Bereits während meines Studiums im letzten Jahrtausend hatte sich die pazifische Region als aufkommendes geopolitisches Interessenfeld herumgesprochen, und spätestens mit Barack Obama wurde der strategische Wechsel der politischen Aufmerksamkeit regierungsamtlich. Dass die NATO wackelt, das wissen wir also nun schon eine ganze Weile.
..., wenn sich die NATO auflöste
Brand eins via ZEITonline
Propaganda @ work
brand eins – ich hielt das einmal für ein Qualitätsmedium
Europa reagierte: und steckte den Kopf tief in den Sand.
Erst mit Donald Trump wurde der Haarriss zur Bruchkante und erst mit Emmanuel Macron hat das ein europäischer Politiker einmal ausgesprochen.
Nun hatte auch brand eins davon Wind bekommen: es war schon im Januar im Heft und wäre an mir vorbei gegangen, würden nicht ausgewählte, „haltbare“ brand eins-Texte über ZEITonline verbreitet. Und so fand ich vorgestern:
„Was wäre, wenn …
… sich die Nato auflöste?
Ein Szenario.“
Interessant! Mal schaun, was sagen die denn da? Mit ZEITonline kriegt das nochmal eine ganz andere Reichweite und das Thema veraltet auch nicht in Monatsfrist. Und ja, meine Rede, also, naja, ungefähr …
Die ökonomische Ausrichtung des Magazins dahingehend misszuverstehen, dass es seine Textflächen verkauft, grenzt gewiss an Bösartigkeit. Der Text von Christoph Koch ist einer handelsüblichen Lobbyarbeit aber so eng auf Kante geschrieben, dass Zweifel ob seines Zustandekommens schwer im Zaum zu halten sind. Zunächst: Die Stiftung Wissenschaft und Politik, deren Mitarbeiterin Claudia Major in dem Text als (inhaltlich) einzige Quelle zu Wort kommt, hat 180 Mitarbeiter und wird aus dem Etat des Bundeskanzleramtes finanziert (steht auf der WebSite der Stiftung): da fehlt nicht viel, von einer regierungsamtlichen Verlautbarung zu sprechen, zumindest nicht von einer Analyse.
Ich will nicht weiter darüber spekulieren, warum Brand eins das macht. Es befremdet mich. Aber auch, was der Text sachlich anbietet, rangiert irgendwo zwischen schwach und vorsätzlich irreführend.
US-Diplomatsch
Das beginnt schon mal mit der erstaunlichen und durch nichts belegten Behauptung der Frau Major, dass es nur den USA gelänge „die diversen kleinen und grossen Streitigkeiten unter den Alliierten einzuhegen“. Welche Fähigkeit könnte damit gemeint sein? Tatsächlich haben die USA immer den Oberbefehlshaber der NATO, nie aber den für die diplomatische Tagesarbeit zuständigen Generalsekretär gestellt. Und was „einhegen“ ungefähr heissen könnte, das sehen wir an der Ostsee-Pipeline oder bei den Iran-Sanktionen.
Die Aussage gibt den Kammerton vor, ist aber eigentlich nur Atmo. Gleich danach, wenn es um den „Nato-Haushalt“ geht, sehen wir den Fake bei der Arbeit. Die Nato wird, nach eigenen Angaben, über zwei Mechanismen „finanziert“, nämlich indirekt über die am BIP bemessenen prozentualen Ausgaben für das jeweils nationale Militärbudget und direkt, sozusagen für die „Kosten der Organisation“ selbst. Der in dem Text genannte „Haushalt“ von 984 Mrd $ existiert nicht; es gibt nationale Aufwendungen (die man zwar zusammenzählen kann, die aber unter nationaler Hoheit stehen) und es gibt ein Budget („The civil budget for 2020 is € 256.5 million.“ – .. – „The military budget for 2020 is € 1,550.8 million.“), über das die Organisation selbst verfügt. Die Einzelheiten dazu lassen sich bei der NATO nachlesen. Für diese direkten „Betriebsausgaben“
„The US is currently paying for just over 22% of this, while Germany's contribution is 14.76%, and France and the UK just under 10.5% each.“ (Quelle)
Gleich im nächsten Satz wird behauptet, dass die USA mit Ausgaben von 685 Mrd $ in 2019 „knapp 70 Prozent“ des NATO-Haushalts stellen. Richtig daran ist nur, dass die USA diese Summe für ihr Militär ausgeben; was aber diese Ausgaben mit der NATO zu tun haben – ja, richtig: bestimmt nicht nichts –, steht aber auf einem anderen Blatt. Das Internationale Institut für Strategische Studien IISS hat das vorgerechnet:
„Doch mögen diese Aufwendungen noch so gewaltig sein: Die Vereinigten Staaten geben offenkundig nur einen Bruchteil ihrer Militärausgaben für die Nato aus. … Den Analysen des IISS zufolge gab die amerikanische Regierung im vergangenen Jahr rund 35,8 Milliarden Dollar direkt für die Nato aus. Bei einem Verteidigungshaushalt von 643 Milliarden Dollar sind das 5,5 Prozent. Umgerechnet auf das Bruttoinlandsprodukt Amerikas sind es sogar nur 0,2 Prozent.“ (Quelle FAZ)
Das ist ja auch nur logisch: Die USA unterhalten auf eigenem Boden weit über 4.000 und weltweit rund 600 Militärbasen; von ersteren lassen sich keine, von letzteren vielleicht die Hälfte der NATO zuordnen (Eine Grafik auf politico zeigt das). Entscheidend aber ist, dass der überwiegende Teil des US-Militärbudgets zur Finanzierung von Konflikten dient, die mit der NATO nichts und mit US-Interessen alles zu tun haben (Darunter der sogenannte „counterterror war“ (siehe), aber auch Irak, Afghanistan …)
Polit-Prop
Keine der gleichsam regierungsamtlichen Aussagen von Frau Major wird im Text von irgendeiner anderen Seite kritisch kommentiert, es ist reine Propaganda: wer den Text von Christopher Koch liest, soll dazu geleitet werden, die Aussagen des Autors und seiner Expertin zu übernehmen. Dort heisst es:
„Bei der Truppenstärke ist die Dominanz der USA noch größer, dort sind 1,3 Millionen Menschen Militärangehörige, alle anderen Nato-Länder kommen zusammen auf 1,9 Millionen. Die Nato hat keine eigenen Armeen, sondern koordiniert die Truppen der Mitgliedsstaaten; es gibt allerdings eine Kommandoebene mit rund 6800 Militärs.“
Abgesehen von den tatsächlich der NATO zugeordneten Truppen – es sind viele, aber nicht 1,3 Millionen
„The US still has tens of thousands of active-duty personnel in Europe, including Turkey. Germany currently hosts by far the largest number of US forces in Europe, followed by Italy, the UK and Spain.“ (Quelle)
könnte man den eigenen Kopfrechner einschalten und nach umfangreichen Kalkulationen 1,9 Millionen Soldaten für mehr halten als 1,3 Millionen; immerhin haben diese 1,9 Mio (plus die der NATO direkt zugeordneten US-Soldaten) eine über 70 Jahre eingespielte Führungsstruktur: 6.800 Militärs. Auch und vor allem, wenn die USA ausscheiden (und dabei einige von den 6.800 mit nach Hause nehmen), blieben diese Strukturen und Erfahrungen erhalten. Nur bevor der Leser zu dieser naheliegenden Überlegung vordringt, erklärt die Expertin die europäischen NATO-Mitglieder für „kaum verteidigungsfähig“ – und empfiehlt kleineren Ländern, „gerade in Osteuropa“ bilaterale Abkommen mit den USA. … Wo habe ich das schon mal gehört?
Im Anschluss wird erklärt, dass sich ein europäisches Verteidigungsbündnis „gründen“ müsse; günstigenfalls würde das „15 bis 20 Jahre dauern.“ Dass bereits ein Bündnis besteht und nur die Mitgliederstruktur geändert werden müsste (USExit), nein, das ist einfach zu einfach. Obwohl der Autor die Grundlagen eines solchen Bündnis in der Beistandsvereinbarung laut Artikel 42 Abs. 7 des Lissabon-Vertrages zitiert, käme sofort die Frage auf „wer in einem solchen Bündnis das Sagen hätte“.
Und so weiter. Eine geopolitische oder gar geostrategische Sicht, nach der – zum Beispiel – Europa bloss den Cordon Sanitaire für die US-Interessen und den Schutz des US-Homelands darstellt, eine derart abwegige Sichtweise ist dem Institut, dem Autor und brand eins unbekannt.
"Distinguished Senators ask, »What should we tell our constituents when they ask why we should keep American troops in Europe 30 years after the end of World War II?«
The answer remains what it has been throughout that period: because it is in our best interest to keep them there. A free and independent Western Europe, aligned with the United States, is vital for our national security and well-being.“ (Quelle: foreign affairs; Hervorhebung von mir)
Der ganze Text hat nur eine Aufgabe: die virulenten NATO-Zweifel möglichst im Keim zu ersticken und (am Ende) der Lächerlichkeit preiszugeben:
„Der US-Journalist Jim Hoagland formulierte vor Jahren einmal augenzwinkernd: »Immer wenn einen Tag lang nichts Aufregendes passiert, veröffentlichen wir bei der »Washington Post« ein Stück über die Zukunft der Nato.«“
Das ist natürlich besonders deswegen so ärgerlich, weil so ein Text via ZEITonline die meinungsbildende Kernzielgruppe erreicht: genau hier, in der "liberalen bürgerlichen Mitte" besteht ein unreflektiertes NATO-Bias, das so dringlich überprüft werden müsste. Das Thema hat für Europa höchste Priorität, und – important and urgent – wird natürlich umso dringlicher, je Trumpiger die US-Wahl ausfällt.
Um das klar zu stellen:
Auch ich halte einen solchen (USExit-)Prozess nicht für simpel oder blosses Change Management. Aber eine solche Frage dermassen monodirektional, unkritisch und auf dem Niveau von Regierungs-PR zu verhandeln – und das in einem so anspruchsvollen Medium, als das sich brand eins gerne sehen möchte – das hat mir denn doch die Sprache verschlagen.
Nun gut, ich hab sie wieder gefunden ...