Wegner/Amend – Rezo – Lindner – Ulrich

Der PodCast "Alles gesagt" – und Bernd Ulrich in der Zeit

Über Kompromisse

13-10-2019
 

Jochen Wegner und Christoph Maria Amend haben in ihrem PodCast „Alles gesagt“ mit Rezo gesprochen. Acht Stunden, 40 Minuten; das reicht, podcast-technisch-analog, an einen Triathlon heran. Ich hatte das Glück, den Gartenzaun streichen zu müssen, da war das der passende Hintergrund.

Rezo, der Bub von nebenan – mit 16 Mio Klicks und eigenem Shop (©-youtube; tomekk media KG)

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Das mit 2, 3, 4, 5 Stunden auch sonst überaus ausdauernde Format „Alles gesagt“ hat grosse Vorteile: Es fällt den Gesprächspartnern über die Strecke sehr schwer, ihre Maske hochzuhalten: am Ende eines solchen Gespräches kennst Du ihn oder sie ganz gut. Kein Zufall, dass dabei authentische, nicht ge-photoshop-te Persönlichkeiten und konsistente Weltbilder besser wegkommen. Um bis dahin zu gelangen, dass die Gesprächspartner sichtbar werden, haben sich JW/CA eine Technik des sperrfeuerns zugelegt: Sie verfügen über ein tiefenscharfes Vorwissen (Research) und leiten daraus unendliche Frage ab. Daraus könnte sich ein kapitelartig-lineares Abhaken von Lebensabschnitten ergeben, und immerhin gibt es im Hinterkopf der Moderatoren auch diese timeline; ihre besondere Fähigkeit aber besteht darin, beständig die Themen zu wechseln, vor- und zurückzuspringen, Wein und Essen, Gossip und Anekdoten dazwischen zu keilen; eine Technik, die die schönste Maginot-Linie zerfräst. Dagegen ein vorformuliertes Verkaufsprospekt des eigenen Ich durchzuhalten, erfordert schon eine eiserne Disziplin und Konzentration (spätestens bei seinem Jagdausflug stand Christian Lindner im Hemd). Die Downside davon ist, dass so selten ein ordentliches Gespräch aufkommt: die steten Wechsel verbrauchen eine Unzahl von Topoi und Statements, die möglicherweise besser hätten ausgeleuchtet werden können/sollen (unterwegens aber das Risiko befördert hätten, hergebrachte Stanzen vorzutragen). Also formal zum Format: Halb + Halb.

Inhaltlich war das Gespräch mit Rezo eine Freude. 

Zunächst verstehen wir einmal first hand das Geschäftsmodell eines Youtubers: Youtube/Google/Alphabet zahlt für Klicks per tausend – natürlich, weil sie die Klicks mit Werbung „auswerten“. Wer 10.000.000 Klicks im Monat generiert, kassiert 10.000 Euro (das kann, je nach Zielgruppe und Thema, viel mehr und viel weniger sein; machst Du Lippenstift oder Fashion geht der Preis pro Tausend hoch bis noch höher, zerstörst Du grad mal die CDU bleibt nix hängen). Daneben macht der gemeine Youtube-Star „Deals“; welcher Art, das wird nicht völlig transparent, hat aber vermutlich mit – im weitesten Sinne – Promotion zu tun. Ausserdem ist der Youtuber gut beraten, in einem Shop Merchandising-Produkte zu verticken, T-Shirts, Kappen, Taschen, diese Richtung (JW hatte im Vorfeld eine Kappe gekauft ...). In Summe bleibt bei Rezo genug hängen, um gut zu leben und zwei, drei Mitarbeiter zu finanzieren. Damit wäre einmal das Finanzielle geklärt.

Spannender aber ist, warum so ein Rezo, der ja mal ein ganz normaler Junge war, derart zum Star der Szene aufsteigen konnte – (Research: Ja-LOL-Ey; mit Katja; mit Julia, mit … 400 Mio Klicks später) das ist ziemlich unerträglich – und dann, sozusagen trotzdem, dieses CDU-Video gemacht hat (Pause: noch mal das Video anschauen). Ein beeindruckender Spagat! Erinnert mich an was? Den Langen Marsch, vielleicht? Anyway, neu ist ja jetzt dieser PodCast. Und in diesen acht Stunden und 40 Minuten lernen wir etwas über die Generation y oder M oder Rezo. Der ist jetzt 27, eine bundesbekannte Ikone, ein erfolgreicher Unternehmer, und – ein ziemlich gradliniger, fundamentalistischer, authentischer Charakter. Dabei meint gradlinig, dass er sich von seinem Erfolg nicht korrumpieren lässt; wenn der Deal nicht zu seinen Bedingungen läuft, dann läuft er eben nicht, auch wenn er 5- oder gar 6-stellig wäre. Mit fundamentalistisch bezeichne ich eine Haltung, die beim Blick auf Kausalitäten keine realpolitischen Ausflüchte zulässt. Und authentisch erscheint er mir vor allem, weil er realtime diejenigen Sachverhalte filetiert, in denen er möglicherweise impulsiv das Falsche getan (oder gesagt) hat, sich entschuldigt, zurücknimmt, diese Richtung. Ich war einen Moment lang versucht, ihn als schwarz/weiss (blau/weiss, LOL) zu charakterisieren; doch wird im Gespräch auch deutlich, dass er Grauwerte bis dahin zulässt, wo Verständnis (für ein bestimmtes Verhalten) in Opportunismus umschlagen müsste. Mich beeindruckt diese Haltung, vor allem, weil sie das Elixier unserer Gesellschaft – den Kompromiss – in ein neues Licht stellt. 

Meine Ent-täuschung über meine Enttäuschung

Ein Beispiel, was das meint: „Lieber keine Politik machen, als schlechte Politik machen.“ CL hat in einer entscheidenden Situation seines Lebens eine Haltung gezeigt, die der von Rezo sehr ähnlich ist. Mich hat das (seinerzeit) zutiefst ent-täuscht, und ich habe ihn dafür verurteilt. Ich habe damals argumentiert, dass CL die Arschbacken hätte zusammenkneifen müssen, und sei es um den Preis von Neuwahlen 9 Monate später. Dann nämlich hätte ihm niemand vorwerfen können, in der entscheidenden Situation gekniffen zu haben – und er hätte, vielleicht, vermutlich, einen umso grösseren Erfolg daraus erwirtschaften können. Ich hate CL zuvor unterstützt und zur Wahl empfohlen: mir schien, dass er im Spektrum der verfügbaren Angebote die modernste Position vertreten hat. Das sehe ich heute sehr anders: er hatte das alte FDP-Kostüm nur neu angemalt; von dem frischen (rationalen) Wind, nachdem das Wahlprogramm der FDP damals geklungen hatte, ist nichts, wenig, übrig geblieben. Am Beispiel Rezo/Lindner wird mir meine eigene „dialektische“, machiavellistische, taktische Sponti-Position fragwürdig („... mit den eigenen Widersprüchen leben ...“), und ich erinnere mich schon wieder an Alexander Kluge: „In Gefahr und grosser Not, bringt der Mittelweg den Tod.“

Genau das ist die Situation heute! Wir haben gelernt, um eines ferneren Zieles Willen eine (kleine, kurzfristige) Verbiegung in Kauf zu nehmen, AUCH (oder: nur?), um unser eigenes gutes Leben fortführen zu können. Die Haltung spiegelt sich in den beruflichen Entscheidungen: Was mit Medien, oder WebDesign, Forschung und Lehre, Zukunft ...; meine Generation suchte und fand Wege, sich die Finger möglichst sauber zu halten. So auch im politischen Engagement: „Ich kämpfe für Minderheiten, die Kita, Flüchtlinge …“ – was dazu geführt hat, dass wir die systemrelevanten Fragen einfach nicht mehr gestellt haben. Rezo, demgegenüber, greift mit der Entertainment-Hand tief ins Klo nach der Kohle, aber auf der politischen Seite offenbart er Radikalität, Bissigkeit und Kompromisslosigkeit. Er riskiert etwas. Das ist der Unterschied.

Damit das seine Kreise zieht

Reiner Zufall, dass ich heute beim Frühstück Bernd Ulrich in der Zeit gelesen habe. Der hat dort einen bemerkenswerten Text geschrieben, dem ich über sehr weite Strecken zustimme. Es beginnt mit einer Klage über die Erschöpfung und den Kleinmut der Grossen Koalition und geht dann sehr ins Grundsätzliche:

  • „Nicht weil die Groko die Mehrheit hat, hat sie so entschieden – sondern weil sie sie nicht mehr hat.“
  • „Es gibt aber nicht nur Kompromisse zwischen fast nichts und sehr wenig, sondern auch zwischen recht viel und noch mehr, sogar zwischen sehr viel und richtig viel.“
  • „Die Konsequenzen von zu kleinen Schritten sind kumulativer, wenn es schlecht kommt sogar exponentieller Natur. Das gilt erst recht, wenn die Klimakrise eskaliert, denn dann verengt sich der Horizont der Handlungsoptionen drastisch.“
  • „Statt von "Ökodiktatur" zu faseln, sollte man sich lieber Gedanken darüber machen, wie eine Ökodemokratie aussehen könnte.“
  • „Was sie und was wir alle dagegen nicht gelernt haben: wie man die Zerstörung der Demokratie durch das Verschwinden der tatsächlich vorhandenen Wahlmöglichkeiten verhindert.“
  • „Um hier einmal persönlich zu werden: Wenn ich die schreckliche Wahl haben sollte zwischen demokratisch in den Untergang und autokratisch (vielleicht) die Welt retten, dann entscheide ich mich immer für den Untergang. Einfach, weil ich politisch nur als Demokrat existieren kann und will.“

Ich bin BU bis in die letzten Absätze gefolgt (über den Verlust der politischen Fähigkeit und die „Verengung des Möglichkeitsraumes“ habe ich selbst geschrieben); in der Schluss-Sequenz dann geriet ich ins Wanken. Die Alternative von einem demokratischen Untergang und einer autokratischen Rettung bringt mich aus dem Tritt. Da ist sie wieder: Die mit lutherischer Geste vorgetragene, beinahe hysterische Sorge, sich die Finger schmutzig zu machen. Vielleicht hat BU keine Kinder? Oder die kommenden Generationen sind ihm egal? Und was, wenn ein neuer Faschismus aufkommt? Ein Attentat ist zutiefst autokratisch! Auch analytisch springt er zu kurz! Er sagt: DIESE Regierung ist am Ende (und ich stimme zu); doch dann will er nur eine andere wählen. HimmelHerrGottSackZement: Hatten wir Rot-Grün noch nicht? Woher nimmt er die Chuzpe (eine beinahe masochistische Überzeugung), zu glauben, dass eine andere Regierung in diesem System es besser machen würde? Gäbe es dann keine Interessengruppen? Keine Medien? Gäbe es dann keine Parteiflügel? Keine Salamitaktik mit Wasch-Mir-Den-Pelz? 

Ich war, ich bin Demokrat, aber ich meine, dass man die Titanic nicht mit Mehrheitsentscheidungen retten kann. Übrigens kommt das Gespräch mit Rezo auch an diese Kante. Da wird es dann richtig spannend.