Am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam hat Carlo Masala am 23-IX-2025 eine bemerkenswerte strategische State-of-the-Challenges-Rede gehalten; sie ist hier dokumentiert (ab Minute 24 geht es los). Der Vortrag und die anschliessende Q+A war von Realismus gesättigt und hielt eine Reihe von Einsichten bereit, die anderwärts, wenigstens nicht so komprimiert, selten zu haben sind.
Eine erste, möglicherweise überraschende Erkenntnis ist, dass auch für die USA das Geld knapp ist; man glaubt es ja kaum, und angesichts des US-BIP, der Budgets und des zuweilen gross-sprecherischen Getues kommt man auch nicht von allein auf die Idee. Eher hatte sich, wenigstens bei mir, so eine Vorstellung eingenistet: solange China amerikanische Dollars hortet, …
Jetzt aber berichtet Masala über die im Pentagon längst durchgesetzte Haltung, dass man sich einen Krieg an zwei Fronten (China/Taiwan – Russland/Ukraine) nicht mehr leisten könne und zitiert einen anonymen Gewährsmann: „We can’t keep the Empire, because it’s too expensive. If we want to stay a world power, we’ve got to get rid of the Empire.”
Das ist noch nicht die ganze Wahrheit, wenigstens nicht die vollständige Begründung.
Der sogenannte Schutzschirm über Europa, den die USA nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der NATO aufgespannt hatten, schützte nur nominal die Freunde und Partner, de facto aber vor allem US-amerikanische Interessen, ökonomische, einerseits, denn damals, im Krieg nach dem Krieg, hatten die USA noch namhafte Investitionen und Handelsbilanzüberschüsse zu besichern, aber auch militärische, wollte man doch den (wieder) möglichen heissen Krieg während der Phase des Kalten Krieges soweit möglich in Europa binden. Der "Schutz" ging soweit, dass in den strategischen Planungen Hattenbach als "Ground Zero" vermerkt war. Mit Ausnahme des kleinen Zeitfensters während der Pershing-II-Debatte hat die öffentliche Meinung in Deutschland diesen Sachverhalt weitgehend ignoriert – und erwähnenswerts ist er nur, weil er massgeblich ist für den nunmehr unbestreitbaren Verlust des strategischen Interesses: Die Handelsbilanz ist schon sehr lange defizitär (auch wenn hier der Tech-/Dienstleistungssektor propagandistisch unterschlagen wird) und den Kalten Krieg sah man als historisch überwunden an (… dass die Ukraine dieser Vorstellung und dem mit ihr verbundenen Strategiewechsel zuwiderläuft, steht auf einem anderen Blatt und wird in der Wankelmütigkeit der US-Administration reflektiert). Ob halbe oder ganze Wahrheit – Fakt ist es gleichwohl: Die Amerikaner sind auf dem Rückzug, als Partner einer künftigen Sicherheitsstrategie unwillig und, zumal unter Trump, unzuverlässig. „Der transatlantische Pfeiler wackelt”, sagte Masala.
Meine Interpretation geht darüber hinaus: er wackelt nur, solange er nicht gefordert wird. Bei der ersten Belastungsprobe bräche er weg! Das, scheint mir, ist – zumal in NATO-Kreisen – noch nicht öffentlich sprechbar, in der Summe der Einzelaussagen aber ist auch diese Erkenntnis unvermeidlich.
Die richtige Schlussfolgerung, so Masala, sei jedenfalls in ganz Europa angekommen: das inzwischen durchgesetzte 3,5/5%-Ziel wurde zwar als Beruhigungspille für Trump gelesen, vor allem, um die USA solange im Boot zu halten, wie man den eigenen Kräften noch nicht allzuviel zutraut. Ich sehe das ähnlich, aber doch anders: Realiter ist die Beistandsillusion lediglich ein Propagandainstrument und dient dem Versuch, Russland „möglichst lange” in Unsicherheit und so von kriegerischen Abenteuern abzuhalten. Das, vermute ich, müsste auch Masala vermuten, zeigt er doch auf, dass die 3,5%-Zusage weder in Frankreich noch in Grossbritannien und schon gar nicht in Italien bedient werden wird. Verschärfend hinzu käme, dass sie als Zielmarke für 2035 zugesagt wurde, während alle Experten darüber einig seien, dass sie bis 2029 erreicht werden müsste, denn: 2029, so Masala, habe sich als kritische Zeitmarke durchgesetzt, nach der mit einer möglichen Auseinandersetzung Russlands mit der NATO zu rechnen sei. Und so kommt Masala auf den eigentlichen Knackpunkt der Zeitenwende zu sprechen – es sind zwei. Erstens habe Kanzler Merz den Anspruch formuliert, dass Deutschland die „stärkste konventionelle Armee” Europas stellen solle. Dabei zeigen die 3,5% ihren Januskopf: sie beruhigen und „binden” die USA – ja, vielleicht –, aber sie transferieren AUCH die Verantwortung auf eben diese „stärkste Armee”. Längst würde genau das von den NATO-Verbündeten gefordert: Deutschland MUSS die Führungsrolle auch übernehmen.
Und dann käme es zur Nagelprobe: Wenn die Ukraine, wie es heisst, für die europäische Sicherheit existentiell ist, dann kann sich die "stärkste Kraft" aus der Besicherung des Friedens on the ground nicht raushalten, so er denn zustande käme. Im Raum stünde das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung mit russischen Truppen – aber … was sonst wäre die Bedeutung von Stärke und Führung für andere NATO Partner, die baltischen Staaten?!
Und daraus resultiert zweitens die, in den Augen Masalas, sogar grössere Herausforderung. Die eigentliche Zeitenwende müsse nämlich im politischen Raum ankommen: „Wie kriegen wir eine deutsche Gesellschaft, die bereit ist, den Preis zu zahlen, und damit meine ich den politischen und den ökonomischen Preis über einen längeren Zeitraum, den eine mögliche Auseinandersetzung im Rahmen der Bündnisverteidigung nach sich ziehen würde.” Und da habe er, Masala, seine Zweifel.
Berechtigte Zweifel, denke ich – aber! was, bitte, helfen die?
Ich teile Masalas Analyse, aber zugleich kann ich diese Abwärts-Kommunikation nicht mehr hören. Europa als eine Horde von 50-Pfund-Schimpansen: selffulfilling prophecy! Wie oft habe ich gehört und gelesen, dass Europa zu schwach sei, nicht fähig, Lücken allüberall, der Wille fehle, die Kompetenzen, dass dies nicht gehe und jenes nicht funktioniere und nur 10 von 200 Panzern seien auch fahrbereit. In wie vielen Varianten wurde und wird weiterhin in der Öffentlichkeit das Zutrauen und auch das Selbstvertrauen geschleift und Europa „kaputt geraunt”! Einen mindestens gleich grossen Anteil an der misslichen Lage haben die Uneinigkeit Europas UND die medialen Tänze um die Uneinigkeit. Abhilfe schaffen nur Zuversicht und Forderungen: man muss genau sagen, was geschehen soll. Und was die Zuversicht angeht: Würde denn, wenn es darauf ankäme, Europa nicht eine ähnliche Resilienz entwickeln, wie es die Ukraine gezeigt hat? Und selbst wenn! das unsicher wäre: welchen Beitrag leisten dazu die ständigen Versicherungen und Klagen über die kollektive Unzulänglichkeit, die vorauseilende Mutlosigkeit? Und hilft es tatsächlich zur Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit, der Kriegsfähigkeit, wenn es sein muss, wenn man zugleich eins ums andere Mal (und mit Umfragen belegt) den „Willen des Volkes” bezweifelt, sich notfalls verteidigen zu wollen? Es ist eine Medienerkrankung, die, btw, in alle gesellschaftlichen Bereiche ausstrahlt.
Jemand wie Masala würde vermutlich Realismus und eine aufgeklärt-kritische Weltsicht für sich in Anspruch nehmen; ich käme nicht auf die Idee, ihm die besten Absichten abzusprechen. Wahrer Realismus aber macht sich die alte chinesische Propagandaweisheit zu nutze: „Yü Gung versetzt Berge” – die es (na klar) auch in der katholischen Version gibt.
Es verläuft womöglich ein nur schmaler Grad zwischen der legitimen und nötigen Kritik und dem Abwärtsgejammer; sicher ist aber doch, dass es Perioden und Sachlagen gibt, in denen das Gejammer einen grösseren Schaden anrichtet als das etwaige Ausbleiben einer Kritik.