Machen wir uns nichts vor: Vermeintliche und tatsächliche Fehler des Herrn Habeck (right or wrong: nicht mein Thema) sind der willkommene Vorwand eines um seine Pfründe fürchtenden Systems. Erst hochjazzen, dann runterkartätschen: immer das gleiche Prinzip. Worüber wir ernsthaft nachdenken müssen ist, wie die Welt überhaupt noch regierbar ist. Es geht um das Gesellschaftsmodell!
Die Krise der Demokratie
Change or Perish
In Gefahr und grosser Not bringt der Mittelweg den Tod
Gene Hackman zu Denzel Washington in "Crimson Tide" von Tony Scott
In der US-Zeitschrift „Foreign Affairs” stiess ich auf einen bemerkenswerten Essay von Fareed Zakaria:
„Der Aufstieg der illiberalen Demokratie”
Illiberal – das ist doch Schweinkram, oder! – steht das Wort nicht sogar auf dem Index?! 1997, bei seiner Veröffentlichung, hätte ich den Text vermutlich unbesehen in die Tonne getreten. Warum sollte man so ein Thema behandeln? Ich weiss, was Du sagen willst: der Autor warnt vor gefährlichen Entwicklungen. Schon richtig, aber er gibt ihnen auch ein Forum! Ich dagegen halte das Tabu, das „Totschweigen”, für ein mächtiges Instrument. Hätten die „liberalen” US-Medien, statt ihn lauthals zu bekämpfen, Donald Trump ignoriert, er wäre nicht gewählt worden. Anyway: Auf Zakaria bin ich gestossen, als ich zu Viktor Orban recherchierte. Wie eigentlich legitimiert der sein Gesellschaftsmodell der „illiberalen Demokratie”? Plattes Orban-Bashing war mir zu billig: Irgendetwas, so fragte ich mich, irgendeine nachvollziehbare Argumentation muss es doch geben, die ihm (oder Erdogan … oder Putin …) die Zustimmung seines Volkes einträgt?
Nun weiss ich so gut wie nichts über Ungarn, auch war ich nie dort. Ich habe Joseph Roth gelesen und Manès Sperber – von dem erinnere ich, immerhin, dass den Faschismus auch in Ungarn gab. Bei der Verfolgung von Juden und Kommunisten arbeitete die „ungarische Gestapo” Hand in Hand mit den Nazis zusammen. Das liegt nun aber genausoviele 75 Jahre zurück, wie der deutsche NS-Staat, und so lautet die Frage hier wie dort: „Ist der Schoss fruchtbar noch, aus dem das kroch?”
Mein Interesse dabei gilt nicht der Person Viktor Orban, mich interessiert, dass er gewählt und vor allem: wiedergewählt wird – warum!? Eine These: „das Volk” braucht keine Argumente; Parolen reichen schon. Es gehört zu den Problemen der demokratischen Willensbildung, dass die respektiven Prozesse zugleich komplex und profan sind.
- Was den profanen Anteil betrifft, so geht es oft um niedere Affekte, dumpfe Bauchigkeit, platte Vorteilserwartung und vagabundierende Ängste. Diese Disposition bedienen derbe Sprüche, kalkulierte Wohltaten und zeitlose Ressentiments.
- Was nun den komplexeren Anteil angeht, so müssen es schon die „richtigen” Parolen sein, die richtige Tonalität, die richtigen Themen und der richtige Zeitpunkt. In diesem „Was” kondensieren vielfältigste zeitgeistige Strömungen und Umfeldbedingungen. „Unrecht” geschieht täglich, doch erst wenn Einzelschicksale aus verschiedenen Lebenszusammenhängen zu anschlussfähigen, medial in die Breite getragenen Projektionen werden, entsteht daraus Politik.
Überhaupt: „das Volk”!
Diese allerhöchst unspezifische, rätselhafte und bunt gewürfelte Menschenmenge fällt in ihrer Eigenschaft als Wahlvolk die widersprüchlichsten Entscheidungen – ohne den Ansatz einer Begründung. Wahlforscher wissen natürlich, dass „das Volk” in sehr verschiedenen Konstellationen aktiviert werden kann, je nach dem, welche Erzählung im gegebenen Augenblick überzeugender, richtiger klingt: „Yes, we can!”oder „Make America Great Again”. In anderen Worten: „das” Volk sind viele und dabei höchst disparate Völkchen.
Ich komme vom Thema ab.
Zurück zu Orban – und genauer zu Fareed Zakaria, der mich von der Suche nach Orbans Modell abgelenkt hatte. Zakaria ist hierzulande kaum bekannt: Als Kolumnist der Washinton Post, Anchorman eines wöchentlichen Politikmagazins auf CNN sowie als Autor mehrerer Bücher verfügt er in den USA über landesweite Bekanntheit und Reputation, nicht zuletzt durch eine Reihe namhafter Awards. Seit dem genannten Essay – vermutlich das Initial für den Bestseller „The Future of Freedom – illiberal Democracy at Home and Abroad”, New York 2003 – hat er sich an vielen Stellen warnend mit dem Aufstieg der populistischen Rechten in den USA und überall in der Welt auseinander gesetzt –, und gehört er zu den Wenigen, die dem US-Amerikaner erklären (können!), was ausserhalb der US-Echokammer geschieht.
Die Ausgangsthese seines Essays steht im ersten Absatz:
„Demokratisch gewählte Regime, oft solche, die durch Volksabstimmungen wiedergewählt oder bestätigt wurden, ignorieren routinemäßig die verfassungsmäßigen Beschränkungen ihrer Macht und berauben ihre Bürger der grundlegenden Rechte und Freiheiten.”
Genau das sei in zahlreichen Ländern zu beobachten. Zwar nennen sich 113 Länder der Welt „demokratisch” (von 198), doch: „Die Hälfte der ‚demokratisierenden’ Länder der Welt sind heute illiberale Demokratien.” Mit seiner Beobachtung steht Zakaria nicht allein; er zitiert Samuel P. Huntington (aus „The Thrid Wave”):
„Regierungen, die aus Wahlen hervorgehen, können ineffizient, korrupt, kurzsichtig, unverantwortlich, von Sonderinteressen beherrscht und unfähig sein, eine dem Gemeinwohl dienende Politik zu betreiben. Diese Eigenschaften machen solche Regierungen unerwünscht, aber sie machen sie nicht undemokratisch.”
Die Diagnose hat Haken und Ösen. Unsere Wahrnehmung unterliegt einem begrifflichen bias: weil
„…Demokratie im Westen fast ein Jahrhundert lang liberale Demokratie bedeutete – ein politisches System, das nicht nur durch freie und faire Wahlen gekennzeichnet ist, sondern auch durch Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und den Schutz grundlegender Freiheiten wie Meinungs-, Versammlungs-, Religions- und Eigentumsfreiheit.”
Überraschend und beeindruckend an dieser Beobachtung ist, dass sich – offenbar – in dem für festgefügt und unverrückbar geglaubten Begriff Demokratie ein ganzes Spektrum von staatlichen Verfassungen einbettet, die mit dem westlichen Attribut „liberal” wenig, nichts oder gar nichts zu tun haben. So hat sich Fukuyamas Vorstellung (von 1989),
„…, dass konkurrierende Herrschaftsformen wie die Erbmonarchie, der Faschismus und in jüngster Zeit der Kommunismus der liberalen Demokratie unterlegen sind. Ich blieb nicht bei dieser These stehen, sondern argumentierte weiter, dass die liberale Demokratie möglicherweise »den Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit« und die »endgültige menschliche Regierungsform« darstellt.”
mittlerweile aufgelöst. Wenn man es darauf anlegt, könnte man Zakaria so zitieren, dass es ihm weniger darum zu tun sei, ob und wie eine Regierung demokratisch legitimiert ist; weit wichtiger wäre, wie sie regiert. Zakaria unterscheidet die Demokratie vom „konstitutionellen Liberalismus”. In ihm
„… hingegen geht es nicht um die Verfahren zur Auswahl der Regierung, sondern um die Ziele der Regierung.”
Eine lediglich demokratische Ausrichtung des Staates ist keine Erfolgs- oder Qualitätsgarantie, wie die Historie zeigt:
„Die britische Herrschaft bedeutete nicht Demokratie – Kolonialismus ist per Definition undemokratisch – sondern Verfassungsliberalismus. Das britische Erbe von Recht und Verwaltung hat sich als vorteilhafter erwiesen als die französische Politik, einem Teil der Kolonialbevölkerung das Wahlrecht zu gewähren.”
Zakarias Aufsatz – er ist als pdf frei zugänglich – ist lesenswert und bietet eine Reihe überraschender Einsichten. Ein Zitat aus dem letzten Absatz fasst die Intentionen des Autors zusammen:
„Heute, angesichts des sich ausbreitenden Virus des Illiberalismus, besteht die nützlichste Rolle, die die internationale Gemeinschaft und vor allem die Vereinigten Staaten spielen können, darin, statt nach neuen Ländern zu suchen, die zu demokratisieren sind, und nach neuen Orten, an denen Wahlen abgehalten werden können, die Demokratie dort zu konsolidieren, wo sie Wurzeln geschlagen hat, und die allmähliche Entwicklung des Verfassungsliberalismus in der ganzen Welt zu fördern.”
(Alle Übersetzungen mit Hilfe von DeepL.com)
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Mir ist diese Position jedoch zu idealistisch, zu optimistisch. Ich mag es dem Text nicht vorhalten: 1997 schaute die ganze Welt – und ich auch – mit ganz anderen Augen auf die ganze Welt. Heute fällt es mir schwer, die Nachhaltigkeit des von Zakaria empfohlenen konstitutionellen Liberalismus zu erkennen: in ihm wohnt eine Tendenz zur Dekadenz! Oder anders: ich suche nach einem Weg, die positiven Impulse zu erhalten, zugleich aber jene immanenten Kräfte zu neutralisieren, die unter (populistischen) Freiheits-Vorwänden den Liberalismus mindestens missbrauchen und oft genug in die Vergangenheit streben, in eine regressiv-dogmatische, patriarchale, aggressive, repressive Gesellschaft.
Das ist leichter gesagt, als durchdacht!
Das Problem meines frommen Wunsches ist Böckenförde. Sein Diktum, nach dem „freiheitliche, säkularisierte Staat … von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“, war einmal klug und vorausschauend; heute klingt es eher nach „austherapiert”. Schauen wir noch einmal auf Zakarias Definition der liberalen Demokratie (s.o.): freie und faire Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Schutz grundlegender Freiheiten, plus/minus eine Beschreibung der deutschen Gesellschaft (auch anderer) und ihrer Verfassung (die lediglich ein Grundgesetz ist, über das „das Volk” nie abstimmen konnte). Um nur der Verfassung zu sprechen, ignorieren wir die etwaigen Schwächen im Vollzug. Denn das eigentliche Argument entsteht dort, wo eben diese Verfassung die Unregierbarkeit der westlichen Demokratie befördert.
- Die Rechtsstaatlichkeit steht immer wieder in Frage, wenn materielle und rechtliche Tatbestände in einem zunehmenden Wettbewerb stehen: etwa Kohlesubventionen und Umweltanforderungen; etwa die Bevorzugung einzelner Interessen aus Gründen der Staatsraison (Stichwort „System-relevant”, Stichwort: „Cum-Ex”); etwa staatlich verordnete Geschäftsschliessungen (während der Pandemie) ohne gleichzeitige Aussetzung von Verbindlichkeiten (vor allem Mieten, auch Kredite …); …
- Die Gewaltenteilung wird fragwürdig, wenn die jeweilige Opposition das Verfassungsgericht als Instanz politischer Vorteilsverfügung missbraucht (darin besonders: Selbst wenn und wo sich das Verfassungsgericht um eine je zeitgemässe Interpretation der Staatsgrundlagen bemüht, sind doch die ordnungspolitischen Richtwerte längst in die Jahre gekommen – ich hatte mich damit einmal befasst. In anderen Worten: das Gericht ist auf einen Kanon verpflichtet, der vor fast 80 Jahren – unterstellt – seine Berechtigung hatte. Doch die Hürden grundlegender Verfassungsänderungen – siehe Länderzuschnitt, Kulturhoheit, … – wirken prohibitiv, wenn es um eine Modernisierung des Staates und seiner Institutionen geht) …
- Der Schutz der grundlegenden Freiheiten wirkt in nahezu all seinen Erscheinungsformen kontra-indiziert: Der Datenschutz und die informationelle Selbstbestimmung sind eine Farce – jeder Weltkonzern geht mit seinem Diebesgut stiften; das Copyright ist eine Meistbegünstigungsklausel für Medienunternehmen – und nicht einmal die bleiben davon verschont, dass die KI-Trainer der Welt ihren Softwares alles und jeden eigenständigen Gedanken zum Frass vorwerfen; die Meinungsfreiheit ist in den Medien zu einer mandatslosen Interventions- und Interessenpolitik verkommen (siehe Döpfner, siehe FAZ), dort und in den Sozialen Medien wird die Unregierbarkeit des Staates mit Verve und Vorsatz hergestellt, und schliesslich: die Freiheit des Eigentums erlaubt es jedem Interesse, das Gemeinwohl dem eigenen Vorteil zu opfern, … bis hin zur „freien Fahrt …”, die soeben wieder in der FAZ „verargumentiert” wird.
Die Beispiele zeigen, dass die staatliche Verfasstheit an allen Ecken und Enden, wo sie nicht schon zerbrochen ist, zumindest doch wackelt. Dabei gehen die grössten Gefahren von der kommunikativen Verwahrlosung und der Zerrüttung des Common Sense aus, letztlich einer globalen Erscheinung.
- Ein Präsident der in einer nicht endenden Verdrehung der Tatsachen seinen Überfall auf ein Land zum Angriff auf das eigene Land umdeutet („… seit 5:45 wird jetzt zurückgeschossen …”), wiederholt den Vollzug des nuklearen Weltuntergangs ankündigt und in Mafia-Manier seine Abhängigen und Verbündeten zu Mittätern macht, zerstört die internationale Ordnung und polarisiert die Welt.
- Ein Präsident, der in einem Jahr (2020) über 31.000 Verfahren wegen „Beleidigung des Präsidenten” einleitet, selbst 32 Stunden im Staatsfernsehen Wahlkampf macht, während es der eine noch nicht verhaftete Opponent auf 32 zerstückelte Minuten bringt, der ungezählte Journalisten verfolgt und einkerkert – zerstört die Grundlagen der demokratischen Willensbildung.
- Ein Präsident, dem in 4 Jahren Amtszeit über 30.000 falsche und irreführende Behauptung nachgewiesen werden – und der damit durchkommt, dass er einen Staatsstreich versucht, der womöglich sogar wiedergewählt wird, ein solcher Präsident zerstört die Grundlagen der staatlichen Verfasstheit.
- Regierungen schliesslich, die ihre Staatshaushalte mit den Mitteln der EU konsolidieren und zugleich alles tun, um jeden europäischen Zusammenhalt und Fortschritt an ihren Eigeninteressen scheitern lassen, untergraben und zerstören den Zusammenhalt jener Staatengemeinschaft, von der sie profitieren.
Wenn man es aufzählt, entsteht der Eindruck, als hätten sich Entropie und Anarchie zum Weltuntergang verabredet. Aber natürlich sind Beispiele immer Einzelbeispiele und im Übrigen lassen sich unzusammenhängende internationale Verwerfungen nicht in einem Befund verdichten. Oder doch? „Eine bekannte Börsenregel lautet: Wenn Amerika hustet, bekommt Europa die Grippe.“ Und die Globalisierung verschränkt die Verhältnisse! Wir Deutschen meinen, in vergleichsweise geordneten Verhältnissen zu leben, aber der zerstörerische Geist des falschen Zeugnisses (Gutachten, PR), der FakeNews und der „alternativen Fakten”, der kriminellen und skandalösen Vorteilsnahme – greift auch hier nach den staatlichen Grundlagen.
Doch das alles ist nur der Kleinscheiss, die kleine Tageskatastrophe, verglichen mit der Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, für die Sicherung der Zukunft das Notwendige zu tun. Böckenfördes Diagnose ist auch deswegen so unbrauchbar geworden, weil „der Staat” als der eigentlich geforderte Akteur nicht mehr auf die Ursachen der Krisen durchgreifen kann; und richtiger noch: indem der Staat sich selbst als politisches Subjekt betrachtet und das eigene Land als den letzten Zweck, missachtet er (i.e.: seine Institutionen) die grundlegenden Anforderungen der Zukunft: kohärentes, globales Handeln zur Abwendung der Klimakatastrophe. Der säkularisierte, souveräne, freiheitliche Staat ist, da fällt mir Mao ein: ein Papiertiger, eine Schimäre.
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Vieles von dem, was damit beklagt ist, entsteht aus dem globalen laisser faire des Liberalismus. Nicht nur, dass jeder noch so eigennützige, gemeinschädliche oder auch nur spinnerte Akteur die Grundlagen des konstitutionellen Liberalismus genau dafür in Anspruch nimmt, unter der Fahne der Freiheit nur sein Eigeninteresse zu befördern und hinter einer legitimistischen Fassade durch die Geschichte zu manövrieren. Ermöglicht wird das durch einen Staat, dessen einst legitimierende, regulierende Zielvorstellung von internen Lobbies und planlosem Souveränitätsverzicht erodiert ist. So muss er erdulden, was ein Jedes für sich selbst für richtig und zweckmässig erachtet. Mehr noch: das Konzert der identitären Einzelinteressen entkernt und entpolitisiert den Diskurs und zerrüttet nicht allein den Staat, sondern sogar die Weltordnung. Ungezählte Bäume und Energiemengen werden der Genderdebatte geopfert – die wirklichen Probleme „ordnet” derweil der Springer-Verlag … und andere, selbsternannte Mandatsträger.
Und das ist jetzt der Punkt, an dem ich Zakaria ins 21. Jahrhundert entführe. Seine Warnungen vor der illiberalen Demokratie – blicken wir auf die Republikaner in den USA oder die „lupenreinen” Demokraten in Russland, Belarus, Ungarn, der Türkei, auch Polen, auch Italien – erscheinen berechtigt und nötig. Seine Argumentation zeigt Ambivalenzen, doch am Ende entscheidet er sich für den liberalen Kanon, dessen Fundamente aus dem Recht und dem Eigentum und schliesslich der Freiheit bestehen. Das aber ist das Problem! Indem wir unsere Freiheiten über die Notwendigkeiten stellen, riskieren wir das Überleben der Menschheit.
Die eine zentrale Lehre der Corona-Krise besagt, dass die Krise Recht und Eigentum und schliesslich die Freiheit aushebelt, für das Gemeinwohl aushebeln muss. Die Corona-Krise war nur das Vorspiel, sozusagen die Taschenausführung von Krise: die Klimakatastrophe droht mit ungleich grösseren, längeren, letalen Wirkungen. Ich beschränke mich deswegen auf die Klima-Politik – dahinter jedoch meine ich ein anderes Gesellschaftsmodell:
Hier ist Dein CO2-Budget, komm damit klar. Punkt.
Was gelingen muss, damit Zukunft möglich und zugleich wünschenswert bleibt, ist doch eine Durchsetzung gesellschaftlicher Notwendigkeiten gegen die persönliche und corporative Freiheit. Ja, damit meine ich eine liberale Autokratie – liberal im Umgang mit den „Lebens-”bedürfnissen, autokratisch und sogar repressiv bei der Durchsetzung der „Überlebens-”notwendigkeiten. Orban et all. fordern genau das Gegenteil: sie sind autokratisch und repressiv, wenn es um die Gestaltung des Lebens geht, aber liberal bis vorsätzlich fahrlässig, wo das fossile Interesse auftritt. Das meine ich, wenn ich behaupte, dass das blosse Orban-Bashing begriffliche Kollateralschaden hinterlässt. Soll die Menschheit überleben, braucht es eine dogmatische globale Regulierung der Emissionen, und das wird nix, wenn nicht auch die liberale Demokratie – zumindest in den Bereichen, wo das Überleben verhandelt wird – autokratische Züge annimmt. Übrigens ist bei Zakaria nachzulesen, dass es in dieser Richtung historische Beispiele gibt:
„Liberale Autokratien mag es in der Vergangenheit gegeben haben, aber kann man sie sich heute vorstellen? Bis vor kurzem florierte ein kleines, aber mächtiges Beispiel auf dem asiatischen Festland - Hongkong. 156 Jahre lang, bis zum 1. Juli 1997, wurde Hongkong von der britischen Krone durch einen ernannten Generalgouverneur verwaltet.”
Natürlich ahne ich den Aufschrei meiner 1,6 Leser:Innen: Ich selbst bewerte es zwischen beunruhigend und gefährlich, Hand an die demokratische Struktur des Landes (der westlichen, nein, der ganzen Welt) zu legen. Wer aber Augen hat, zu sehen: es geschieht längst! Mir ist schlicht unerklärlich, warum die anwachsende (illiberale!!) Autokratisierung nicht als Krisenprävention gelesen wird. Selbstredend ist das inhaltlich das Gegenteil von dem, was ich propagiere; umgekehrt meine ich aber, wir liberalen Weicheier müssen uns methodologisch davon eine Scheibe abschneiden!
In einem Essay von 2019 habe ich schon einmal über die fundamentalen Schwachpunkte der Demokratie nachgedacht (die ich hier deswegen nicht wiederholen will), damals immerhin noch mit relativ optimistischem Ausblick (auf ein „grünes” Wahlergebnis). An der Kampagnen-artigen Demontage von Robert Habeck sehen wir nun, dass die deutsche Wirtschaft und ihre Medien alle Hebel in Bewegung setzen, den notwendigen Umbau der Gesellschaft zu verhindern, zu verwässern, zu verschleppen. So deprimierend es ist: DAS passiert weltweit.
Ein letzter Satz zu den praktischen Fragen: als Gesetzgeber bin ich ungeeignet, mir fehlt das entsprechende Handwerkszeug. Aber um über eine Richtung nachzudenken, dafür reicht es vielleicht. Und da liegt denn auch die eigentliche Hürde. Nicht ob oder wie eine sinnstiftende gesetzliche Regulierung formuliert und balanciert werden kann („… komm damit klar …”), sondern ob oder wie die Gesellschaft es akzeptiert, von ihren staatszerrüttenden Hobbies abzulassen – das ist die Grenzlinie, entlang der die Zukunft entschieden wird. Ich argumentiere für eine liberale Demokratie mit techno-autokratischer Fundierung, so könnte man das etikettieren: Freiheiten, wo sie dem Überleben nicht zuwider laufen; Regulierung und auch Repression, wo die Uneinsichtigkeit das Gemeinwohl schädigt.
p.s.: Koinzidenzen
Noch während ich an dem Text schreibe, höre ich Ulrike Herrmanns aktuelles Buch. Sie empfiehlt die britische Kriegswirtschaft als Modell für ein „Grünes Schrumpfen” (weil: „Grünes Wachstum” sei Quatsch! Zu der Einsicht war ich bereits gelangt.) Ich folge ihr über weite Strecken, komme am Ende aber doch ins Grübeln darüber, wie es denn gelingen könnte, einer westlichen Gesellschaft das Schrumpfen schmackhaft zu machen. In diesen Zweifel fügt sich noch eine Koinzidenz: Soeben kommen die jüngsten „Blaetter” ins Haus; darin beschreibt Felix Heidenreich, wie Frankreich „unregierbar” geworden ist. Bei mir wächst das zu der Frage zusammen: Wie soll eine liberale Demokratie den Klimawandel abwenden, wenn schon eine Benzinpreiserhöhung das Land an den Ausnahmezustand heranbringt?
Anderes Thema, aber noch eine Koinzidenz: kaum hab ich meinen Text geschrieben, ist Fareed Zakaria in der Ezra Klein Show. Hörenswert!