Du kannst den Jungen aus dem Slum rausholen, aber Du kriegst den Slum nicht aus dem Jungen raus. Ähnlich geht es mir: meine zweite politische Sozialisation durchlief ich bei den Frankfurter Spontis, der „undogmatischen Linken”. Schon damals war ein Leitspruch der Szene: Du musst mit Deinen Widersprüchen leben.
Und das hies vor allem: Du musst sie Dir eingestehen!
Wenigstens, was mich angeht, so sitze ich noch heute (ungern!) zwischen den Stühlen; ein wenig komfortabler Ort. Bei dem Versuch, meine moralische Integrität gegen die Realität und das Juste Milieu zu verteidigen, gerate ich oft, wenn nicht immer, ins Abseits. Besonders schwer wurde es mir, meine noch immer irgendwie „linke” Grundhaltung gegen den Zeitgeist zu verteidigen, der wokeness, political correctness für Charakterstärke erklärte und Identitäsfragen mit politischem Handeln verwechselte. (Schon richtig: auch das Private IST politisch, aber „die Politik” ist Makro, nicht Mikro.)
Am vorläufigen Ende dieses Dilemmas stellte ich fest: Links – bitte, was soll das sein?! Was ich heute unter dem Label identifiziere, ist überwiegend undurchdachter Affekt, mitunter vorsätzliche Dummheit und oft eine Verweigerung von historischen Einsichten.
Mein Zitat heute geht um Julia Ruhs, den ÖRR, die Dummheit, die allgemeine Aufregung. Gehen wir die Causa Ruhs eine Ebene höher an und fragen nach den Fallstricken der Meinungsfreiheit.
Ruhs sollte den Versuch moderieren, konservative Stimmen und Stimmungen in den links-grün-versifften Medien zu präsentieren. Schon der Plan disqualifiziert seine Initiatoren, aber das ist ein anderes Thema. Der Versuch sei, heisst es, ideologisch geglückt – worüber die Aufregung gross ist – und journalistisch grottenschlecht – worüber die Freude noch grösser ist. Denn der NDR schasst die junge Moderatorin (um, Höhepunkte der Personalpolitik, Tanit Koch an ihre Stelle zu wuchten), während der BR es sich nicht nehmen lässt, an ihr festzuhalten. Und die Meinungsfreiheitsdebatte rollt wie ein Tsunami über Land, bedenklich, gefährlich, Zensur, Staatsfunk. Meinungsfreiheit! Die Republik wackelt.
Mich hatte seinerzeit Ernst-Wolfgang Böckenförde so nachhaltig beeindruckt, dass ich ihn bei jeder Gelegenheit zitiere, die nicht bei drei im Feuilleton untertaucht: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Das ist ein durchaus komplizierter Satz. Auch die Meinungsfreiheit kann ihre Voraussetzungen nicht garantieren – im Gegenteil ist sie selbst geeignet und befähigt, ihre Bedingungen der Möglichkeit zu unterlaufen, sogar zu beseitigen.
Das Verwirrende daran: mit der Meinung selbst, welcher auch immer, hat das nichts/zumindest nicht immer zu tun; entscheidend ist die Disposition, die Haltung, das Ziel des Meinungsinhabers. Von Julia Ruhs z.B. wird gesagt, dass sie vor allem damit beschäftigt ist, ihr Profil zu pflegen – und ihre Meinung dazu nur ein probates Mittel sei. Zumindest passt das in mein Vorurteil von der GenZ; naja, kann sein, und doch und darüber hinaus:
Sowohl die opportunistisch-karrieristische wie auch die opportunistisch-liberale Kritik bleiben unter dem Problemhorizont.
Worte sind Waffen, genau das haben doch die asozialen Medien gezeigt und zeigen es täglich. Der Mainstream argumentiert gern mit aufgerissenem Hemd, dass „uns die Meinungsfreiheit heilig ist” (– und was könnte ich dagegen sagen!, nehme ich sie doch selbst für mich in Anspruch). Analytisch genügt das nicht! Denn Meinungsfreiheit erweist sich mitunter auch als vorsätzlich lancierte Nebelbombe, wenn es „der anderen Seite” nicht um den honorigen intellektuellen Wettstreit geht, sondern um den Ausbau von Machtpositionen und letztlich die Abschaffung der Freiheit. Von Andreas Baader stammt der Satz: „Eure Gesetze sind mir scheissegal, aber wehe Euch, wenn Ihr Euch nicht dran haltet.” Wenn das – in Analogie – die Haltung eines Meinungsinhabers ist, dann wird die Freiheit zum Vehikel, um sie gegen die Freiheit zu wenden.
So derzeit das Programm in den USA.
Strategen gehen dabei wie vor Gericht vor, Schritt für Schritt: Wer eine Schuld einklagen will, ist gut beraten, mit einer Teilschuld zu beginnen. Das hält die Kosten – in jedem Fall – niedrig und schafft, wenn der Plan aufgeht, einen Präzendenzfall, einen Brückenkopf: „First we take Manhattan, than we take Berlin.”
Noch ein Aspekt scheint mir wichtig: geht es mit der Gesellschaft (gefühlt) bergauf, ist der Meinungsstreit gerne integer. Bei Lanz und Precht hörte ich den Hinweis auf Hauser und Kienzle, die ihren links/rechts-Streit gepflegt vor der Kamera austrugen. Das war letztes Jahrhundert! Heute hat der politische Streit einen grundlegend anderen Charakter, denn mit der ganzen Gesellschaft geht es (gefühlt) bergab. Jetzt finden Verteilungskämpfe statt, jetzt geht es um Bestandssicherung, die Grosszügigkeit (beider Seiten) ist vorbei. Gerade mit dem Beispiel Donald Trump täglich in den Schlagzeilen wird deutlich, dass die Meinungsfreiheit längst nicht mehr die idealistische Institution des Grundgesetzes ist, sondern (auch/öfter/überwiegend – zumindest aus einer Richtung) ein trojanisches Vehikel zu einem unfriendly take over des Staates. Indem der liberale Mainstream tapfer die Fahne hoch hält, hält er der feindlichen Übernahme zugleich den Steigbügel. Ob Julia Ruhs für diese Überlegungen schon das nötige Gewicht in die Waagschale bringt, … ja, eine berechtigte Frage. Auch Rezo hat sich versendet.
„Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit”.
Ähnlich wie mit dem AfD-Verbot (mein Essay s.o.) verhält es sich bei der Meinungsfreiheit; eine philosophisch-logisch-moralisch saubere Linie gibt es nicht. Du kannst Dich nur eins ums andere Mal entscheiden.