Das Schauspiel hätte ebenso gut ins Colosseum gepasst. Kamila Valieva bekommt den Kopf nicht frei, der Druck gerät ihr in die Beine, die Füsse, die Kufen – und verstolpert sie von dort. Der Voyeurismus der Welt ergeht sich in wohligem Entsetzen. So schön wie ein CarCrash bei der Formel eins, wie ein Pferdesturz beim Springturnier, wie ein Schienbeinbruch in der Bundesliga. Wir sind verstört, so wunderbar verstört.
verstört, sehr sehr verstört
Kamila Valieva stürzt
Die Empathie der Stakeholder
Ein unvorhergesehenes Ereignis (Montage TIMElabs; Motiv Sturz CC – sweetaholic, pixabay)
Was ist Sport?
In meiner Jugend hatte ich in Volleyball eine 1 und in Rudern eine 6. Im Hand- und im Basketball wurde ich als zweiter oder dritter in die Mannschaft gewählt, im Eishockey war ich leidenschaftlich, aber mässig schlecht. Im Tischtennis tobte ich gegen den Freund, der eine Spezialität darin entwickelt hatte, Bälle aus sechs, acht Metern Entfernung auch dann noch zurück auf die Platte zu bringen, wenn sie nur noch Centimeter vom Boden entfernt waren. Usw., ich war uneinheitlich aber sportlich. Mich begeisterten elegante Abläufe und die Schönheit des Abschlusses. Nie interessierte ich mich für den Wettbewerb der Zahlen, des Siegens, immer aber für den Kampf für das Gelingen, den Flow, die Qualität ermöglichenden gleichrangigen Gegner.
Was ist aus diesem Sport geworden?
Mucki-Buden, Jogging-Trance oder das Muskelzittern einer Yogaübung. Oder eben das neo-liberale Leistungszentrum. Oder, und das ist dann der kapitale Endpunkt der Entwicklung: Business, Bundesliga, Olympia.
Kürzlich lief auf Arte „Die Kür ihres Lebens“ – eine Erzähl-Doku über jene Goldmedaille, die Aljona Savchenko und Bruno Massot 2018 in Pyeongchang errungen haben. An Sport sowieso selten und dieser Sportart im Speziellen interessiert mich wenig; eher zufällig, und weil ich das Interesse meiner Frau vermutete, geriet ich in den Film. Der sich dann als ein klug komponiertes Stück mit einem dramatischen Höhepunkt erwies: eine wirklich phänomenal schöne Kür, der sich auch mein Desinteresse nicht verschliessen konnte. Eine befremdlich hybride Welt: Während Frau Savchenko, zu der Zeit 33 Jahre alt und bereits dreifache Weltmeisterin, längst ins Profilager gewechselt war, lebte Herr Massot, 29, noch von einem 400€-Sportstipendium. Vorgestellt aber wurden auch Trainer-Charaktere; Von denen zeigte Ingo Steuer die kantige Fratze seiner Zunft, und daran erinnerten mich die Szenen während und nach der Kür der Kamila Valieva.
Kamila, … ich kann doch nicht ernsthaft: Frau Valieva schreiben! … wurde für die Qualen der zurückliegenden Jahre mit Vorhaltungen, Kälte, wenn nicht gar der Verachtung ihrer Entourage belohnt – Was für ein Pack! Kamilas „Karriere“ begann mit drei einhalb Jahren; vermutlich hatte das Kind schon damals die Eltern zum Kauf der Schlittschuhe genötigt. Und dann die jahrelange Erpressung: entweder Ihr brain-washed und psycho-terrorisiert mich und quält und drangsaliert mich mit dem täglichen Training oder ich werde nie-nie-nie Olympiasiegerin. Kinder können so grausam sein.
Noch während der Live-Reportage wechselt der Sportreporter das Fach: erst zählt er die Sprünge und ihre Umdrehungen, dann gibt er die Medaillenhoffnungen verloren, und jetzt, ein authentischer Bruch, beklagt und beschimpft er die Verantwortungslosigkeit der Sportfunktionäre, die dieses Kind in eine Katastrophe geschickt haben. Seine Erschütterung ist echt; seine Beteiligung erkennt er nicht. Der Höhepunkt aber ist doch Thomas Bach, der sich jetzt, in einer PK, „sehr sehr verstört“ zeigte. Bach hatte bereits über die letzten Jahre seine ganze Empathiefähigkeit mit den chinesischen Veranstaltern gezeigt, jetzt wurde offenbar, dass er sogar „Ein Herz für Kinder“ hat; potztausend! Überhaupt ist die Presse weltweit ganz aus dem Häuschen! Gleich neben dem Medaillenspiegel. Einen Absatz neben der Bach’schen Verstörtheit verstört die GNTM-Kolumne mit den wenig bekleideten Kandidatinnen:
„Die Models müssen diesmal für die Staffelwerbung tanzen, das liegt nicht jeder Teilnehmerin. Außerdem gibt’s ein Fotoshooting mit nur einer Kamera – der GNTM-Kader ist im Eskalationsmodus.“
Man könnte auf die Idee kommen, dass die GNTM-Trikotagen sich auch auf dem Eis ganz gut machen würden; aber wir reden ja vom Sport, da soll man mal nix durcheinander bringen. Brot und Spiele. In Peking. Passt schon.