Über das "Meinen" und das "Wissen"

Ich lag falsch

 

 

 

In meinen jüngsten Beiträgen kam es mehrfach zu Vorfällen; das Problem: meine Meinung. Anfangs dachte ich gar nicht drüber nach. Dann stellte ich fest, dass ich mich andauernd in den Fallstricken meiner Meinung verfing.

Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt

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Die Beichte – im katholischen Lebensraum, und im lokalen besonders, war das mal ein zentrales Kontrollinstrument. Sie ist aus der Mode, im neueren deutschen Alltag gibt es die Beichte kaum noch, zumindest ist sie mit dem Aussterben beschäftigt. Über der Beichte obwaltet die seelsorgerische Verschwiegenheitspflicht, aber, wer weiss, auch andere Pflichten werden mitunter vernachlässigt, und, wer weiss, selbst das Schweigen gebiert dunkle Macht. In der Beichte werden Sünden offenbart; dann wird Vergebung versprochen. Eben darin materialisiert das Entlastende, Erlösende, Befreiende.

Ohne Beichte keine Vergebung, also!

Die Vorgeschichte kannst Du genau hier lesen: in diesem Blog. Unregelmässig, aber doch einigermassen beständig, gebe ich hier Einblicke in mein Meinungsleben; es schwankt. Immer mal wieder stört das Geschwätz von gestern, das ich dann umständlich aus den veränderten Anschauungen herauskomplimentieren muss: „… unter den seinerzeit obwaltenden Umständen …“ usw.. Aber darum geht es. In den zurückliegenden – sind es Jahre? doch, schon – Jahren habe ich mich der Sünde des Irrtums schuldig gemacht und eine Reihe von Einschätzungen vertreten, die sich als falsch bis grottenfalsch erwiesen haben:

  • Ich war zu einhundert-x-und-zwanzig Prozent davon überzeugt, dass Trump nicht gewählt werden KÖNNE. Das war leider falsch.
  • Ich hatte die Überzeugung vertreten, dass die europäischen Interessen hier, auf „unserem” Kontinent, zu Hause sind – und daher ein einvernehmliches Verhältnis zu Russland in „unserem“ Interesse liege – damit lag ich leider falsch. Es ist u.U. immer noch richtig, aber die Umstände sind so nicht.
  • Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass die Ukraine in Nullkommanix „heim ins Reich“ geholt werden würde. Padauz! Das war falsch; leider wohnt auch hierbei ein leider in den Nebenwirkungen.
  • Ich habe zudem befürchtet, dass eine „Rote Welle“ von Republikanern über beide Kammern des Kongresses schwappen würde und Joe Biden nichts mehr zu regieren hätte. Man glaubt es kaum, auch das war falsch; auch wenn es im Ergebnis halb richtig war.
  • Und schliesslich war mir glockenklar, dass „The Donald“ wiedergewählt werden würde, würde er NICHT angeklagt werden. Und auch das war falsch. Zumindest die Hoffnung hat Anlass.

Falsch, falsch, falsch, Alles falsch.

Für jemanden, der sich mit Kommentaren nicht zurückhält – und gerne davon ausgehen möchte, damit (aber wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein) einen gewissen Eigenwert im allgemeinen Meinungschor zu erzeugen – ist diese Beichte ein schmerzliches, peinliches Eingeständnis. Ich habe mich der Hoffart schuldig gemacht und täte vermutlich besser daran, genau das in einem Akt der Selbstvergebung unter den Teppich zu kehren.

Mein Fehler – und da staunst Du!

Es gibt jedoch, im Gegenteil, einen gewichtigen Grund, einen Moment länger mit meinen Sündern zu verbringen und darüber nachzudenken: Denn dort, im schattigen Abseits, stehe ich mit meinen Fehl-Einschätzungen keineswegs alleine herum; nicht die Spur, da herrscht Gedrängel! Beim Fahnenappell, und nach einer ersten, überschlägigen Zählung, fehlen nur jene Opportunisten, die vorher die Klappe gehalten und hinterher alles gewusst haben wollen.

Kürzlich habe ich ein um die Grundlagen unserer Öffentlichkeit ernsthaft besorgtes Statement eines demokratischen Seelsorgers gelesen, der darin gefordert hat, man möge „den Diskurs über Wissen von dem über Meinungen methodisch trennen.“

Vor lauter Scham glühten uns Sündern die Wangen bei dieser Predigt, doch gleich nach der Schrecksekunde legte sich meine Stirn in Falten: geht das denn? Wobei …, ich las weiter: „Wissen wird stets von Irrtum begleitet, was heute als richtig gilt, kann sich morgen als falsch erweisen.“ Na bitte, da, dachte ich, da liegt der Hase im Pfeffer. Und deswegen lohnt es, einen Moment darüber nachzudenken.

Anekdotisch kann ich berichten, dass ich folgendes wusste (sicher!):

„Wir haben noch einen Liter Milch im Kühlschrank.“ –
„Bist Du sicher?“ –
„Ähh, … sicher?, also, puhh, das ist eine andere Frage …“

Verstehst Du: Sicher bin ich sicher, bin ich aber auch gegenüber den Voraussetzungen meiner Sicherheit sicher? ICH habe die Milch noch gestern Abend dort gesehen, und ICH habe nicht gesehen, dass irgendwer sie ge- oder verbraucht hätte. Aber was heisst das schon?

Die Anekdote unterstellt ein gegebenes Wissen: entweder der Liter Milch ist da oder nicht da – vielleicht ist er inzwischen angebrochen worden und deswegen nur noch unvollständig; der Sachverhalt ist klar. Was auch immer ICH weiss, irgendwas ist Fakt – zumindest ist das die gängige Meinung. Mag sein, dass für einen Quantenphysiker:innenden die Milch da ist UND nicht da, beides zugleich – wir Normalsterbliche lassen uns davon nicht beirren. Und wir brauchen darüber auch nicht diskutieren: Geh doch nachschauen!

Aber. Der Punkt ist, dass wir bei der überwältigenden Mehrzahl der (relevanten) Sachverhalte nicht wissen, was wir wissen („Bist Du sicher?!”) und ob unser Wissen gesichert ist („Woher weisst Du das?”) – sei es, das wir es nicht überprüft haben und/oder nicht überprüfen können. Darüber reden wir: eine Leerstelle, unbekannt, Spekulation. Und in der überwältigenden Mehrzahl der Sachverhalte ist die Prüfung des vermeintlich Gewussten materiell gar nicht einlösbar: der gemeinte oder.  gewusste Sachverhalt befindet sich ausserhalb der Reichweite: Du lebst nicht in den USA, ich nicht in der Ukraine, nicht in Bayern, nicht in Münster – und selbst wenn, die allermeisten Fragen können wir nicht beweisfest überprüfen. Und doch haben wir eine Meinung!

Nahezu der gesamte politisch-kommunikative Raum befasst sich mit – zumindest im gegebenen Augenblick – unüberprüfbaren Sachverhalten. Hat der das gesagt? Oder nicht? Oder wer anders. War es wirklich gestern? Oder doch vorgestern? Stimmen die Zahlen, Zeiten, Orte, Beteiligten …? Die allermeisten der zur Diskussion stehenden (relevanten) Sachverhalte sind Gegenstand widersprüchlicher Quellen, Daten, Faktenbehauptungen.

„Ab 5:45 wird jetzt zurückgeschossen, und ab jetzt wird Bombe mit Bombe …“

Was WISSEN wir denn schon?! Beim Research zu vielen Themen musste ich zur Kenntnis nehmen, dass selbst als fundierte auftretende Forschung, kleinteilige Studien, allgemein als „gesichert” geltende Sachverhalte … einem bias unterlagen, falsch waren, Interesse-getrieben „verbogen” oder schlicht manipulativ. Und selbst wo alles ist, wie es scheint: ICH könnte das Gegenteil nicht ausschliessen. Ich muss „glauben”.

Der Glaube …

… kleidet sich dann in ein Konditional: „Ich gehe davon aus, dass …“ Und zwar, weil ich es hier oder da gelesen, hier oder da gehört oder gesehen habe. Oftmals bewähren sich die Annahmen sogar, meistens dann, wenn die Fakten mit dem Konditional übereinstimmen. Allerdings gibt es eine unangenehm unübersichtliche Reihe von Sachverhalten – kurzer Hinweis auf die flache Erde, die vier Elemente des Lebens, Edgar Snowdon et. al. – in denen sich auch die „alternativen Fakten“ eine unerträglich lange Zeit halten können; so auch im Irak in der Causa Massenvernichtungswaffen.

Und sie bestimmen (über) unser Leben!

Fehlt nicht viel und man müsste sagen, dass alle tatsächlich relevanten Fragen unserer Gegenwart wie aus einer Wolkenlandschaft aus Unklarheiten beschieden werden, bei denen sich das Gesicherte wie das Erfundene anfühlt, oder umgekehrt, oder nicht, oder doch … Und schlimmer: die einen sagen so, die anderen so.

„Müssen die Atomkraftwerke weiter betrieben werden, damit wir über den Winter kommen?“

Um eine solche Entscheidungsfrage zu beantworten, müssen eine Reihe von Unwägbarkeiten jongliert werden: Dann nämlich muss man zu allererst einmal davon ausgehen, dass keines der Dinger unterwegs der Verlängerung eine Kernschmelze erlebt; aber auch davon, dass der Winter soo kalt wird, dass es zu Energie-Versorgungsengpässen kommt; und auch davon, dass die zahllosen (derzeit über dreissig, sagte Petra Pinzler bei Anne Will) im Atlantik vor sich hindümpelnden und auf bessere Märkte wartenden LNG-Schiffe nicht ausreichen werden; und schliesslich auch davon noch, dass die (immer noch vermeintlichen) Engpässe, tatsächlich mit eben jenen Energien ausgeglichen werden können, die von den Atomkraftwerken erzeugt werden (in dem Sinn, dass die AKW nicht etwa fehlendes Öl substituieren könnten, oder, dass der Strom auch dahin gelangen kann, wo der Engpass bestünde).

Zum Entscheidungszeitpunkt liegen die Antworten auf die Fragen nach all diesen Vorbedingungen in der Zukunft; wir wissen es also nicht! Definitiv nicht. Deswegen werden für die Entscheidungsfindung Wahrscheinlichkeiten und Vorgaben geprüft: „Unter der Bedingung, dass …“ und „Unter der Annahme, dass …“ Und dann, wenn die Entscheidungen einmal getroffen wurden, so verändern sich dadurch sogleich die Parameter. Im Nachhinein ist dann auch nicht mehr prüfbar, ob eine Entscheidung denn richtig war: „Hätten wir gleich richtig …, so wären …” Hätte, hätte, Fahrradkette.

Wer sich nicht mit Rücksicht auf das eigene Interesse irgendwas in die Tasche lügt, der m/w/d weiss natürlich um die Unbelastbarkeit der eigenen Meinung. Es hilft nur nicht weiter. Denn jede politische Frage wird im Hier und Jetzt beantwortet, also fast immer im Reich der Annahmen und Vorbedingungen. Und dabei stützen wir uns auf die Gemengelage, wie sie sich aus dem von uns konsultierten medialen Kanon ergibt, gern mit Verweis auf die öffentlich-rechtlichen- und „Qualitäts-” Medien, deren Nachrichtenlage wir für Fakt nehmen … wollen.

Tatsächlich, das haben wir in der Ukraine und bei vielen anderen Gelegenheiten gelernt, ist eine „Nachrichtenlage“ oft genug auch „nur eine Meinungslage“, die als eine Cuvée aus Fakten, Annahmen und Vorbedingungen komponiert wurde. Wie stand es um die militärische Stärke der Ukraine oder ihre „Kampfbefähigung” zu Beginn des russischen Überfalls? Wie stand oder steht es um die Ressourcen, Fähigkeiten und Einsatzbereitschaft der russischen Armee? Wer hat welche Verluste erlitten oder Reserven zur Verfügung? Die Experten lesen auch nur …die NYTimes oder die britischen Geheimdienst-Kommuniqués. Nur eine Minderheit verfügt über einen direkten Zugang zu einschlägigen Quellen, Familie, Freunde, Netzwerk; das breitere Publikum vertraut irgend einem Bauchgefühl, eine grob verdaute Interpretation des öffentlichen Geschehens/Berichtens/Raunens, das von der Bild über die taz bis in den ÖRR reicht und, leider, in einem unüberschaubaren Ausmass von den Direktmedien bereichert bis vergiftet wird. SO kommen wir zu unseren Irrtümern – und es ist geradezu lächerlich, wenn jemand der Vorstellung nachhängt, in einer Angelegenheit „recht“ zu haben.
Das ist sogar noch dann albern, wenn er m/w/d tatsächlich richtig liegt, denn ob oder dass das der Fall ist, kann er ahnen, aber nicht „wissen“.

Umso erstaunlicher, dass die Gesellschaft es sich leistet, aus diesen Nebelwallungen gesellschaftlich relevante Entscheidungen abzuleiten.

Was liesse sich zur Begründung anführen? Einerseits praktisch: selbst wenn die Historiker späterer Generationen leidenschaftlich darüber streiten, ob es soo war oder anders, für das Tagesgeschäft lässt sich immerhin anführen, dass die allgemeine Informationslage gewisse Ähnlichkeiten mit der Realität erreicht. Nicht alles ist falsch, fake oder unvollständig. Wenn vier unabhängige Quellen das gleiche behaupten, mag das auf (nur) einer Originalnachricht beruhen – es wurde aber einem Plausibilitätscheck eben jener vier Quellen unterzogen und – zumeist – durch mittelbare Informationen aus dem Umfeld des Originals verdichtet. In anderen Worten: Auch die „Meinungslage” kann eine gewisse, vermutlich zeitlich eingeschränkte, aber praktische Realitätstauglichkeit für sich in Anspruch nehmen.

Systemfehler

Aber ich lenke ab: mea culpa!, es bleibt dabei. Und doch. Es ist ja nicht so, dass ich quasi aus einem Zustand der un-informierten, durchschnitts-amerikanischen Dummheit zu meinen eigenen Einschätzungen gelangt war: ich informiere mich!, recherchiere die Sachverhalte, die mich beschäftigen, prüfe meine Quellen usw.. Wenn ich also – nach bestem Streben und Bemühen – dennoch zu grandiosen Fehlschlüssen gelange, so bin ich vielleicht nur zu blöd – meine Leute sagen mir: ganz so schlimm sei es (noch) nicht.

Oder es liegt hier ein systematischer Umstand im Argen.

Teile dieses Umstands haben die Herren Precht und Welzer thematisiert (siehe hier) – tatsächlich, ich WEISS das!, auch wenn alle, die das Buch nicht gelesen haben, ganz genau wissen, dass da zwei Dummdödel ihrer Eitelkeit frönen (was womöglich AUCH der Fall ist … und wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein …).

Der Systemfehler, wenn wir ihn denn isolieren können, wird sich nicht dort aufspüren lassen, wo wir nicht „wissen“ können. Wir müssen mit und von unseren Meinungen leben, solange wir der Vorstellung folgen, dass politische Sachverhalte und Entscheidungen dem Diskurs „ausgesetzt” werden sollen – dass es dazu auch eine kritische Position geben kann, habe ich ebenfalls (in dem Precht/Welzer-Stück, s.o.) dargelegt, oder Du kannst es hier von Herrn Harari hören. Wenn wir dem Systemfehler auf die Spur kommen wollen, so müssen wir uns mit jenen Bereichen befassen, in denen das Spektrum der Ungenauigkeit durch Interpretation und Manipulation einem (verdeckten) Interesse gebeugt wird – UND, mit welcher Macht, welchem Hebel, welcher Reichweite das geschieht.

Wissen und Wahrheit sind, wenn es drauf ankommt, vermutlich unerreichbar. Aber jene Rattenfänger, die mit dem Umstand ihr Schindluder treiben, mit Vorsatz und Tücke das gesichert Falsche verbreiten und so ihre eigenen Zwecke verfolgen, sie haben Namen und Adressen.