fangen die Probleme schon an. Das zentrale Plaungsversagen in der Klimapolitik braucht eine ausführlichere Betrachtung, aber schon hier wird klar, dass unsere Regierung das letzte Jahrhundert verwaltet. Das unreflektierte, ungebrochene und in keinem Aspekt Problem-bewusste Wachstumsgebet ist, das ist der Stand heute, mit irgendeiner Interpretation von Nachhaltigkeit nicht unvereinbar. Die beiden Begriffe in einem Satz zusammenzuzwingen, macht soviel Sinn wie die „unbefleckte Empfängnis“. 

Anders, wenn auch ähnlich, verhält es sich mit der Digitalisierung. Sie ist längst keine Chance mehr, das hat das Land verschlafen, sie ist eine Notwendigkeit und eine Gefahr. Natürlich muss sich regierendes Handeln an der Notwendigkeit orientieren, nur weiss jeder, der die Augen offen trägt, dass die stattfindenden und anstehenden Disruptionen grosse gesellschaftliche Verwerfungen erzeugen und, wenn sie ungeregelt über uns hereinbrechen, die Grundlagen unseres Lebens und Zusammenlebens in Frage stellen. Ein Koalitionsvertrag, der diese immense Anspannung mit Chancengeplapper zu ignorieren versucht, wird seiner strategischen Fürsorgepflicht für dieses Land nicht gerecht. 

In diesem grundfalschen Verständnis geht es weiter. 

Die Menschen suchen nach „Sicherheit im Alltag, Bewahrung der kulturellen Identität, Stabilität, einem guten Miteinander und einer gestaltenden Politik, die Menschen auf Augenhöhe zusammenbringt.“ Nichts davon kann die Politik gewährleisten, weder Sicherheit, noch Identität, noch Stabilität, noch Miteinander – und ich frage mich, ob es die Aufgabe einer „gestaltenden Politik“ ist „die Menschen auf Augenhöhe“ zusammenzubringen oder, wie es im nächsten Absatz heisst, „die Probleme anpacken, welche die Menschen in ihrem Alltag bewegen,  …“

Was ist die Aufgabe der Politik?

Selbstverständlich sind die genannten Bedarfe politisch und wenn auch nicht im materiellen Sinne von der Politik zu gewährleisten so doch im Sinne der „Bedingungen der Möglichkeit“ anzustreben. Allerdings gilt das Subsidiaritätsprinzip und danach sind es – nach meinem Verständnis – überwiegend Aufgaben der Landes- und Kommunal-, nicht der Bundespolitik. Abgesehen von der hermeneutischen Falle, dass jene, die auf Augenhöhe „gehoben“(?) oder angesprochen werden sollen, sich dort de facto oder eben „gemäss“ dieser verräterischen Zuweisung nicht befinden, frage ich mich, ob die Bundespolitik Probleme anfassen möge, die die Menschen in ihrem Alltag bewegen? Eher nicht! 

Ich erwarte von der Bundespolitik, dass sie die Belange des Staates adressiert, die Europa- und Aussenpolitik, die Infrastruktur, die Verteidigung (und, bitte sehr, auch bundespolizeiliche Sicherheitsfragen, die ich jedoch gegenüber den landespolizeilichen Anforderungen eher als marginal ansehe), die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen … – und das geschieht ja auch auf den folgenden 174 Seiten – ich stosse mich daran, in der Präambel das falsche MindSet zu dechiffrieren, mit dem die später beschriebenen Aufgaben und Pläne a priori kontaminiert sind.

In Zeile 51 steht wieder so ein Klops: „Unser gemeinsames Ziel ist Vollbeschäftigung in Deutschland.“ um dann „Arbeit und Leben“ miteinander auszusöhnen und die “sozialen Sicherungssystemen zu modernsieren“ – „…verbessern und an veränderte Rahmenbedingungen anpassen …“ – als wenn das dasselbe wäre. 

Im Gegenteil: die Rentenerwartung steht unter dem Damoklesschwert der Bevölkerungsentwicklung, die Grundsicherung gerät mit anhaltenden Migrationsbewegungen in Verteilungskonflikte, aber auch die Kranken- und Pflegeversicherung ist von der Erwerbsarbeit abhängig. Und die steht „zunehmend“ in Frage. Sind wir aber beruhigt: [Zeile 66] „Den digitalen Wandel von Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft werden wir so gestalten, dass alle davon profitieren.“ Ah ja. Wie schon in der bisher bewährten Manier bekommen die einen das Gold (die Daten) und die anderen ein paar Glasmurmeln. Beim Kopfschütteln wäre nun beinahe die "Vollbeschäftigung" unter den Tisch gerutscht; vielleicht hätte man doch einmal eine AI den Text überarbeiten lassen, nur um den gröbsten Unsinn zu vermeiden.  

Insgesamt ist unsere kommende Regierung lösungsorientiert! Mit der Steuerung der Migration wird man den Fachkräftemangel „beantworten“ und mit einem international grösseren Beitrag nimmt man sich vor, „weltweit zu besseren Lebensbedingungen beizutragen, …“ Wer keine Arbeit hat, der macht sich welche. 

OK. Mal halb lang. Nach zwei Seiten Präambel kommen 174 Seiten Details, also bitte. Das stimmt schon, und die will ich wohl auch noch lesen. Es war nur eben so, dass mir nach dieser Präambel (bis fast in ihre letzte Zeile) hinein Angst und Bange geworden war! Doch dann, die Erlösung: „Wir wollen eine stabile und handlungsfähige Regierung bilden, die das Richtige tut.“ Na, Gott sei Dank!