Das Buch „Die Vierte Gewalt” von Richard David Precht und Harald Welzer greift einen Verdacht, eine These auf, die mich seit langer Zeit umtreibt. Grob verkürzt lautet sie: Die Medien tun nicht, was sie sollen. Ursächlich dafür sind sowohl ökonomische und technologische wie auch politische Faktoren. Insoweit das Buch diesem Verdacht nachspürt, bin ich damit weitgehend einverstanden.
Doch eine Reihe von Abers lümmeln am Wegesrand.
Im Glashaus Steine werfen
Precht/Welzer schreiben "Die Vierte Gewalt"
Kommt noch soweit, dass wir über Inhalte reden!!
Wo war jetzt noch mal die Datengrundlage!
„Form & Inhalt”
– ein gespanntes Verhältnis, und es beschäftigt mich seit Studienzeiten: es gibt Form ohne Inhalt (also etwa: ein Strich ist ein Stich, aber mehr eben auch nich), aber es gibt keinen Inhalt ohne eine Form. Bei P/W fallen Form und Inhalt auffällig auseinander, grob gesagt, in dem die Form gröber, weniger differenziert daherkommt, als es der Inhalt vermuten lässt oder gar gebietet. Dass das so ist, MUSS, wenn man sich mit diesem Buch beschäftigt, Gegenstand der Kritik sein, weil es in dem Buch um eine Kritik eben jener medialen Mechanik geht, die das Buch selbst nutzt. Du merkst schon: es wird kompliziert.
Für den Einstieg kann man es sich aber leicht machen: „Wer den Sumpf trocken legen will, darf die Frösche nicht fragen.“ Eine alte Weisheit, und so soll man sich nicht wundern, wenn jene, die gemeint sind (oder sein könnten) Zeter und Mordio schreien. Der getroffene Hund bellt, und wer schweigt, gesteht.
Nur: deswegen allein sind die Thesen des Buches weder richtig noch falsch.
Wie gesagt – das war jetzt einfach.
Genügt aber noch nicht als Präambel.
1. Disclosure
P/W thematisieren ausführlich, dass der mediale Raum, die Öffentlichkeit, unter dem Einfluss der „Direktmedien” (den Begriff übernehme ich sofort) von „Personalisierungen und Skandalisierungen” zerrüttet wird. Ich stimme zu! Leider ist es aber nahezu unmöglich, über dieses Buch zu reden, ohne auch über die Autoren als Personen und die (vermeintliche) Skandale des Buchauftrittes zu sprechen.
Precht, wie auch Welzer, haben ein je anderes, doch gleichermassen öffentlichkeitswirksames Handicap, das die Rezeption vergiftet. Der Eine, RDP, sieht einfach zu gut aus, ist zu eloquent und mediensmart, um als Philosoph ernst genommen zu werden. Dass es überdies nur wenige Themen gibt, die er in Demut links liegen lässt, trägt auch nicht zu einer dauerhaften Reputation bei. Dem Anderen, HW, ist eine abweisende Aura eigen, oft und gern als arrogant bezeichnet, so dass die durch ihn vorgetragenen, zuweilen exzellenten und jedenfalls überwiegend bedenkenswerten Inhalte leicht wie hinter einer Firewall steckenbleiben. Man könnte sagen, besser: ich sage: Welzers Ausstrahlung steht in einem harschen Kontrast zu den von ihm vertretenen Überzeugungen.
Beide provozieren einen Affekt, oft genug, bevor das Gespräch überhaupt beginnt.
Dazu mein persönliches Bias: Von RDP kenne ich seine bislang dreibändige Philosophiegeschichte – und von daher ist es mir unmöglich, ihn als beschränkt oder oberflächlich oder wie auch immer herabsetzend zu beschimpfen. Ich habe jedoch hier und hier auch über Bücher von Precht gesprochen, deren Schwächen mir vor allem deswegen aufgestossen sind, weil ich sie für intellektuell vermeidbar gehalten habe; oder anders gesagt: beim Tausendsassa Precht ist nicht jeder letzte Gedanke auch zu Ende gedacht. Ändert nichts daran, dass er durchaus zu denken versteht. Und was HW betrifft, so war ich mit ihm zuweilen uneins oder … doch sehr einverstanden; mitunter begeistert mich seine exakte und pointierte Sprache. Anyway: wenn ich ihn sehe, muss ich mich anstrengen, dass die Firewall durchlässig bleibt.
2. Der Plan
Du wirst von dem Buch gehört haben: die Welle ging hoch. Vermutlich ist nur ein letzter, eher nebensächlicher Punkt übrig geblieben, nochmals von dem Buch zu sprechen: sein Inhalt.
Das ist nicht einmal polemisch; Ein A-Team aus Verlag und Buch, Medien und Autoren tat einiges, um das eigentliche Anliegen hinter einer Firewall von Affekten vor der Diskussion zu schützen. Es begann mit einer Verlagsankündigung von 30 Zeilen, die bereits ordentlich beim Vorglühen half. Nach der Veröffentlichung des Buches kam es bei Markus Lanz zu farbenfrohen Scharmützeln zwischen den Autoren und „Betroffenen” – wäre da nicht die Ukraine, man könnte sagen: die Republik stand in Flammen. Die Leitmedien, nebenbei der Leitbegriff des Buches, überschlugen sich mit lieblichen und aller-wohlmeinendsten Kommentaren und aus den Direktmedien schwappten die Adjektive gleichsam in Nordstream-II-Stärke. Gemeinsam konnten sich die Protagonisten täglich daran erfreuen, wie ein Plan funktioniert; im Ergebnis präsidiert das Buch die Spiegel-Bestseller-Liste (aktuell) in der fünften Woche.
Was immer die Autoren der Medienlandschaft an Attributen attestierten, „Quantität als Qualität, Gruppendenken, Indexierung, Konformität-Bias, Dekontextualisierung und eine Wahrheit, die sich an ihrer persönlichen Nützlichkeit bemisst, …” (241) ökonomisch hat die Mixtur für sie bestens funktioniert. Und ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s ziemlich ungeniert – any news good news. Die obwaltende Polarisierung um beide, Precht wie Welzer, hat sie inzwischen von der Kritik nahezu unantastbar gestellt, weil: Die einen sagen so, die anderen so – „Gekränkte Männer (ohne Tote) haben einfach einen höheren Unterhaltungswert”, sagt Frau Bosetti.
Auch das Buch leistet einen dramaturgischen Beitrag zum Hype, in dem es im Vorwort und im ersten Kapitel den Affen genügend Zucker gibt, um die eher langwierigen, jedenfalls ausdauernden Analysen der nachfolgenden Kapitel, in denen es inhaltlich tatsächlich zu diskussionswürdigen Aussagen kommt, erst gar nicht bis hin zu ihren Lesern befördern …, obwohl, Vorsicht, die Aussage reflektiert lediglich die gefühlte Rezeption, „ohne Datengrundlage” (ich komme darauf zurück).
Immerhin fällt mir doch noch ein Argument ein, um das so skizzierte Marketing rund um dieses Buch zu rechtfertigen. Die Googlesuche nach „Precht und Welzer” kommt schon nach wenigen Wochen auf 427k Treffer. Wer dagegen einmal nach „wissenschaftlicher Medienkritik” sucht, findet 139k Treffern. Wenn also die zumindest zweite Intention darin bestand, Reichweite und Wirkungsgrad zu erhöhen, so ist der lautstarke Vermarktungsansatz vermutlich von Vorteil.
3. Leitmeinungen
Ich selbst klage über die Medien seit geraumer Zeit, und wie P/W komme ich nicht im Traum auf die Idee, von Staatsfunk oder Lügenpresse zu fabulieren. Mir waren jedoch „Tendenzen“ aufgefallen – ganz ohne Nachhilfe. Beispielsweise jene, dass in den politischen Redaktionen des Deutschlandfunks die überwiegende Meinung vorherrscht, der Ukraine Waffen liefern zu sollen, auch schwere. Das lese ich vorher wie nachher in der FAZ, der ZEIT und im Spiegel. Frau Illner, Frau Maischberger, Herr Plasberg, Frau Will, sie alle führen das Gespräch in die mehrheitlich gleiche Richtung. (Meine eigene schwankende Position in dieser Frage habe ich auf dieser Website bereits mehrfach dargelegt.)
Sachte, Momentchen, und ja: ich lese oder höre auch mal Anderes, Gegenteiliges, das stelle ich nicht in Abrede; auch die Schreiber offener Briefe kamen zu Wort. Es geht aber nicht um die Meinungsvielfalt: die sehe ich nicht gefährdet; es geht um eine andauernde Konditionierung des Publikums durch das journalistische Leitpersonal. Von jenen, die in aller Deutlichkeit zu Protokoll gegeben hatten, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf, wollte Anne Will mit penetranter Hartnäckigkeit wissen, ob die Ukraine nicht vielmehr „siegen“ solle. Die gleiche Frage stellten auch DLF-Moderatorinnenden in den „Informationen am Morgen“ oder im PodCast „der Tag“. Im ZeitPodcast „Das Politikteil“ treffen wir auf Chefs und Chefinnende, die sozusagen kollektiv die Bundeswehr ausplündern wollen, immer wieder ist davon die Rede, dass sich Deutschland, wo es nur „nur Im Verbund mit den Partnern“ handeln wolle, hinter fadenscheinigen Argumenten verstecke, FAZ, Welt, SZ, … und auch Markus Lanz gibt an „in diesem Punkt seine Meinung geändert zu haben“. Dass es bei der leidigen Diskussion um die "Führungsrolle" darum geht, wer zahlt, … geschenkt. Nicht der Rede wert.
Sind das schon „die Medien“? Natürlich nicht, es sind die, die ich zur Kenntnis nehme.
Dann beklagen Frau Amann und Herr Alexander (bei Lanz), dass es Precht/Welzer verabsäumt hätten, eine „Datengrundlage“ zu erarbeiten, die ihre Aussagen stützt; das Echo der Frau Bosetti zischelt hinterher. Frau Amann zeigt sich bedingt einsichtig, insofern mann „dann“ – also nach Vorlage von Daten – darüber hätte reden können.
C’mon: Das, mit Verlaub, ist Nebelmaschine.
Dass „die Medien“ ihre Säue durchs Dorf treiben, also einem unausgesprochenen Kollektivismus folgen – P/W beschreiben es als Indexierung (108-113) –, ist ein Gassenhauer und sogar unvermeidlich: allein das Diktat der Vollständigkeit „zwingt“ die Redaktionen dazu, nachzuhecheln, was irgendein Leitmedium vorgekaut hat. Aber: erstens würden solche Daten, so sie denn erhoben worden wären, sofort mit Gegenbeispielen traktiert. Zweitens, das erscheint mir weit wichtiger, lässt sich der Eindruck, den das Publikum aus den subtilen Nebensätzen des Leitpersonals gewinnt, quantitativ gar nicht belegen. In der Berichterstattung über die Niedersachsenwahl, nur ein Beispiel, fragt die Moderatorin des DLF Marcus Czaja sinngemäss: An der Ampel gebe es doch jede Menge zu kritisieren, warum die CDU daraus keinen Honig habe saugen können. DASS also die Ampel zu kritisieren sei, ist keine Frage, sondern eine Haltung, tief im Sowieso verankert. Solche kleinen, subkutanen Einsprengsel sind suggestiv und weitaus einflussreicher auf die Meinungsbildung als blanke Informationen, plus: sie versenden, verleppern sich. Wer erinnert noch, dass Peter Dausend seinen Kommentar zur Atom-Entscheidung des Kanzlers mit den Worten: „Ein Machtwort, ach Gottchen.” einleitete [im Leitartikel ZEIT Nr.43]. Über die Klimakonferenz titelt Tina Hildebrandt: „Olaf Scholz – Vorwärts, Leute, es geht zurück". Diese zwischenzeilige Einflussnahme ist in Summe schlichtweg nicht nachweisbar, müsste man doch 24/7 alle Medien der Republik monitoren. Und schliesslich ist die „Datengrundlage“ auch deswegen so ein Nebelargument, weil es um eine aktuelle, kritische Entwicklung geht: wenn es in zwei oder vier Jahren wissenschaftlich belastbare Aussagen gibt, ist die Diskussion vorbei.
Kurzum
Dass also „Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist”, wie es im Untertitel des Buches heisst, ist eine These, der ich schon lange nachgehe. Die Forderung, das zu belegen, halte ich für vorsätzlich vorgeschoben, Augenwischerei – allerdings stimme ich dieser Kritik insoweit zu, dass es dem Anliegen der Autoren gut getan hätte, ein, zwei paradigmatische Beispiele paradigmatisch in ihrer Breite und Tiefe zu verfolgen und darzulegen. Einige werden benannt (Migration, Wulff, Melnyck …), aber auch mir drängt sich der Eindruck auf, dass die (von mir unbestrittene) Evidenz nachdrücklicher hätte nachgewiesen werden müssen. Aber dann: Die 270 Seiten entstanden in nur drei Monaten; es ist eine Intervention, keine wissenschaftliche Arbeit.
4. Sorgfaltspflichten
Gleichwohl blieben die Autoren an einigen Stellen auch hinter meinen Erwartungen zurück, so bei einer Definition und Abgrenzung der „Leitmedien”. Natürlich ist mir klar, dass jede Festlegung – wie bei der „Datengrundlage” – vollkommen unergiebige, definitorische Nebenkriegsschauplätze eröffnet, so die Frage, ob die taz oder die NZZ oder die Neue Osnabrücker Zeitung dazu gehören oder nicht. Und doch erscheint so jeder Hinweis auf „die” Leitmedien wie ein Herumfuchteln mit dem Zeigefinger.
Probleme habe ich auch mit der wiederkehrenden Anrufung eines „eigentlichen journalistischen Auftrags”. Wo steht der? Wer hat den festgelegt? Ich glaube daran nicht.
Zunächst liefern P/W eine relativ ausführliche Darstellung, von wo bis wo dieser Auftrag reichen könnte und zitieren „idealistische” Positionen von Jürgen Habermas (Medien als „Orte des unbegrenzten rationalen Diskurses” S.42) bis David Randall
„Sie sollen die Wähler informieren, um sie mündig zu machen Sie sollen die Autorität jener untergraben, deren Meinung auf einem Mangel an Informiertheit beruht.” … Eine wichtige Aufgabe ist zudem, „den freien Austausch der Ideen zu ermöglichen und jenen eine Plattform zu bieten, deren Philosophie sich von der vorherrschenden unterscheidet.” S.58/59.
P/W müssen nun weiss Gott nicht darüber belehrt werden, dass die ökonomische Grundierung des Öffentlichkeitsgeschäftes diesen idealistischen Positionen zuwiderläuft; sie sagen es selbst. Sie legen auch dar, dass mit den Direktmedien ein fataler Abfluss an Werbegeldern einherging, der sowohl zu Qualitätseinbussen, inzwischen aber auch, on top, zu Adaptionseffekten und Adoptionsaffekten geführt haben. Insofern kann man den Autoren nicht vorhalten, analytisch fahrlässig oder oberflächlich zu argumentieren. Im Gegenteil. Sieht man einmal von den ersten zwei Abschnitten ab (Einleitung/Der Brief), liefert das Buch eine (überwiegend) wertvolle, zuweilen sogar inspirierende Grundlage für die Diskussion des medientheoretischen und (mit Einschränkungen) -praktischen Geschehens, die allenfalls um ein paar Redundanzen hätte erleichtert werden können. Grundsätzlich gesprochen schad’ es aber auch nix, wenn das Richtige mehrmals gesagt wird.
Wenn mir also trotz dieses aufgeklärten Blickes auf die Bedingungen von Öffentlichkeit „unwohl” ist, so nur, weil P/W im Ergebnis auf jenem bereits ins Abseits gelegten Idealismus bestehen, diesem „eigentlichen Auftrag” im demokratischen Diskurs …, von dem sie wissen, dass er a) verloren ist und b) in der bestehenden Medienlandschaft nicht wiedererlangt werden kann. „Unwohl”, das fasst widerstreitende Motive zusammen: Natürlich muss man, nur weil etwas nicht ist und nicht sein kann, wie es sein sollte, nicht darauf verzichten, genau das zu fordern. Klar. Aber es hat auch von der Geste des mit dem Fuss-Aufstampfens. Oder anders gesagt: Die „richtige Forderung” macht keinen Sinn, wenn die sozusagen „physikalischen Bedingungen der Realität” (also die Ökonomie) die Einlösung der Forderung verhindern. Redaktionen, und, for the time being, auch shareholder, müssen finanziert werden. Die Verlage sind mit ihren Copypreisen bis an die Grenzen des Vertretbaren gegangen – und mitunter einen Schritt weiter; dort ist nicht mehr zu holen. Wenn das aber nicht hinreicht, müssen neuerlich Werbegelder erschlossen werden … der teuflische Kreis bringt die bekannten, beklagten Kollateralschäden.
Mein Unwohlsein hat eine zweite Dimension: denn zu den Verwerfungen des Medienmarktes kommt es – auch – aufgrund einer massiven Überversorgung! Wo kein Mangel, da kein Markt. Wieder fehlt es an der Definition, die die Leitmedien abgrenzt. Denn unabhängig von der Frage, ob ein Informationsstrom verlässlich oder gefaked, manipulativ oder gar systemgefährdend gefälscht ist, es herrscht kein Mangel an Informationen, schon gar nicht an Meinungen. Schlimmer noch: viele Quellen weit jenseits der Leitmedien sind besser als diese – und erscheinen wie kostenlos („erscheinen”: da hängt die „Daten”-Diskussion hinten dran, die ich ausblende). Insofern jedoch Leitmedien sich zu politischen Akteuren, ja, zu Aktivisten sogar, gewandelt haben, genügen sie nicht mehr dem Neutralitätsgebot und büssen an Vertrauen ein (P/W diskutieren das ausführlich, bleiben jedoch kurz vor der Erkenntnis stecken, dass nämlich die Leitmedien nicht mehr leiten). In einer Medienlandschaft, in der Christian Drosten besser über Corona informiert als die FAZ oder der DLF, der Chaos Computer Club (mit seinen medialen Filialisten) profunder über die Digitalisierung berichtet, als die SZ oder die Welt, ungezählte Blogger brauchbarere, überzeugendere Kommentare zum Tagesgeschehen bereitstellen, als Anne Will oder ZEITonline, – in einer solchen Landschaft haben die Leitmedien ihre Führungsrolle eingebüsst. Sie behaupten sie, können den Nachweis aber nicht mehr erbringen.
Und nicht einmal das Argument „Qualitätssicherung und Einordnung” greift noch, wenn es der Qualität am Personal mangelt und die Einordnung erkennbaren Interessen (oder Kampagnen) dient.
Bevor es nun abschliessend zu einer überraschenden Wende kommt, drückt mich noch ein dritter Schwachpunkt in der Argumentation: Das „Leitbild Öffentlichkeit”, das die Autoren propagieren, macht mir zunehmend Schwierigkeiten:
„In einer solchen Lage wird deutlich, was auf die Leitmedien als Aufgabe zukommt. Wollen sie die Brücke zwischen Gesellschaft und politischer Repräsentation schlagen und, mit Randall gesagt, die »geplagten umsorgen und die Umsorgten plagen«, so bedarf es eines für die Demokratie sorgetragenden Journalismus, der die Repräsentationslücke zu verkleinern suchen müsste.” (75)
Diese Lücke haben die Autoren zuvor beschrieben: sie betrifft diejenigen Bevölkerungsteile, die – etwa aufgrund von Ausbildung oder anderen Attributen – keine politische Repräsentation erfahren. Und dieser
„Frust über mangelnde Repräsentation ist oft genug die Kehrseite des (unerfüllten) Wunsches nach Partizipation. Wer hier den Elitendiskurs vorzieht … geht somit ein hohes Risiko ein: Er verspielt das Vertrauen, auf dem seine Reputation und/oder sein geschäftlicher Erfolg beruht.” (93)
Hier und im Verlauf vertreten die Autoren eine deliberative Öffentlichkeit, „das Mitmischen möglichst der gesamten Gesellschaft” (96). Und genau damit habe ich wachsende Schwierigkeiten.
Wo von der Partizipation der „gesamten Gesellschaft” am politischen Prozess die Rede ist, muss zunächst einmal von der Grösse dieser Gesellschaft gesprochen werden. In wachsenden und vor allem in grossen Gesellschaften lassen die sozialen Bindungskräfte nach und soziale, kulturelle und politische Zentrifugalkräfte nehmen zu. In einer zugespitzten These adressiere ich diesen Zusammenhang schon seit einiger Zeit:
„Mit einer Mrd Menschen kannst Du keine Demokratie machen (auch keine repräsentative).”
Die Frage ist, natürlich, ob es einen tipping point gibt, jenseits dessen die Demokratie-Fähigkeit einer Gesellschaft abnimmt, gar implodiert? Über die Antwort darauf entscheiden, natürlich, die kommunikativen Instrumente und Mechaniken der Gesellschaft. Je „mittelbarer” und „abstrakt aggregierter” die verschiedenen Positionen (zu einem Thema) auftreten, desto geringer die Integrationsfähigkeit der Argumente. Auch P/W sehen das:
„Bezeichnenderweise waren frühe Demokratien, wie im klassischen Athen oder später im Stadtstaat Genf, immer auf enge Räume begrenzt, in denen sichergestellt war, dass man sich über den Weg lief. Erst das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen konnten diese Räume entgrenzen … (43/44)”
Das, nach meiner Meinung, ist ein wichtiger Hinweis, leider jedoch belassen es die Autoren dabei und bekümmern sich nicht weiter um die die quantitativen Erosionserscheinungen, nämlich wenn diese kommunikative Infrastruktur an ihre Grenzen kommt (richtiger: sie thematisieren die Bruchkante inhaltlich, sozusagen in den vermeintlich „korrigierbaren”, nicht aber den materiellen und damit unbeeinflussbaren Aspekten).
Das Problem ist vielschichtig: Zunächst wird die „gesamte Gesellschaft” nie an der Öffentlichkeit teilhaben können: wäre es physisch möglich, wäre es inhaltlich nur Rauschen, Kakophonie. Immerhin: sie wird es aber auch nicht wollen. Die erdrückend überwiegende Mehrheit ist voll und ganz mit dem Leben beschäftigt und hat am Diskurs gar kein Interesse – derweil jene, die interessiert sind, überwiegend ein Interesse verfolgen: ihr eigenes! Nehmen wir die Abwahl des Oberbürgermeisters von Frankfurt, Peter Feldmann. Sie erfolgte, volle Kanne Demokratie, durch eine Abstimmung der Frankfurter Bürger. Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 42% haben 95% für die Abwahl gestimmt – das nenn’ ich mal eine erfolgreiche Kampagne (die FAZ, heisst es auf Übermedien.de, habe für Anzeigen gegen Feldmann 90% Rabatt eingeräumt, nicht aber auch für „Pro”-Anzeigen). … Der (beinahe absoluten) Mehrheit der Frankfurter, LMA, war die Frage den Wahlgang nicht wert.
Hinzu kommt, dass die „gesamte Gesellschaft” in ihrer bedrückenden Mehrheit keine Ahnung hat, worum es geht. Einen Bürgermeister abzuwählen ist eine vergleichsweise simple Frage, auch wenn es bei der Diskussion der Ursachen für eine solche Abwahl schon wieder kompliziert werden könnte (ich habe den Fall nicht verfolgt). Sachlich schwieriger wird es, Beispiel, etwa bei den Stromtrassen: ICH, ausnahmsweise mal als stellvertretende Bevölkerung, weiss nichts über Netzinfrastruktur. Sind die neuen Trassen notwendig – oder folgt ihre vermeintliche Notwendigkeit nur irgendeiner hidden agenda? Könnte man es auch anders regeln? Ich habe keine Schimmer, aber eines weiss ich genau: Not in My Backyard! Stahlharte Meinung bei wachsweicher Kompetenz. Meine Unwissenheit ist nicht einmal Dummheit: in einer hoch-technisierten Gesellschaft gibt es viel zu viele hoch-komplexe Themen, als dass ich noch eine Ahnung haben könnte. In meiner Jugend war das Zerlegen eines VW-Motors ein Stammtischthema, heute hört die versammelte Kompetenz beim Radwechsel auf. Und wo nicht: Zwei Experten, drei Meinungen, und ich plapper hinterher. Die Kernfrage der deliberativen Demokratie ist immer öfter: Was habe ausgerechnet ich dazu zu sagen? Und wenn denn trotzdem, welchen Wert hätte mein Beitrag?
Doch, doch, aber nein! Ich liebe den Diskurs! Aber ich hasse das Gebrabbel, den Dünnpfiff, das tiefergelegte politische Ritual. Ich bin Demokrat – und doch stehen mir die Nackenhaare hoch, wenn die Mehrheit bekloppte, oder gar gefährliche Entscheidungen fällt; lass es mich so sagen: wenn, wie in Deutschland 1933 oder, wie es dieser Tage in den USA droht, oder in Ungarn, Frankreich oder Italien, eine Mehrheit den Faschismus wählt (wählen würde), überschreitet die Demokratie ihre Grenzen. Dann nämlich ist sie nicht mehr die beste aller schlechten Verfassungen, sondern ihr eigener Sargnagel.
In anderen Worten: in der systemischen Analyse bleiben die Autoren unter ihren Möglichkeiten und vor dem Notwendigen stecken – und beharren auf bestehenden, aber überkommenen Standards, die sich auf abschüssiger Bahn als unhaltbar erweisen werden. Von einem grundlegenden Systemumbau ist häufig die Rede, und dann geht es um Mobilität oder um Erneuerbare oder um die Sanierung des Altbaubestandes; dass aber für einen grundlegenden Umbau systemische Voraussetzungen geschaffen sein müssen, die ihn juristisch, sozial und politisch erst ermöglichen … und wie diese dann im Einzelnen aussehen müssten, das Thema erweist sich dann doch immer wieder als zu gross für die Debatte.
5. Surprise, Surprise
Nähern wir uns langsam der angekündigten Überraschung: Im letzten Kapitel kommen die Autoren zu Überlegungen, wie denn – ihr eigentliches Thema – „in welche Richtung der neue Kurs der Leitmedien gehen könnte” (249), oder was denn ein journalistisches Verhalten wäre, das dem „demokratischen Auftrag” gerecht würde. Es müsste dabei, so P/W, zunächst einmal darum gehen, das verlorene Vertrauen wiederzugewinnen: Wenn nur noch „weniger als die Hälfte der Bevölkerung angibt, sie hätte »Vertrauen in die Presse«, …” – aber „… wenn sie … eine demokratische Öffentlichkeit gewährleisten sollen, so ist der Vertrauensverlust in sie eine Katastrophe.” (250)
Dieses Vertrauen wiederzugewinnen, werden einige Zwischenschritte beschrieben,
- sich eben nicht der Wirkmechanismen der Direktmedien zu bedienen,
- sich nicht als Gefühlsverstärker (konstruierter wie nicht konstruierter) Mehrheitsmeinungen zu verstehen,
- einen problemorientierten, aber eben auch lösungsorientierten Journalismus zu leben, … usw.,
sozusagen immanente oder „interne” Veränderungen am modus operandi. Der aber auch unter äusseren Bedingungen stattfindet, stattfinden muss.
„Und diese Revolution [gemeint sind die Auswirkungen der Digitalisierung] bedeutet Schirrmacher zufolge nicht weniger als eine Veränderung der Denkprozesse selbst. … Genau deshalb war Schirmmacher an den Treibern, Formen und Wirkungen dieser industriellen Revolution interessiert … Dies hätte der Beginn eines reflexiven turns im Journalismus sein können; der frühe Tod Schirrmachers hat dies abgebrochen. Sein Nachfolger Jürgen Kaube hat dessen Lebenswerk leider in wenigen Monaten annulliert und das FAZ-Feuilleton in diesem Sinn horizontlos gemacht.” (259)
Ein politischer Journalismus auf der Höhe der Zeit „müsste reflexiv in dem Sinne sein, dass er sich über die Transformationen seines ureigensten Gegenstands, der Politik, Rechenschaft ablegt.” (260) Müsste, hätte, Fahrradkette; die Bedingungen sind so nicht. Der Journalismus befindet sich in einer Abwärtsspirale, die ökonomischen und technologischen Treiber haben die Autoren beschrieben. Und jetzt, Überraschung, auf den buchstäblich letzten Drücker und gleichsam auf Zehenspitzen, als trauten der eigenen Einsicht nicht über den Weg, machen sie einen zaghaften Vorschlag.
„Wir sind damit, mit Michael Haller gesagt, bei der Frage angelangt, wie eine mediale Infrastruktur aussähe, …” (265) „Diese Frage greift eine Diskussion auf, die vor mehr als 70 Jahren … schon einmal in Fahrt kam, als es um die Bedingungen eines Journalismus ging, der aus ökonomisch und ideologisch unabhängiger Position informieren kann. Es war die Idee eines public service …” der „eigentlich nicht marktfähig” ist und deshalb als „gemeinnützige oder öffentlich-rechtliche Einrichtung …” zu organisieren wäre. (265)
Wumms! Ich sage das schon lange, zum Beispiel hier! Seit Jahr und Tach randalieren und krakeelen die sogenannten Qualitätszeitungen gegen die öffentlich-rechtlichen Medien: es ist Vodoo, Abwehr-Zauber. In Wahrheit sind sie längst die Aspiranten.
Es ist bedauerlich, dass dieser, wie ich finde: überaus wichtige, Diskussionsstrang am Ende beinahe versteckt auftaucht, und folgerichtig, soweit ich es in dem Aufruhr um das Buch nachgelesen habe, wird dieser Faden nirgendwo aufgegriffen oder gar weitergesponnen. Im Gegenteil, aber das kann man ihnen nun wirklich nicht anlasten: Mit seiner sogenannten Privatinitiative hat Tom Buhrow die öffentlich-rechtliche Struktur gleichsam zum Abschuss freigegeben. Ohne Not: Nicht das Volk beschwert sich über die Öffentlich-rechtlichen, sondern Funktionäre, Geschaftlhuber und Querdenker.
6. In Summe
Jetzt habe ich wechselnd und mal so gesprochen und mal so; vielleicht ist eine Zusammenfassung ganz hilfreich:
- ich halte das Thema Medien und Direktmedien für brandheiss und für den gesellschaftlichen Bestand für maximal relevant;
- ich halte das Buch für lesenswert und diskussionswürdig;
- ich kann den „Marketing-Ansatz” verstehen, ich verachte ihn dennoch;
- neben einer Vielzahl von scharfen und luziden Beobachtungen enthält das Buch eine Reihe von (kleineren) Fehlern, Auslassungen und Ärgerlichkeiten, die in einem konsolidierten Produktionsprozess hätten vermieden werden können;
- in Sachen Demokratie und Öffentlichkeit vertrete ich selbst eher kritische Positionen und reibe mich an den überkommenen, links-liberal-idealistischen Zielvorstellungen;
- ich wünsche mir eine lautstarke und letztlich auch pragmatische Diskussion der Idee einer komplett öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft: lieber nehme ich deren Schwächen und Misslichkeiten in Kauf, als dass ökonomische und politische Interessen mit „der Öffentlichkeit” stiften gehen.
Und also empfehle ich das Buch.