In einem Interview in der Welt äussert sich Accenture-CEO Frank Riemensperger zu Fragen der deutschen (und auch europäischen) Industriepolitik und beschreibt den Stand, insbesondere in Fragen der Digitalisierung, als gut bis mangelhaft; wobei wir letzteres aus seinen samtweichen Worten herauslesen können/sollen/dürfen/müssen.
Zwei Herzen schlagen, ach, ...
Wachstum und Wettbewerb
Frank Riemensperger in der Welt
Michelin Uptis; ©-Michelin.com
Einerseits
Ich sehe zwei mögliche Haltungen: auf der einen Seite, in der herkömmlichen ökonomischen Sicht, steht hier, diplomatisch formuliert, alles Nötige; was das MindSet der deutschen Entscheidungsträger betrifft, hätte man das noch sehr viel deutlicher ausdrücken können.
Jahrzehntelang war es das Credo der deutschen Politik und Wirtschaft, dass man das Rad ja nicht neu erfinden müsse.
Leider falsch: Disruption bedeutet genau das! Ein Innovations-orientiertes MindSet akzeptiert den Status Quo nie als gegeben, sondern als Challenge. Michelin hat dafür ein besonders passendes Produkt geliefert (siehe Bild rechts). In einer Gremien- und Arbeitskreiskultur, die in der Mitte den Konsens sucht, haben es trial-and-error-Konzepte schwer: Hast Du verloren, bist Du verloren. Hier liefert das Interview die richtigen Argumente – und, übrigens, demonstriert Accenture seit 20 Jahren, dass es mit blossen Lip Services, eine andere deutsche Krankheit, nichts am Hut hat.
Andererseits
so meine ich, fehlt es aber selbst in dieser Vorwärtsstrategie noch immer an einer Reihe von Zukunfts-tauglichen Parametern. Kritisch sehe ich vor allem das Wachstums- und, damit eng verbunden, das Mobilitätsdogma. Paul Krugman titelte gestern in der NYTimes:
„Australia Shows us The Road to Hell.“
So sehr ich mir wünsche, in einem agilen und leistungsfähigen Umfeld zu leben, dass meine Ansprüche an ein gutes Leben gewährleistet, so sehr muss ich doch einsehen, dass heute jeder Dollar oder Euro Umsatz mit CO2-Emissionen korreliert (0,7 KG CO2/Dollar Umsatz). Es wird auch „der Wirtschaft“ nicht nützen, wenn wir „mit ihrer massgeblichen Beteiligung“ unsere (Über-)Lebensbedingungen ruinieren – btw: mit Strahlungseffekten auf alle Migrationsbewegungen.
Kritisch sehe ich aber zudem, dass die Konzepte der Vollautomatisierung und der KI Hand anlegen an die Grundlagen unserer fiskalischen Strukturen – die sämtlich auf der Erwerbsarbeit aufsetzen. Aber ja, es entstehen neue Arbeitsplätze: im Verhältnis ~ 1:10; auf einen neuen Arbeitsplatz kommen 10, die wegfallen; quer durch alle Branchen und Qualifikationen. Dass diese neuen Arbeitsplätze gründlich andere Qualifikationen erfordern, als sie das freigesetzte Personal anbieten kann, ist dann nur noch eine Nebenbemerkung.
Die Vehemenz, mit der technologische Innovation dieser Erwerbsarbeit an die Substanz geht, aber auch das Tempo – das natürlich unter den globalen Wettbewerbsbedingungen als mission critical erscheint –, untergraben zugleich die Reaktionsmöglichkeiten von Staat und Gesellschaft –, gerade unter den Anforderungen der demokratischen Konsensfindung (flapsig: In China lässt sich leicht verordnen, was im Westen mühsam ausverhandelt werden muss).
Unter diesen Bedingungen kann der gesellschaftliche Wandel mit dem technologischen nicht mithalten. DESwegen, so jedenfalls meine Meinung, ist es eine unabweisbare Forderung an die ökonomischen Denkfabriken (dazu zähle ich auch Accenture), Konzepte zu erarbeiten, die dem anwachsenden Wandlungsdruck makroökonomische, gesamtgesellschaftliche, ja, sogar soziokulturelle Machbarkeitsüberlegungen zur Seite stellen. Am Ende braucht es nicht weniger als Konzepte der politischen Disruption, die nicht zugleich den Bestand der Gesellschaft gefährden.
Bravo, Herr van Deelen!
Herr Riemensperger betätigt sich als Sprechautomat seiner Mandantschaft. Denn natürlich sollte "der Staat" (whoever that is) ein Interesse daran haben, die (gesetzlichen) Rahmenbedingungen zu schaffen, welche "seinen" Unternehmen das Bestehen im Wettbewerb ermöglichen, aber warum sollte er sich durch Drohungen, welche in Sätzen wie dem folgenden stecken, erpressen lassen? "Die deutsche Politik hat verstanden, dass unser Standort ohne digitale Infrastrukturen sehr bald massiv an Wettbewerbsfähigkeit verlieren wird." Warum soll das Steuervieh blechen, wenn zwar "Siemens und Bosch [...] in eigene Plattformlösungen für den Maschinenbau investiert [haben]. Aber [...] daraus [noch] keine Lösung für die ganze deutsche Industrie geworden [ist], Industriekonsortien [...] sich zu diesem Zweck noch nicht gebildet" haben?
Tough beans, buddy, 'cause that's the way it's gonna be, würde Holly Golightly dem jammernden Herrn Riemensperger und seinen hinter ihm lauernden Freunden wohl mit auf den Weg in die Selbständigkeit geben.
Ich habe den Eindruck, die ganze verrückt-optimistische Tonlage in diesem "Welt-Gespräch" voller abgenudelter Blackrock-Ackermann-Merz Stereotypen ist weniger eine Frage des intellektuellen Temperaments oder der politischen Klugheit von Frank Riemensperger als vielmehr eine seiner theoretischen Rahmung: Trotz seiner Aufmerksamkeit für Krisen, "Disruptionen" und "Paradigmenwechsel" denkt er die Umbrüche der Gegenwart als Abfolge von Transformationen in der Moderne. Die Möglichkeit eines Bruchs mit der Moderne schließt er zwar nicht aus, macht sie aber nicht zum Gegenstand systematischer Reflexion. Seine Spätmoderne mag sich von der industriellen Hochmoderne noch so sehr unterscheiden – wie, das arbeitet er eindrucksvoll heraus – doch sie bleibt eine Etappe im Modernisierungsprozess. Dazu passt, dass die ökologische Krise und ihre möglicherweise katastrophischen Dimensionen in seiner Analyse so gut wie keine Rolle spielen: Keine einzige Fußnote geht auf die Fridays for Future-Bewegung ein, und nirgends deutet er auch nur mit einem Wort an, dass der Klimawandel eine grundlegende Revision des "Fortschrittsgedankens" erzwingen könnte (z. B. dass "die jährlichen Produktionskapazitäten von 100 Millionen Autos auf bis zu 130 Millionen steigen"). Das Wort "Ökosystem" kommt bei ihm nur als Imponierfloskel aus dem Dammpfphrasenvorrat der "agilen" HR-Geblubbers vor. Das ist alles. Den Gedanken, dass wir nicht mehr in der Spätmoderne, sondern schon in der Zuspätmoderne leben könnten, will er nicht denken.
Kleine Ergänzung durch einen Macher (der natürlich auch keine Vermögensabgabe zahlen möchte):
Der Milliardär, Investor und Mäzen Hasso Plattner hatte vor fünfzig Jahren zusammen mit vier Kollegen IBM verlassen und 1972 SAP („Systeme, Anwendungen und Produkte in der Datenverarbeitung“) gegründet, um Software für Unternehmen zu entwickeln. Heute hat der Konzern weltweit fast 100.000 Mitarbeiter und ist mit einem Börsenwert von rund 150 Milliarden Euro das wertvollste börsennotierte Unternehmen Deutschlands. Hier ein (kleiner) Ausriss aus dem (ganzseitigen) FAZ-Gespräch vom Sonntag vor Weihnachten mit SEINEN Thesen zum Thema „Zukunft der Arbeit im digitalen Wandel“:
▶ Plattner (einerseits): Wir haben eine ungehemmte und unkontrollierte Informationsverteilung, die sehr zum Nachteil der Kultur, der Sicherheit und der politischen Meinungsbildung funktioniert. Wie können denn Informationen verteilt werden, ohne dass da die professionelle Vor- und Nachbereitung von Journalisten eine Rolle spielt? Es ist doch fürchterlich, was über ganz andere Kanäle explosionsartig verbreitet werden kann. Ich war der Meinung, dass die freie Meinungsäußerung zu einer Liberalisierung und zu einer besseren Welt führt. Nein! Es führt zu einem ideologisch verfärbten Bild, in dem die Leute nach dem greifen, was sie gerne mögen. Sie informieren sich gerne über das, was sie eh schon glauben.
(…)
▶ Plattner (andererseits): Noch nie konnten einzelne Personen oder kleine Gruppen so schnell etwas bauen und damit erfolgreich werden wie in der Softwareentwicklung. Selbst in der Hochphase des Automobilbaus war es nicht einfach, eine Fabrik aufzubauen und in die Massenproduktion zu gehen. Das ist in der Software unvergleichlich viel einfacher, weil die Vorabinvestitionen sehr niedrig sind. Dadurch gibt es eine ganz starke Bevorzugung der Talente.
(…)
▶ Plattner (abschließend): Wir kommen nicht um eine Diskussion über das Grundeinkommen herum. Wir müssen jedem eine Wohnung, ein ordentliches Einkommen und eine Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen. Bald werden sich große Teile der Bevölkerung, vielleicht 30 Prozent, nicht mehr am Wertschöpfungsprozess beteiligen können. Daran werden auch noch so viele Schulungen nichts ändern. Man kann Fußballspieler in der fünften Liga noch so sehr trainieren, daraus werden keine Bundesligaspieler. Jedes Talent muss ausgegraben werden. Trotzdem fallen jene Leute unter den Tisch, die Jahrhundertelang eine solide Arbeit verrichtet haben, dank ihrer körperlichen Fähigkeiten. Denken Sie an die Menschen im Bergbau, in der Montage. Alle diese Jobs sind mehr oder weniger weg.
▶ FAS: „Aber man kann doch nicht 30 Prozent der Menschen sagen: Du bist einfach nicht fähig dazu, Arbeit zu verrichten, die dich mit Sinn erfüllen kann!“ Plattner: „Unsere Kultur sieht solche Diskussionen nicht vor. Aber deshalb darf man das Problem doch in der Politik nicht ignorieren. Ich sehe keine Alternative zum Grundeinkommen. Die Politik muss sich darum offensiv kümmern.“
Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 51 vom 22. Dezember 2019, Rubrik „Wirtschaft“, Seite 22
Der nüchternste, klarsichtigste und unverblümteste Kommentar zu diesem gewaltigen sozio-ökonomisch-psychologischen Komplex stammt aus dem Jahre 1930 und ist im Netz als PDF unter den folgenden Stichworten entweder im englischen Original oder in deutscher Übersetzung leicht zu finden:
▶ John Maynard Keynes, “Economic Possibilities for our Grandchildren" [aspeninstitute.org]
▶ John Maynard Keynes "Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder" [sokratischer-marktplatz.de]