Vom Verlust der Lüge - als Verlust

vor der Warnung

21-12-2016
 

Von Max Frisch stammt (sinngemäss) die Sentenz: „Wenn Ehrlichkeit hiesse, einfach alles zu sagen, es wäre einfach, ehrlich zu sein; ... Tugend auf Kosten der anderen.“

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1. Ich erinnere eine Situation in meiner Jugend, eine Szene in der ich und meine Freundin Elisabeth im Park saßen und "Gespräche" führten, die sich im Wesentlichen darum drehten, ob sie mich küssen wird oder mich sie küssen lässt. Es war klar dass Elisabeth um 13:00 Uhr zu Hause sein musste, und wir kamen nicht weiter. Wir hatten nun schon eine gedehnte lange Weile geredet. Endlich fragte sie mich wie spät es wohl sei und ich sagte 12:00 Uhr. Ich hatte keine Ahnung, aber ich wollte nicht dass die Situation aufhörte. Also sagte ich zwölf. Es war eine Lüge. Ich wusste das. Sie wusste das.

2. Ich erinnere eine Situation während meines Studiums, eine Szene, in der ich ein Referat zu halten gehabt hätte, das ich aber aus Gründen ausgedehnter Freizeitgestaltung, nicht vorbereitet hatte. Im Seminar erklärte ich, dass ich die Arbeit bedauerlicherweise zuhause hätte liegen gelassen, aber in der Lage sei, die drei zentralen Thesen auch ohne meine Ausarbeitung würde vortragen können. "Um uns die Diskussion zu ermöglichen." (Gottnee, war das smart). Das war eine - sozusagen - Gesamtlüge. Ich wusste das. Der Professor wusste das.

3. Ich erinnere eine Situation aus meinem Berufsleben, eine Szene, in der es darum ging, ein Unternehmen zu kaufen. Meine Partei hatte, vom dreisten Willen zur Tat einmal abgesehen, nichts vorzuweisen: kein Mandat, keine Finanzierung, nicht einmal einen Plan. In der Verhandlung jedoch agierten wir, als wären wir (ich war einer von drei Verhandlern) die Entscheider, hätten alles Geld der Welt und wüssten genau, was wir täten. Das war eine Lüge. Wir wussten das, und unsere Gegenüber wussten das.

Meine Ex, die, was mich betrifft, es mit dem Wort genau nahm, nannte mich öfter einen Lügner, ich würde "Geschichten" erzählen. Ich wäre, s.o., niemals auf die Idee gekommen, von Lügen zu sprechen. Das war „Gestaltung“, bei Steve Jobs sprach man vom "reality distortion field", und noch früher war es so, dass alle Kreter lügen.

Um von einer Lüge zu sprechen bedarf es, ich sag das mal versuchsweise, eines üblen Vorsatzes, einer böswilligen Intention. Eine Lüge fügt Schaden zu, sieht das Gegenüber als Feind, nicht-Ich, den zu hintergehen gerechtfertigt sei. Und die Linie zwischen Lüge und Betrug ist hauchdünn. Ich habe mich auch einer solchen, tatsächlichen Lüge schuldig gemacht, da will ich hier nicht ins Detail gehen. Inzwischen aber verwischen die Grenzlinien.

4. Nehmen wir eine Steuererklärung. Ich habe neulich gelesen (wo?), dass ein und dieselbe Steuererklärung bei verschiedenen Finanzämtern zu maximal differierenden Steuerbescheiden führt. Und welche Art Wirklichkeitsdiffusion wäre das dann? Als Nutzniesser oder Betroffener wäre ich nicht einmal der Täter! Lügt jemand? Betrügt jemand? Ist Fahrlässigkeit im Spiel, und wenn ja, in welche die Wirklichkeit beugende Kategorie fiele das?

5. Oder das berühmte Idiom: "Drei Zeugen, fünf Unfälle". In aller Regel dürfen wir davon ausgehen, dass höchstens die Beteiligten ein Interesse daran haben, die Vergangenheit "zu gestalten". Aber warum widersprechen sich die Zeugen? Möglicherweise sind affektive oder Vorurteils-behaftete Einstellungen im Spiel, vielleicht träumte der Zeuge vor sich hin und hat in Wahrheit gar nichts beobachtet ... die Aussage hat er/sie sich vielleicht erst im Nachhinein "plausibilisiert"?

6. Ein anderes Beispiel sind Gutachter. Wie kann es sein, dass ein gegebener Sachverhalt, der nicht die Unwissenheitsregionen wissenschaftlicher Randgebiete berührt, von zwei "gleichrangigen" Experten diametral anders bewertet, ja sogar beschrieben wird? Lügen die Experten, wenn sie eine Zurechnungsfähigkeit oder Unbedenklichkeit konstatieren?

Das postfaktische Zeitalter wurde nicht erst heute erfunden.

Ich fürchte, es begann, als wir uns daran gewöhnten, der Gestaltung der Wirklichkeit Raum zu geben. Auch das fiel nicht vom Himmel: wie oft hatte sich gezeigt, dass eine "behauptete" Wirklichkeit eine geheime Kraft in sich bergen kann, hin zu einer realen Wirklichkeit, sagen wir, emporzuwachsen. So oder wenigstens so ähnlich ist es uns nun mit The Donald ergangen: aus einer frechen, aberwitzigen Behauptung, ohne sachliche oder Vernunft-gebundene Grundlage, ist eine Tatsache gewachsen. Und, schönes Paradox, auf der Grundlage eines offenbaren, x-fach nachgewiesenen Lügengebäudes. Des Kaisers neue Kleider? Es war umgekehrt, er sei nackt, rief der Kaiser ( … hilflos, verleumndet, Freund des einfachen Mannes, Wallstreetfighter - drain the swamp!). Und sass mit entzündetem Schlips in seinem Goldpalast.

Übrigens: der Wahrheit geht es ja keineswegs besser. Irgendwie ist auch sie uns abhanden gekommen, als hätten sich Himmel und Hölle auf die Mitte geeinigt und verabredet, als hätten sie alle Vergangenheit für Null und nichtig erklärt. Sogar auch diese Diskussion hat Tradition; früher haben wir den gleichen Sachverhalt unter "subjektiv/objektiv" verhandelt.

Jetzt scheint es, als sei die Eskalation nicht aufzuhalten. Inzwischen werden Wahrheitskommissionen ebenso wie eine linke Lügen-Bekämpfungspropaganda gefordet, oft in einem Atemzug. Mit einer Vielzahl von schlüssig klingenden Einzelbegründungen werden solide Karrieren zugunsten von heldenhaft-blauäugig-gutwilligen, schlecht durchdachten Politikinitiativen beendet. Die Not ist gross. Die Zukunft liegt im Dustern.

Wenn es nur mir auffällt, muss der Fehler bei mir liegen: für mich sind das Anzeichen kollektiven Wahnsinns, eines lustig bimmelnden Untergangs. Es ist schlimmer: beklagte ich noch im ... vor?letzten Jahr die politische Agonie der westlichen Gesellschaften, die Gleichgültigkeit von Generationen, die aufgehört hätten, sich um die gesellschaftlichen Belange zu bekümmern, so erscheint es mir heute, als wäre eine Myriade von Dämonen aus der Flasche, als würde ich "die Geister, die ich rief, nun nicht mehr los."

Denn jetzt wird nicht mehr nur die Wahrheit gebeugt, die Lüge verniedlicht, das Objektive verkleckert und alles Urteil verliert sich im Nebel, - jetzt wird es laut und hässlich, jetzt vermischen sich Versionen und Derivate mit Beleidigungen mit Bedrohungen, Übergriffen und Verbrechen. Ich muss fürchten, dass die Warnung (wie bei Trump geschehen) sogar befördert, wovor sie warnt. Und wenn mir jetzt die Bartholomäusnacht einfällt, die Kristallnacht oder der Bürgerkrieg, muss ich mich fragen, ob das nicht am Ende zur selffulfilling prophecy gerät.

Von Christa Wolf stammt die Frage: "Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter andern Sätzen: Laßt euch nicht von den Eignen täuschen."
Wie fühlte sich Weimar an?