Über das Re-Kalibrieren

Geplapper, Gerede, Diskurs

Unboxing Berlin

 

Der Morgen danach – leichte Katerstimmung. Aber komm: reiss Dich zusammen!

Ja, wo laufen sie? Wo laufen sie denn ... ?

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Nehmen wir das Dorf:

Die Hauptstrasse ist leer, gelegentlich rauscht ein fremdes Kennzeichen durch den Ort. Doch, schon: auch das Dorf hat seine rush hour (was Wunder, wenn vor jeder Datsche zwei Autos parken, mindestens), der Bus karrt die Kids zur Schule, zum Schichtwechsel gibt es schon mal so etwas wie Verkehr. Aber sonst: KaaBeeVau, nix los! Legt man eine Gauss’sche Kurve über das Dorf, zeigt sich die übliche Glockenverteilung (Bildung/Einkommen/Präferenzen …). In der Mitte ist die Verteilung zählbar, zu den Rändern hin wird es dünn. Mit den Rändern macht das was.
In der Stadt, und mehr noch in der Millionenstadt ist das anders: Verkehr ist immer! Aufregung ist immer. Sensation ist Alltag. Natürlich, das liegt an der Definition, zeigt die Kurve die gleiche Verteilung, doch an den Rändern wird die Quantität zur Qualität: aus dem Zählbaren erwächst eine eigene Dimension; da sind „viele“! Statistisch verfälschend mag hinzu kommen, dass die Metropole über magnetische Kräfte verfügt. Gerade WEIL die Ränder nicht aus nur marginalen Restmengen bestehen, sondern regelrecht eigene Communities ausbilden, entwickeln sie auch eine Anziehungskraft auf Ihresgleichen, ihre Sogwirkung geht über Land, über die Länder sogar. Mag also sein, dass die Glockenkurve ein wenig aus der Form gerät. Zur Qualität hinzu kommt: WEIL sich die Ränder zu ganzen Communities formieren, entwickeln sie auch ihre Sprechfähigkeit. Wo auf dem Land Scham oder Peinlichkeiten dafür sorgen, dass die Ausnahmen von der Mitte eher die Klappe halten, um sich den Sanktionen und auch Repressionen der Gruppe zu entziehen (die „Schande“, die ein spät konvertierender Transmensch über seine Kinder und seine ganze Familie bringt, ist geradezu existentiell!), sind die Communities der Metropolen gross und stark genug, Selbstbewusstsein zu befördern; mitunter bis zur Penetranz. So etwa sind Berliner Radfahrer – als Beispiel weniger riskant … – von einer geradezu brutalen Rücksichtslosigkeit, Regeln? Nicht für sie! Von Vorsicht oder Zurückhaltung keine Spur, gerne mit lautstarken Zurechtweisungen nach links und rechts; … und es sind viele.

Politisch verhält es sich sehr ähnlich. 

Während eine sehr an der Mitte orientierte SPD-Abgeordnete aus Cottbus (Maja Wallstein), schon mal erklärt, in ihrem Wahlkreis als linksextrem angesehen zu werden, differenziert sich das Spektrum der tatsächlich Linken in Berlin – wie dunnemals die K-Gruppen – in ungezählte Fraktionen und Fraktiönchen, Schreibtischsozialisten darunter, oder Polizeigewalt-/Rassismus-Betroffene, Palästinenser-Unterstützer bis hin zu ungezählten Identitäts-Gruppierungen. Wer auf dem Dorf (möglicherweise) gelernt hat, dass jede mit jedem irgendwie zusammenhängt, muss sich in der Metropole (neuerlich?) mit streng sektiererischen Parallelwelten auseinandersetzen, die in einem Thema eine Sicht vertreten und darauf die Welt reduzieren. In dem Gewusel der Feinheiten Orientierung zu finden, wird zur Herausforderung, zumal eine „irgendwie holistische Sicht auf die Probleme der Welt" an den Korsagen der insofern singulär konditionierten Analysen abprallt wie eine Billardkugel von der Bande: es bleibt keine Spur zurück. Maja Wallstein sagt, sie bemühe sich um eine Haltung, nach der ihr Gegenüber vielleicht Recht haben könnte – sie bleibt damit die Ausnahme.

Vor dieser politischen Gemengelage – sie erinnert mich an meine Verwirrung zu Studienbeginn – geht es mir also um die Kalibrierung (oder Re-Kalibrierung) meiner Weltsicht(en). Ich suche und besuche die Manifestationen der verschiedenen Milieus, jede Menge Veranstaltungen, Buchvorstellungen, Präsentationen, Diskussionen … . Hier – geht es nun nicht (weniger) darum, Inhalte zu rekapitulieren (etwa um Abwesenden eine Art Protokoll an die Hand zu geben), sondern die Besonderheiten auf der Metaebene festzuhalten: Welche Art Diskurs ist hier zu beobachten, wo scheinen mir „typische Blindstellen“ auffällig oder, anders gesagt, die ideologischen Beugungen der behandelten Gegenstände. Oder haben die – oder irgendwer – vielleicht Recht?

Creative Construction

Schon eine Weile zurück liegt der Besuch einer Buchvorstellung „Creative Construction“, herausgegeben von Jan Gross und Christoph Sorg. Über Jan Gross ist vorab zu erwähnen, dass er den PodCast „Future Histories“ betreibt, in dem sich, das ist jetzt eine grobe Zusammenfassung mit der Tendenz zur Ungerechtigkeit, überwiegend solche Denker zum Gespräch einfinden, die in einem akademisch Theorie-lastigen Diskurs der Wiederbelebung irgendwie sozialistischer Planung das Wort reden. Plus/minus: die woke Themenpalette. Der überaus freundliche Umgangston und die sympathische, noch im Widerspruch lächelnde Stimme des Jan Gross können nicht darüber hinweg täuschen, dass die annoncierte „Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft“ hier in einem engen, um nicht zu sagen politisch korrekten Umfeld vorgetragen wird, in dem sich die Realität nur in Fussnoten wiederfindet. 
Die zwei deutschsprachigen(!) Autoren stellen – in Berlin – ein Buch vor, dessen Erstveröffentlichung in der Bristol University Press und in englisch stattfindet. Komisch, der Vorgang ist nicht gerade selbsterklärend. Jan Gross, das hat er in seinem PodCast hinlänglich belegt, bewegt sich im Englischen eloquent und nahezu akzentfrei; man darf ihm also keine „Sprach.Huberei“ unterstellen. Ich selbst propagiere das Englische als lingua franca; allerdings werde ich immer dann grantig, wenn irgendwelche native-speaking chauvinists (z.B. kultur-migrantisches Personal, wie in Kreuzberger Cafés etwa) nicht den Hauch einer Anstrengung unternehmen, sich ihrerseits sprachlich anzupassen (jeder Syrer, Afghane oder Westafrikaner soll „gefälligst“  Deutsch lernen, nur Amerikaner wähnen sich exkulpiert). Doch im Fall Gross liegt die Sache anders. Gegenstand des Buches ist (u.a.) eine demokratische Planung, die Frage der gesellschaftlichen Transformation, die geplante Schrumpfung der Ökonomie, der Sozialismus usw., in Summe also demokratisch-politische Anstösse, die ohne ein Volk schlicht im luftleeren Raum verpuffen. Einem deutschen Publikum also eine englische Publikation vorzulegen – um damit politischen Einfluss nehmen zu wollen, ist an Ignoranz und akademischer Arroganz kaum zu toppen. Oder doch: wenn nämlich wesentliche Aspekte dieses Diskurses in besonders umausgeleuchteten Themenräumen stattfinden (etwa: „Socialism, Planning and the Relativity of Dirt“ Nancy Fraser in Conversation with Christoph Sorg – oder – „Post-Sovereign Planning? Nature, Culture and Care in the New Socialist Calculation Debate“). In einem halben Jahr, so wurde gesagt, soll es eine deutsche Übersetzung geben! Mich – macht das sprachlos (deutsche Autoren! Und DeepL würde helfen, zur Not!). Mich macht aber auch sprachlos, dass es im Publikum dieses Abends (immerhin etwa 100 Menschen) nicht eine kritische Stimme gab, die dieser Verstiegenheit zurück auf den Boden verhalf.

Zurück zur Wirklichkeit

Meine nächste Erfahrung – jetzt glaubte ich mich in „heimischen Gewässern“ – war eine Buchvorstellung mit Claus Leggewie und Dany Cohn-Bendit. „Zurück zur Wirklichkeit“ heisst ihr Buch, und das klang in meinen Ohren zumindest mal nach dem nötigen Kammerton. Auch in diesen Abend ragte schon vor Beginn ein gewisses Befremden: 22,35 € ebneten den Weg in die überaus engen Sitzreihen des Berliner Pfefferberg-Theaters. Dass der Zutritt zu Veranstaltungen der „raisonnierenden Öffentlichkeit“ mit Eintrittsgeldern bewehrt ist, sozusagen die Gentrifizierung des politischen Diskurses, scheint inzwischen die Regel; ich war es nicht gewöhnt! Dass es sich hier im Kern aber eigentlich um die Werbeveranstaltung eines Verlages handelt, der auf diesem Weg den Absatz des Produktes zu befördern hofft, befördert die Zahlung ins Degoutante. Mindestens genauso befremdlich war dann die Tatsache, dass die Moderatorin, nachdem sie die Autoren durch ihren Sprechzettel geführt hatte, die Veranstaltung schlicht beendete. Keine Fragen, keine Diskussion, wozu eigentlich Publikum? 

Soweit, wie gesagt, die Girlanden, die die Veranstaltung gerahmt hatten. Inhaltlich, naja. Wenn Cohn-Bendit auf dem Podium sitzt, endet der Abend in Israel. Wohlverstanden: Nicht, dass dem keine Dringlichkeit innewohnt – und ich teile Cohns Haltung! –  besonders überzeugend erscheint mir – anstelle der Zwei-Staaten-Lösung – die Losung „Israel IN Palästina“. Aber ist das die versprochene Rückkehr in die Wirklichkeit? Wieder der Nationalsozialismus, wieder die 68er, … hier sprachen Claus Leggewie, ein ausgewiesener Frankreich-Freund und -Kenner, und Dany Cohn-Bendit, politisch ein, wenn nicht „das“ deutsch-französische Scharnier – und von Europa an diesem Abend KEIN Wort ?! Allerdings war die Rede von der Freiheit – und dass die Freiheit in der deutschsprachigen Debatte – anders als in der französischen! – keine Rolle spiele, gar nicht vorkomme; das wurde beklagt. Wenn es um die „Freiheit von“ geht (Repression, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, etc.), keine Frage: die gehört immer auf den Tisch. Conditio sine qua non. Doch hat die Freiheit auch eine Downside, die „Freiheit zu“, und sie ist das Movens des Kapitalismus. Nicht nur! In ihren permissiven Ausfransungen hat sie schon viele krumme Blüten getragen. Dass die „Propaganda der Freiheit“ ohne eine dialektische Diskussion (auch) die Mehrheit der Missstände der Welt evoziert (Fake News, Waffenbesitz, Formel 1, asoziale Medien …)  und die Katastrophen, zumal des Klimas, befördert – keine Rede davon. Um die Wahrheit zu sagen: Leggewie und Cohn, das sind „meine Leute“, sozusagen; dass sie mehr zurück, als nach vorn blicken, ihren Blick auf ein paar  „letzte Worte“ verengen, sich auf  schwarz-weisse Simplifizierung und Freiheitsgesumse verlegen, enttäuscht mich, irritiert mich.

Real World Impact

Die nächste Buchvorstellung, „Real World Impact“ von Christoph Bornschein & Sebastian Cleemann, ist mir kaum in Erinnerung geblieben. Der Moderator hatte ein kleines Publikumsspiel vorbereitet; wer im Gespräch der Autoren bestimmte Begriffe aus einer zuvor verteilten Liste heraushörte, sollte Bingo! rufen (Bullshit-Bingo, falls es einer Erklärung bedarf). Die ersten 4 würden ein Buch der Autoren erhalten; der fünfte hatte dann mitzuzählen vergessen … . Eigentlich ging es den Autoren um ernste Themen, darunter die Klimakatastrophe: Es wurden – mich nur mässig überzeugende – Passagen vorgelesen, mittleres Wochenzeitungsniveau. Das Publikum (vielleicht 40 people) wurde aktiv zur fragenden Teilnahme gebeten, was die ohnehin zähe Veranstaltung auch noch je an den Stellen abwürgte, an denen es möglicherweise hätte spannend werden können. Und wie es so ist: was ein Publikum dann fragt, bleibt notwendig erratisch. Am Ende wollte eine Frau aus dem Publikum wissen: sie habe den Eindruck, dass ja alles sehr schlimm sei, ob es nicht auch ein paar positive Nachrichten gebe? Ich bin dann gegangen.

Spätfaschismus

Zwei Tage später wurde in der Volksbühne der „Spätfaschismus“ verhandelt. Offenbar steht der Veranstaltungsort für eine gewisse Ernsthaftig- und auch Gewichtigkeit – so erklärte mir mein freundlicher Sitznachbar, dass vielleicht 400 Menschen zusammengekommen waren. Im Mittelpunkt stand das Buch (gleichen Titels) von Alberto Toscano; eingeladen waren Quinn Slobodian, Lama el Khatib und Bafta Sarb. Henrike Kohpeiß und Jonathan Rößler moderierten. Die Veranstaltung war halb deutsch, halb englisch, immerhin aber wurden die Impulsbeiträge der Podiumsteilnehmer in einem Laufband über der Bühne übersetzt (die Übersetzungen waren vorbereitet, offenbar hielten sich die Teilnehmer überwiegend an ihr Skript; in der Diskussion gab es die englischen Beiträge dann nur noch im Original). Jonathan Rößler, der auch die Übersetzung des Buches besorgt hat, führt ins Buch und damit ins Thema: es sei dem Autor nicht darum zu tun, auf einer richtigen und umfassenden Theorie des Faschismus zu beharren, sondern aus vielen Strängen zu verbinden, was schon da ist. Im Kern jedoch will der Autor die Perzeption des Begriffs umkehren: nicht zurück in die Geschichte geht der Blick, sondern in die Tiefen des Alltags, der vermeintlichen Normalität von heute, wo eine hierarchisierende Klassifizierung strukturell verankert oder gewaltsam diktiert werde. So mache das Buch die protofaschistischen Strukturen sichtbar und offenbare die Fragilität der geglaubten Freiheit. Quinn Slobodian machte in der Folge darauf aufmerksam, dass der Angriff der Rechten (er bezieht sich vor allem auf die Altright-Bewegung in den USA) darauf ziele, die liberalen Errungenschaften der letzten 200 Jahre zurück und abzuwickeln, um eine auf Hierarchien basierende Ordnung wieder herzustellen, die von den „natürlichen“ Unterschieden der Menschen abgeleitet ist. Es sei allerdings ein Irrtum, dass, wie es häufig dargestellt würde, die (neue) Rechte Vergangenheits-orientiert darauf ziele, die Menschen von Zumutungen des Tempos des Wandels zu schützen. Umgekehrt sei es das Ziel der rechten Eliten und Theoretiker, die Veränderung zu beschleunigen, um nach dem Zusammenbruch der Ordnung als Phoenix aus der Asche aufzuerstehen. Der Veranstaltungstitel „Spätfaschismus“ legt eine theoretische Fundierung bestehender Entwicklungen nahe, in denen reale Beispiele sozusagen zum Beleg dienen mögen; hier jedoch wurden Lama el Khatib – die über Gaza sprach – und Bafta Sarb – die über deutschen Rassismus und Polizeigewalt referierte – als seien es theoretische Module – in die Diskussion eingeklemmt. Natürlich ist „der Link“ naheliegend und „irgendwie“ auch vertretbar, zu Erkenntnisgewinn verhalf das nicht. Umgekehrt wurde so deutlich, was der Veranstaltung fehlte: Analyse. Von dem richtigen aber doch mässig gewichtigen Hinweis Slobodians abgesehen, war keine Rede von den systemischen Formaten des neuen Faschismus: Als grösste analytische Leerstelle empfand ich, dass jeder Hinweis auf die strukturelle Unentrinnbarkeit eines neuen Faschismus fehlte – so er denn einmal installiert ist. Die zu Gebote stehenden technischen Instrumente der Macht würden/werden/können im 21. Jahrhundert jeden Widerstand unterbinden. Diesen durch die Gesellschaft eskalierenden Totalitarismus nicht zu benennen, erscheint mir als erschreckender strategisch-analytischer Mangel. Eskalierende Polizeigewalt wäre sicher ein Indikator protofaschistischer Tendenzen, systematisch-strukturell jedoch beginnt Faschismus „regelmässig“ damit, das Rechtssystem zu unterwandern, Richter und Institutionen (zu installieren oder) auszuschalten und verbriefte Rechte und Errungenschaften abzuschaffen. Keine Rede davon, dass die Aushebelung jeder Rede von der Realität zu einer Wildcard wird für jede noch so abstruse und betrügerische Erzählung. Keine Rede davon, dass der neue Faschismus auf einen totalitären Datenapparat zugreift, der eine detaillierte, Identitäts- und Einstellungsbasierte Klassifizierung der Bevölkerung ermöglicht (siehe die Türkei nach dem sogenannten Gülen-Putsch). Keine Rede von der ökonomischen Umgestaltung und Umverteilung. 
Ausführlich dagegen erfahren wir, wann und wo und wie oft emarginalisierte Gruppen ihre Ausgrenzung wahrnehmen. Das ist jetzt ein schwieriges Argument: diese Phänomene gibt es – und sie sind der Klage und des Widerstandes wert! Nur sollte man selbstkritisch auch festhalten, dass die Empfindlichkeit und Konzentration sowie auch eine nicht zu unterschätzende Selbst-Viktimisierung zu einer grotesken Überhöhung der Phänomene führen: Verglichen mit dem Ausmass an Elend alleinerziehender Elternteile, der Altersarmut oder der grassierenden Wohnungsnot …  sind die (tatsächlich existierenden!!) Leiden emarginalisierter Gruppen, so beklagenswert sie sind, überschaubar. Hinzu kommt, dass die Konfrontation nicht selten provoziert ist: eine Identitäts- und Anspruchsorientierte Generation hat sich darin eingeübt, das eigene Interesse lautstark über jedes andere und insbesondere über jedes politische Interesse zu stellen. Und schliesslich gab es auch keine Rede davon, dass der neue (wie auch der alte) Faschismus ein demokratischer ist; Rachel Cohen hat es in ihrer Preisrede zum Konrad Redeker Preis gesagt: „Trump-Loyalisten haben in beiden Parlamentskammern die Mehrheit und eine Mehrheit hat ihn gewählt.“

Die Freiheit der Foschung

Die Frage, wie denn eigentlich eine übergriffige (rechte, autokratische, faschistische) Politik abgewehrt werden könne, wäre auch die Nachfrage zu einem Panel auf dem Campus der FU (sie blieb aus!). Eingeladen hatten die ZEIT (Dr. Anna-Lena Scholz) und der FU-Präsident (Prof. Günther Ziegler): „Wissenschaft unter politischem Druck – wie frei ist die Forschung?“ Das war die Einstiegsfrage. Vor spärlichem Publikum – es waren vielleicht 20 Menschen erschienen; man könnte also daraus schliessen, dass der Druck nicht allzu gross sein kann – diskutierten zudem Stefan Gosepath (Prof. für praktische Philosophie) und Maja Wallstein (Abgeordnete SPD, Mitglied im Ausschuss für Forschung, Technologie, Raumfahrt und Technikfolgenabschätzung). Und tatsächlich: er, Gosepath, sei von politischen Pressionen nicht betroffen; Sorgen mache er sich aber schon. Die Angriffe der US-Administration auf die US-Hochschulen, allen voran Harvard, würden mehr als nur Unbehagen auslösen, denn, wie in der Musik, und wie so oft auch in der Politik, kämen die Trends und Erscheinungen der USA eher früher als später auch in Europa an. Zu diskutieren sei in diesem Zusammenhang auch, inwieweit ökonomische Drücke auf die Wissenschaftsfreiheit durchschlagen? Auch Harvard sei zur Hälfte staatlich finanziert! Und hier in Berlin – Ziegler wollte die Einsparungsanforderungen nicht als politische Pressionen qualifizieren – sei es aber auch die Frage: wo denn gespart würde, wenn denn gespart werden müsse. Usw. In der nachfolgenden Diskussion kam es zu ein paar wenigen Publikumsäusserungen, die zwischen Lokalkolorit und „ich-sollte-auch-mal-was-sagen“ changierten; abgesehen von Georg, einem Jurastudenten, der mit seinen insgesamt 14 Fragen aus sechs Themenkreisen (Populismus, Nato-Gipfel, Wehretat, die Uni lehrt das Totschiessen, Fachschaftsrat, akademischer Senat, Israelische Universitäten, LKA und Polizei gerufen … ich konnt mir nicht alles merken …) seinen Sprechdispo dramatisch überzog und sich hernach beschwerte, dass der Präsident „auf keine EINZIGE, keine EINZIGE“ Frage geantwortet habe. Dass er sich schämen solle, denn Blut klebe an seinen Händen! Wieder wurde ich an meine Frankfurter Studentenjahre erinnert.  

Freiheit – in den Grenzen der Natur

Stefan Gosepath traf ich am folgenden Abend in der Volksbühne wieder, wo Kohei Saito unter dem irreführenden Titel „Freiheit in den Grenzen der Natur“ einen Vortrag hielt. Das hätte ja interessant werden können (s.o. Leggewie/Cohn-Bendit). Wieder kam es zu Einschränkungen in der A-Note (formale Durchführung): vermutlich haben die 100plus Anwesenden Saito besser verstanden als ich – oder sie taten nur so? Saito, Philosophie-Professor aus Tokio, sprach Englisch mit einem so harten asiatischen Akzent, intonierte seine Aussagen in einem so fremden Singsang, und über seine Stimme legte die Tonanlage im Roten Salon einen solchen Raumhall, dass, in der Mischung der Faktoren, ich Mühe hatte, seinen Aussagen auch nur groben Zügen zu folgen. Immerhin konnte ich seine Kernthesen aus anderen Quellen insoweit vor- und nachbereiten (darunter eine Buchzusammenfassung des Buches „Systemsturz“ von der Friedrich-Ebert-Stiftung), dass ich im Nachgang doch einigermassen den Gang der Argumentation nachvollziehen konnte. Und der ist abenteuerlich. Saito vollzieht eine mehrdimensionale, ausführliche Marxexegese, um nachzuweisen, dass bereits Marx für einen weitgehenden DeGrowth-Ansatz in Anspruch genommen werden könne. Das erstaunte – in der nachfolgenden Diskussion – auch Rahel Jaeggi, Professorin für praktische Philosophie am Centre for Social Critique: wie man wohl darauf kommen könne, ausgerechnet Marx ins Feld zu führen (die Professorin sprach leise und war, trotz Mikro, streckenweise noch schlechter zu verstehen)?! Das eigentliche Problem dieser (und zahlreicher anderer) Diskussionen ist aber, dass in ihnen versucht wird, dem 21. Jahrhundert mit den Begriffen und Analysen des 2. und 3. Kondratieff-Zyklus beizukommen, also den Instrumenten des Zeitalters der Industrialisierung, während die Realität bereits 3 Zyklen weiter stattfindet. Den in den langen Wellen eingebetteten, sie treibenden technologischen Fortschritt nicht, oder bestenfalls un-informiert und ungenügend, zur Kenntnis zu nehmen, war schon ein Kardinalfehler der ökonomischen Analyse der 68er und hat sich bis heute eindrucksvoll und gruselig fortgesetzt. Noch immer werden „Arbeiter“ und „Produktionsverhältnisse“ bemüht, während spätestens die „Industrie 4.0“ alles daran setzt, diese wie jene der KI und den Robotern zu übereignen. Von den medialen Rahmenbedingungen jeder gesellschaftlichen Analyse ist schon gar nicht die Rede – wo gelegentlich doch, so in ohnmächtigen Allgemeinplätzen. Bezeichnend (wenn auch darin noch mehrere Jahrzehnte im Rücksprung), ist Saitos Behauptung, man könne die Fische im Fluss oder die Pilze im Wald – sie stehen bei ihm für paradigmatische Naturkräfte – nicht in Produktionsprozesse überführen. Dass die Weltbevölkerung ohne Agro-Chemie nicht ernährt werden kann, dass die Holzindustrie den Wald – vom Amazonas bis zum HessenForst – übernommen hat, dass Wind und Sonne in Energie transferiert werden (müssen) oder Flüsse lediglich als Wasserstrassen firmieren, derlei Randerscheinungen der Realität werden bei Saito von ausführlichen Marxzitaten substituiert.

Nächstens werde ich vom „Begehren und die Neue Rechte – zur Attraktivität autoritärer Politik“ erfahren, das Zusammenspiel „KI und der Neue Faschismus“ wird mir in der Urania erklärt werden, wo später Robin Alexander mit ein paar üblichen Verdächtigen über die „letzte Chance“ diskutieren wird. Die Realität hängt über all diesen Veranstaltungen gleichsam wie ein Damoklesschwert; ich bin gespannt, wann sie in den Berliner Diskurs niedersausen wird.