Welzer vs. Nassehi?

Gemeinsinn

Wider den idealistischen Realismus!

 

Ich empfehle ein Abonnement von futurzwei. Immerhin werden hier relevante Debatten geführt. Leider gibt es die Replik von Armin Nassehi auf Harald Welzer, auf die ich hier Bezug nehme, nicht online. Doch worum es darin geht, ist, so hoffe ich, auch so einigermassen verständlich.

Perspektiven

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Man kann es sich nur so erklären, dass Armin Nassehi (AN) den Text von Harald Welzer (HW) nicht gelesen hat, bevor er zu seiner Volte ausholte. 

Ich schätze mal, ANs Briefing kam von Peter Unfried, und der konnte zum Planungszeitpunkt auch nur ungefähr antizipieren, was beim Nachdenken herauskommen könnte. HW plädiert also in der jüngsten Ausgabe „futurzwei“ (31/2025) für mehr Gemeinsinn und AN denunziert das Ansinnen: 

„… (diese) Beschwörung eines »Gemeinsinns«, der vor allem von jenen vorgetragen wird, die gerührt sind von der eigenen Selbstlosigkeit, dabei spielen sie nur jenes Selbst aus, das ihrem Milieucode entspricht.“ 

Könnte allerdings auch sein, dass man in der Redaktion gar nicht undankbar dafür war, dass AN mit seiner Polemik Welle erzeugt, aber doch in einem dramatischen Versatz am Gemeinten vorbei argumentiert.

Natürlich: Der Begriff lädt dazu ein, im Sinne ANs missverstanden zu werden: 

„… als bürgerliche Kategorie …, die die Gesellschaft als Grossgruppe nach dem Bilde einer Familie oder eines diskutierenden Salons nachempfindet, abhängig vom distinguierten bürgerlichen Habitus vordergründigen Harmoniebestrebens bei Ausblendung grundlegender Konflikte.“ 

AN nimmt seine soziologische Helikopterpostion ein, während HW aus der Extrospektion des Subjektes argumentiert. Er, s–einerseits, denunziert einen Phänotypen des Antisozialen, der dem Geschäftsmodell des digitalen Kapitalismus geschuldet ist. Dieser Phänotyp ist nun – andererseits – das rolemodel eines „Bedürfnisbehältnisses“, eines idealen Konsumenten, der, allein, auf sich geworfen, von jedem sozialen Zusammenhang befreit sowie, zugleich, von jeder autonomen Urteilsfähigkeit, zum idealen Vertreter der „Hyperkonsumkultur“ geworden ist. HW sieht in dem (geforderten) Gemeinsinn die Rücksicht des Subjektes auf die Strahlungswirkungen seines Handelns; er spricht nicht für die Eingemeindung ist einen diffusen Sozialkörper, sondern für die Verantwortung vor dem eigenen Handeln.

Würden beide das Missverständnis einräumen/beklagen, könnte man es gut sein lassen.
Es ist aber auch kein blosser Zufall, dass die beiden gegeneinander und aneinander vorbei reden.

Ich bin mit HW nicht immer einer– , mit AN aber bin ich meistens zweier Meinungen. Soweit ich ihn zur Kenntnis nehme (immer mal wieder, nicht systematisch), störe ich mich an seiner Destruktion, seinem fach-amtlichen Thatcherismus („There is no such thing as society“). AN wird nicht müde, auf der strukturellen, unüberwindlichen Heterogenität der Gesellschaft zu bestehen. Sein Ansatz ist Mikromanagement: 

„Mir fallen jedenfalls viele Milieus und Gruppen ein, mit denen ich mich wirklich nicht gemein machen möchte, mit denen ich mir aber umso mehr und gerade deshalb eine zivilisierte Form des Interessenausgleichs und der Handlungskoordination wünsche.“ 

Jeder für sich und Gott gegen alle, – aber bitte mit Abstand und Respekt! Wie ein Nicht-Angriffspakt im Ghetto verwaltet das nur den Status Quo! Er ist, ich erlaube mir den Übergriff, ein zutiefst desillusionierter Ex-Linker, der, um handlungsfähig zu bleiben, lediglich auf einer zivilisatorischen Restintegrität besteht. 

HW dagegen ist noch immer Idealist. Er hält nichts von operativer Quartalsorientierung. Das ist nicht selbsterklärend, denn nominell redet auch HW der kleinen guten Tat das Wort:

„Denn mit den grossen Lösungen rettet man die Welt nicht, sondern man schafft dauerkommentierend Legitimationen, nicht mit gemeinsamem Handeln im Kleinen gegen das Falsche anzugehen.“

So eine Zwischenüberschrift; im Text heisst es, wie ich meine, richtiger: „… sondern es [das Falsche] nur dauerkommentierend geschehen zu lassen.“ 

Anyway. Ich schwanke, es für einen Trick zu halten: denn natürlich ist „Gemeinsinn“ eine grosse Lösung, plakativ und fordernd; sie kommt als Begriffsarbeit daher. Früher lief das unter Solidarität, die, als Begriff, verbraucht ist. Auch der „Gemeinsinn“ weitet den Blick des Subjektes über das Interesse hinaus auf die Gesellschaft! Kann aber auch sein, dass es ihm gar nicht bewusst ist: zwar ist er keinen Deut weniger desillusioniert, doch handelt und redet er in dem Verständnis, dass nur ein kohärentes, geteiltes Zielbild so etwas wie gesellschaftliche Entwicklung ermöglicht.  

Das Problem ist natürlich: Beide haben recht, irgendwie, und die verlorenen Illusionen verbinden sie. Während AN auf der Realität besteht, insistiert aber HW auf dem Ziel. Deswegen die wiederkehrende Ziel- und Begriffsarbeit, deren Treiber die Suche nach einem neuen Normativ ist.

Ich bin versucht, HW die pole position zuzubilligen; das Problem dabei (und sein Problem) ist jedoch: ein solches Ziel gibt es nicht. Dafür gibt es gleich eine ganze Reihe schlechter Gründe:

  • Auf der einen Seite finden sich jede Menge virulenter Krisen, die sozusagen täglich mit Katastrophe drohen und es so sachlich und psychisch nicht gestatten, irgendetwas seriös und engagiert „in Aussicht zu nehmen“ – es könnt’ sich ja stündlich ändern.
  • Auf der anderen – und eigentlich sind das auch „Krisen“ – entwickelt sich Technik in einem globalen Karussell so rasant, dass man heute nicht sagen kann, wovon man morgen ausgehen kann. 

Ich muss also zugestehen, dass AN durchaus Argumente für sich ins Feld führen kann, auch wenn das nichts daran ändert, dass sich mit diesem Realismus kein Blumentopf gewinnen lässt. Im Gegenteil: insbesondere die Krisen fordern Verabredungen und „Gemeinsinn“, wollte man sie am Eintreten hindern. Und hier liegt der Hund begraben; um nicht nur an AN herumzunörgeln, muss auch HW sein Fett abbekommen: Nicht nur der „Dauerkommentar“ lenkt vom Handeln ab, auch das Handeln im Kleinen und die argumentative Arbeit an der Haltung (des Subjektes in der Gesellschaft) lenken von der Knochenarbeit ab, ein halbwegs konsistentes Ziel zu formulieren.