Worüber kann man, worüber muss man diskutieren? Diskutieren in dem Sinne, dass Meinungen, Haltungen, Standpunkte denkbar und auch dann noch akzeptabel sind, wenn sie unvereinbar auseinander liegen? Was nicht diskutiert werden kann, nennen wir ein Tabu. Immer wieder werden Tabus gebrochen: mal tanzt der Zeitgeist aus der Reihe, mal haben sich die tabuisierenden Umstände verändert.
DemokraWie
Die Verfassungskrise des Westens
Bestandsaufnahme und ein Vorschlag.
Die Demokratie – ist nicht nur in unserem Grundgesetz verankert, sie hat zudem einen nahezu unantastbaren Platz im Grundwerte-Katalog der ganzen Nation. Über demokratische Gepflogenheiten und Regeln kann man diskutieren, über die Demokratie selbst nicht.
Die Frage ist, ob das genügt.
Erneuerung
Wahlen und Umfragen zeigen die Grünen aktuell auf dem Weg zur Volkspartei; bei der Sonntagsfrage liegt die Partei mit 25, 26% an der Spitze gleichauf mit der CDU. Nachdem die Bundestagswahl 2017 die Grünen bei ~9% als kleine Koalitions- oder Oppositionspartei eingeordnet hatte, annonciert dieser Zustimmungsboom eine Zeitenwende. Knapp 40 Jahre nach dem Karlsruher Gründungsparteitag nähert sich der lange Marsch – aus der ausserparlamentarischen Fundamentalopposition bis hoch-hinein in eine sogar denkbare Kanzlerschaft – seinem Zenith (von einem „Ziel“ zu sprechen verbietet sich: weder war das „der Plan“, noch hätte je jemand daran geglaubt).
Akzeptiert man die These von der Sozialdemokratisierung der CDU (Nachtrag 2023: das hat sich wohl erledigt), so liesse sich die aktuelle schwarz-grüne Mehrheit als sogar logische Fortsetzung der rot-grünen Koalition interpretieren: die „liberalen“ Babyboomer prolongieren ihr Generationenprojekt, aber jetzt, älter geworden, unter „konservativerem“ Vorzeichen. Dafür zahlt die SPD mit wachsendem Bedeutungsverlust; auch die CD/SU muss bluten: an die AfD.
Kommt etwa Optimismus auf? Man könnte nun auf die Idee kommen, in der Entwicklung einen Beleg für die grundsätzliche Wandlungs- oder gar Erneuerungsfähigkeit des Systems zu sehen.
Das sehe ich nicht.
In meinen Augen organisiert die „unsichtbare Hand“ der Demokratie in diesen Permutationen lediglich das Weiter-so, eine das Gewissen beruhigende Bequemlichkeit. Jedes noch so entschiedene Lippenbekenntnis „Es muss etwas geschehen. So kann es nicht weiter gehen!“ wird hinter vorgehaltener Hand mit der abwiegelnden Erkenntnis ins Rennen geschickt: „Nichts wird so heiss gegessen, wie es gekocht wird.“ Übrigens ist das in der Regel gut so: Gesellschaften sind grosse Schiffe, die an allzu radikalen Wendemanövern zerbrechen können.
In der Regel haben Regeln Ausnahmen, so, zum Beispiel, wenn sich die Umstände geändert haben: Auf der Brücke der Titanic – bildhaft gesprochen – wäre die sonst so wünschenswerte historisch-philosophische Gelassenheit unangemessen. Bei flotter Fahrt auf den Eisberg zu, verengen sich die Optionen, bis hin zu einer letztlich nur noch schwarz-weissen Entscheidung, die zwischen einem „nur möglichen“ mit einem „sicheren“ Crash abwägen muss.
Das Bild von der Titanic hat natürlich einen Schwachpunkt: Schon damals konnte man vor der Kollision alles glauben, etwa an die Gefahr durch einen Eisberg oder an die Unsinkbarkeit des Schiffes. Immerhin: Das Schiff hätte den Eisberg auch verfehlen können, nur 2 oder 3 Grad mehr nach backbord – und die Katastrophe wäre ausgeblieben. Wir befinden uns in einer ähnlichen Situation heute, sogar bis zu der Gradzahl: zu glauben oder zu bestreiten, dass sich die Optionen der Menschheit einengen – und auf eine solche dramatische Entscheidung zu steuern –, muss ein jeder, eine jede mit sich klären; ich selbst bin dort ankommen, wo nur noch zerfledderte Hoffnung herrscht.
Diese meine Grundstimmung ist befeuert von grossen, bestehenden und – nach allem Research – weiter wachsenden Strukturrisiken (ökologisch, technologisch, demographisch, ökonomisch). Die Risiken haben sich herumgesprochen; allerdings erscheinen sie den verschiedenen Milieus und Communities mal mehr und mal weniger bedrohlich.Von „Ich will, dass Ihr in Panik geratet“ bis hin zu „Die Rahmenbedingungen müssen weiteres Wachstum ermöglichen“ halten sich Hysterie und Ignoranz die Waage – nach meiner Überzeugung werden sie auf (fast) allen Seiten in Summe UND in ihrer Verschränkung noch immer unterschätzt. Hier und in einer Reihe kleinerer Beiträge (siehe BLOGS, ESSAYS) habe ich mich dazu geäussert und will das nicht wiederholen. Nur beispielhaft und stellvertretend zitiere ich mit der folgenden Grafik
die Tatsache, dass a) die in COP21 (der „Pariser Vertrag“ von 2015) vereinbarten Massnahmen nicht eingehalten werden (das ist, leider, ein Indikativ! – auf globaler Ebene steigen die CO2-Emissionen anstatt zu sinken). Doch damit nicht genug: Überdies sind b) die Massnahmen des Pariser Vertrages um einen Faktor 2 oder 3 zu klein geraten sind, um, würden sie denn eingehalten, das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Dazu bräuchte es weitere „Initiativen“, die übrigens „freiwillig“ sind und nicht Gegenstand des Pariser Vertrages.
Folgende Grafik ergänzt das Drama:
Die hier abgebildeten Kurvenverläufe zeigen, in welchem Tempo – in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der tatsächlich wirksamen Emissionswende – die globalen CO2-Emissionen auf Null reduziert werden müssen. Schon heute ist klar, dass die beiden ersten Trend-Umkehrpunkte (2016, 2020) verpasst wurden (auch wenn 2020 noch Zukunft ist: nichts deutet darauf hin, dass die tatsächlichen Massnahmen auch nur in die Nähe dieses tipping points führen). Die Folge dieses Verfehlens ist, dass nach einer Trendwende ( vielleicht um 2025 herum – eine, Stand heute, vor allem mit Blick auf die sogenannten Entwicklungsländer überaus optimistische, wenn nicht illusorische Prognose) für das Erreichen der 0-Linie nur 10 Jahre verbleiben.
Und das bei anhaltendem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum.
Analog dazu gibt es vergleichbare (sachlich natürlich ganz andere) Aussagen, die sich mit den Risiken
- der Finanzindustrie (hier der Hinweis, dass der Crash 2008 nur vertagt wurde),
- der Digitalisierung (hier der Hinweis, dass wir stikum dabei sind, die Erwerbsarbeit weitgehend abzuschaffen) und
- der Migration (hier der Hinweis, dass – Beispiel – mehr als nur die Hälfte West-Afrikas auswandern möchte)
befassen, die an dieser Stelle auch noch auszubreiten endgültig die Stimmung verdürbe. In der Zusammenfassung sind das „akkumulierende“ Risiken, und die wären für sich bereits Grund genug für jeden Pessimismus.
Soweit zu den Problemen.
Sprechen wir von den Lösungen.
Besonders beliebt ist das Märchen „wenn jede/r nur bei sich selbst …“; das geht leicht von den Lippen, alle zeigen sich einsichtig, ein jedes legt sich sein eigenes kleines Opfer zurecht. Hier ein Tag Fleischverzicht, da ein Elektroauto, mal lieber eine Radtour und mal eine neue Heizung usw.. Der Blick in die lang-welligen Statistiken belehrt uns darüber, dass mit diesem Argument die schönsten Placebos und Lebenslügen dekoriert werden (mit einiger Erleichterung habe ich jetzt gelesen, dass selbst in der ZEIT dieser „Mythos Verzicht“ beerdigt worden ist).
Gleichwohl ist das Argument zweischneidig: die Behauptung, verantwortliches Handeln des Einzelnen bliebe wirkungslos, wäre falsch und schädlich! Natürlich bilden auch viele kleine Beiträge eine Summe. Dem stehen jedoch zwei bissige Argumente entgegen – und es ist kaum auszumachen, welches davon schwerer wiegt.
• Zunächst, und das wird niemanden überraschen, reicht dieses kleinteilige Handeln nicht an die massgeblichen Treiber heran (also Kohleverstromung, industrielle Produktion, Mobilität, Heizung/Kühlung …) – und bleibt deshalb, gemessen an der Entwicklung, nur wenig mehr als unerheblich. Denn die Umkehrung des „Kleinvieh…"-Argumentes lautet doch: viel ist es nicht!
• Eher im Verborgenen wirkt die Psychologie, und in diesem Fall ist es sogar angemessen, von masssenpsychologischen Folgen zu sprechen: wenn sich nämlich der einzelne mit sich selbst beschäftigt, wirkt das entlastend für das System! Statt den Druck auf die richtigen Stelle im System auszuüben, richtet das Individuum ihn gegen sich selbst. Und solange dieses „and-what-about-you“ seine Wirkung tut, müssen sich die politischen Institutionen keine grösseren Sorgen machen. Auf Seiten des Volkes dagegen entspannt die kleine Massnahme das eigene schlechte Gewissen – und schwächt und vermindert die soziale Verantwortlichkeit, auf einer System-relevanten Ebene aktiv zu werden.
Von Appellen an die Ökonomie ist noch weniger zu erwarten. Die Feigenblätter sind klein oder noch kleiner, nur wenige Anstrengungen sind überhaupt der Rede wert. Bevor es Ernst wird, waren die Lobbyagenten im Einsatz, und macht der Gesetzgeber tatsächlich einmal Auflagen, lautet die Parole: „Wir halten uns an Recht und Gesetz“; wie … bei den Steuern auch. Keinen Deut mehr, jede Lücke oder Ausflucht ausnutzend, aber mit einem stylishen Mattglanz-Umweltreport. Die Unternehmen bemühen ihre Portokasse; zugleich wachsen Absatz und Umsatz auf immer neue Höchststände. Und damit der Energie- und der Ressourcenverbrauch, Müllproduktion inklusive. Hin und wieder schafft das Sympathie, letztlich ist das Augenwischerei. Logisch, denn Unternehmen sind ihren Anteilseignern und damit deren Gewinnen verpflichtet. Oh je: ,„Der ’zunehmende’ Wettbewerb zwingt uns …“ Selbst das „honorige" Unternehmen bewirtschaftet höchsten den einen Meter „vor der eigenen Haustür …“. Das gewichtigere Argument ist aber doch, leider: die Mehrheit lässt es ganz.
Bleibt – eigentlich – nur der Staat als grosser Regulierer. Nun ja, der Staat. Das Thema Wachstum versus Klima steht seit wenigstens 50 Jahren auf der Agenda. Wenn wir zurückblicken: das Waldsterben haben wir mit Feinstaubbelastungen bekämpft, den Kohlekraftwerken haben wir ein paar Filter, was an deren CO2-Ausstoss nichts ändert. Rot-Grün schenkte uns das Dosenpfand und hat ein paar Fortschritte bei den erneuerbare Energien auf den Weg gebracht. Doch bevor die deutsche Solarindustrie übermütig werden konnte, hat ihr die Klimakanzlerin ins Abseits geholfen; war was? Jetzt verfehlen wir die Klimaziele, und die CO2-Emissionen – real und statistisch – streben himmelwärts. So auch das BIP. Neuerdings diskutieren wir die CO2-Steuer: die ist lächerlich. Ein paar Cent – und die sollen sogleich wieder kompensiert werden; was soll das bringen? Die politische Klasse ist gefangen im System, zudem unwillig und obendrein unfähig.
Zu all dem deutschen Genörgel kommt die Globalisierung: je genauer wir in das Thema schauen, desto klarer wird doch, dass regionale oder auch nationale Regulierung, würde sie denn stattfinden, keine oder kaum Wirkung zeigen. Das bekannte Argument: Wenn Deutschland allein seine Emissionen herunterfährt, der Rest der Welt aber so weiter macht, „dann ist doch überhaupt nicht einzusehen“, … Natürlich wären Verzicht und Entlastung wirksam, auch wenn Deutschland dabei allein bliebe, richtig ist aber auch, dass das Problem so nicht gelöst wird.
Und schliesslich ist die Klimaentwicklung nur eine von vielen Fragen, die auf nur nationaler Ebene nicht mehr zu lösen sind.
Über all diese Probleme wird viel geredet und sehr viel geschrieben. Bislang ist der Wille, auch bis zu den notwendigen Massnahmen vorzudringen, nicht zu erkennen, bestenfalls Maulheldentum. Doch selbst, wo es ein beunruhigtes Bewusstsein in Staat und Bevölkerung zu geben scheint, Greta und Rezo sei Dank, obsiegt noch immer die Tagespolitik über alle Vernunft … Und so wuchs in mir über die Jahre …
Der Verdacht
…, dass die Formen der ökonomischen und demokratischen Staatsorganisation, wie wir sie kennen und praktizieren (Parteien-, Medien- und Lobby-getrieben, repräsentativ parlamentarisch, föderal und dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet) den genannten Risiken nicht gewachsen sind.
Aber was sag ich da? Mir selbst ist mein Verdacht ungeheuer. Er macht mich schaudern … und das rührt natürlich aus der Alternative: Was und wie, wenn nicht demokratisch geordnet und legitimiert, und wer soll denn die Gesellschaften regieren? Diktatoren etwa, Autokraten? Und doch kann ich meinen Verdacht nicht einfach beiseite schieben. Und damit bin ich nicht allein. Die Demokratie ist in Verruf geraten, schon wollen Bürgervereine sie retten; Autoren wie Michel Houellebecque oder Daniel Suarez haben sie bereits aufgegeben. Mit Herrn Precht ist das Verbieten neuerlich in Mode gekommen.
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Ich beschäftige mich schon eine ganze Weile mit den Defiziten der Demokratie, mit Fragen der Organisation und der Legitimation von Herrschaft, also mit den Kernfragen gesellschaftlicher Verfasstheit. Während es für die genannten Strukturrisiken (Klima, Digitalisierung ...) keine weiteren Indizien braucht, weil dafür längst die Beweise vorliegen, verhält es sich bei den Demokratiedefiziten anders: Hier ist die Lage eher verwischt, neblig, es mangelt an Eindeutigkeit – oder, in Anlehnung an Wolfgang Merkel, allüberall spriessen die Defekte der Demokratien.
In Europa wird eine Präsidentin gewählt, die auf keinem Wahlzettel stand. Mitten in einer der schwersten Krisen des Landes bestimmen 0,4% der Wählerschaft über den neuen britischen Premier, dessen Vorgängerin auch nicht gewählt worden ist, sondern einem Rücktritt nachfolgte. Ähnliche Verluste sehen wir in den USA, in Ungarn, in Polen, in Brasilien, in Russland ... auch eine lupenreine Demokraxmyyyphq, usw.. In der Türkei regiert Herr Erdogan ohne einen Hauch von RestZweifel nach autokratischen Prinzipien mit faschistoiden Ausprägungen.
Immerhin, dem Himmel sei Dank, so steht es nicht, nicht hier.
Wie also steht es?
Das demokratische System setzt auf Mehrheiten, um den politischen Rahmen vorzugeben, in dem die Formen gesellschaftlichen Handelns stattfinden. Die Mehrheit mandatiert eine Regierung, politische Weichenstellungen im Sinne einer zuvor – zur Abstimmung eben – vorgetragenen Programmatik zu vollziehen. Eine demokratische Verfassung ist legitim, jedenfalls solange eine namhafte Wahlbeteiligung das System trägt und bestätigt.
Nun wissen wir seit Winston Churchill, dass die demokratische Organisation des Staates die schlechtest mögliche Regierungsform darstellt, abgesehen von allen anderen, die im Laufe der Historie ausprobiert worden sind. Das beruhigt, eine wohltuende Erkenntnis. Persönlich und im Einzelnen hat das niemand überprüft hat, aber es hat uns entlastet, abgelenkt, stillgestellt – das Immergleiche kleidete sich mal ein wenig mehr konservativer, mal ein wenig mehr progressiver, und wo das nicht reichte, entsteht auch schon mal eine neue Partei. Das demokratische Staatsschiff schaukelt seine Schäfchen so durch die Historie; nur hier und da kotzen ein paar Verwirrte oder Halbstarke über die Reling.
SideStep – Entropie
Nur wenn es ganz dicke kommt, wagt das Volk eine Revolte oder gar eine Revolution –, wobei! Die Revolution – das verdient einen SideStep. Sie ist auch nicht mehr, was sie mal war! Was der Franzos’ am 14. Julei als Geburt der Republik feiert, kostete über 20.000 Menschen das Leben und würde heute in der Nähe des IS und unter Terror, Massenmord und Abschaum einsortiert. Heute genügt uns die Trillerpfeife, ein Schlüsselbund, es genügen Symbole und Verweise, ein Handeln „als ob“.
Das ist ein wichtiger, argumentativ diffiziler und auch nur ein erster Defizit-Indikator: so eine Gewalt-, und vor allem so eine Opferbereitschaft, die sich als Kampf für „das Gute“ aus einem Narrativ legitimiert sieht – sie fehlt heute, auf beiden Seiten: Für die Sache des Staates, nämlich als Wehrbereitschaft und insbesondere auch als Bündnisverpflichtung, wollten freiwillig nur fünf Prozent ihr Leben riskieren. Aber auch auf Seiten der Opposition oder gar der Systemgegner ist die Risikobereitschaft eher lau: Die Figur des Revolutionärs, der die Gewaltfrage als „eine legitime, historische Notwendigkeit“ beantwortet hatte, ist nach RAF und NSU vollkommen delegitimiert. (Nachtrag 2023: Es spricht Bände, die „Letzte Generation“ als kriminelle Vereinigung hochzujazzen.) Wo und wenn sie tatsächlich einmal auftritt, werden nicht ihre Ursachen oder Ziele diskutiert. „Die Gewalt“ wird als Mittel zum Zweck verdammt, mehr noch: sie desavouiert jedwede Intention. Das System ist – im „positiven“ wie im „negativen“ Sinn – nicht mehr in der Lage, jene Blindheit zu mobilisieren, die es braucht, dafür oder dagegen das eigene Leben zu riskieren; ja, sogar die Frage danach trifft auf Unverständnis.
Natürlich gibt es Gewalt in vielen Ausprägungen, häusliche, strukturelle, … auch politische, und Menschen sterben in der Folge ihrer Anwendung. Doch hat sie gleichermassen ihre „nationale Rechtfertigung", wie auch, umgekehrt, ihren Klassencharakter (als „Aufstand gegen die herrschende Klasse“) vollständig eingebüsst. Die Gewalt ist politisch-narrativ entkernt und, wenn überhaupt irgendwas, strukturell identitär. Sie ist auf ihre aktionistische, phänomenale Erscheinung reduziert, „ein Kick“. Wäre die Wirkung nicht so fatal, sie wäre vom Extremsport kaum zu unterscheiden (–> Wehrsportgruppen …). Es mag also sein, dass die Gewalt Leben kostet, sogar das eigene, aber ihr fehlt ein Ziel, das „das wert macht“, aufwiegt. Bei den geradezu epidemischen Massenmorden in den USA ist das besonders auffällig: Deswegen ist auch nicht der Tod im Kampf die logische Climax, sondern der Selbstmord (nämlich als Konsequenz der Sinnlosigkeit). Ohne das „höhere“ Ziel ist Gewalt a priori illegitim – und natürlich wird über Legitimität auch dann gestritten, wenn es ein höheres Ziel gibt – wie etwa bei der „Verteidigung des Landes“oder im „Kampf gegen den Faschismus“).
Im Ergebnis haben wir ein auf allen Seiten lauwarmes, identifikationsarmes, entropisches Staatsverständnis und so haben auch Revolten (und mehr noch Revolutionen) ihr ursprünglich erhebliches Droh-, weil Gewaltpotential, verloren. Gewalt IST kein Mittel der gesellschaftlichen Durchsetzung, der Staat vertritt das Monopol. In anderen Worten ist das System nur noch eins: alternativlos.
Irritierend. Es riecht nach einem Tabubruch. Das Argument dahinter ist aber nicht Gewalt-befürwortend oder gar -verherrlichend, sondern analytisch, diagnostisch: Wenn in einer Gesellschaft Gewalt als letztes Mittel der „Notwehr“ illegitim geworden ist (nochmal mit dem zur Seite gesprochenen Hinweis darauf, dass Polizei- und Militärgewalt sich der – beinahe – gleichen Legitimitätsfrage ausgesetzt sehen, wie Steinewerfer und Attentäter – Nachtrag 2023: das hat sich geändert …), so haben die systemischen Zwecke als solche gelitten, nämlich die mobilisierenden Kräfte von, je nach dem, Recht oder Unrecht.
Mit dieser Diagnose ist eine Krankheit benannt: gallopierende Wertschwäche. Wie aus dem Hinterhalt kommt die Erkenntnis erst im zweiten Blick, in der Ableitung: die mangelnde Gewaltbereitschaft oder, weniger kriegerisch, die mangelnde Aggressivität, zeigt auch Spuren im administrativen Prozess: alles lau, alles faul, der Ausgleich zielt auf die grösste gemeinsame Schmerzvermeidung. Nur der biedermeierliche Diskurs weiss solche Krankheit zu schätzen: Es herrscht Ruhe im Land. Die Sozial„partner“ verbringen die Nächte miteinander, um im frühen Tageslicht die Geburt von Kompromissen zu verkünden. Der ganze Kontinent trägt seine strukturellen Gewalten in Institutionen aus, mit der EZB, durch den Rat, in der Eurogruppe ... Es herrschen stabile Verhältnisse.
Diese „Solidität“ hat dem System schlecht getan; es schnarcht in moderater Tonlage vor sich hin! Man hat sich eingerichtet mit all den Lückenbüssern und Hilfskonstruktionen. Die Probleme werden verwaltet, niemand hat den Anspruch, eines zu lösen. Im Zentrum aller Aufmerksamkeit steht die Gruppendynamik, der Binnendiskurs. Postenschieben: Parteien administrieren Jobs, Pensionsansprüche, Dienstwagen – sie erschöpfen sich im Parteiinteresse. Entsprechend beliebig, besser gesagt: hausgemacht ist der Zugang zur Macht; von einem „politischen Mandat“ durch die Wähler zu reden, ist zynisch, grenzt an Sarkasmus. Wähler wissen schon lange nicht mehr, was sie gewählt haben: Es ist ein Kreuz mit dem Kreuz. Bei der ...CDU bekommt man die FDP, die Grünen oder die Sozialdemokraten als Beipack, und, wer weiss, bald auch irgendwelche Alternativen; usw.. Desgleichen programmatisch: die CDU schaltet die Kernkraft ab, die SPD führt die Agenda 2010 ein, die Grünen ermöglichen ausländische Militäreinsätze (der Nachtrag 2023 würde diesen Text bis zur Unlesbarkeit verlängern).
Worüber eigentlich habe ich entschieden?!
Welchen sachlichen Gehalt hatte mein explizites Votum?
Die Verwirrung auf der Metaebene ist damit nur angedeutet. Aber auch unten rum, wo gehandelt wird, ist mehrheitlich alles unklar. Soll es ein Gesetz geben, werden die Parlamentsflure über Jahre und Jahrzehnte von Lobbyisten belagert, weit nach Mitternacht wird eine klitzekleine Änderung in den Gesetzestext eingeschmuggelt, und tags drauf reiben sich alle die Augen. Herzzerreissend auch die gegenteilige Entwicklung, wenn etwa drei bis fünf Gelbbauchunken eine Stromtrasse behindern. Soweit die polemische Verkürzung der Tatsache, dass die demokratische Praxis ihrer Verfassung (unserer) nicht mehr gerecht wird – womit nicht gesagt ist, dass irgendetwas Illegales oder Widriges geschieht, und eben das ist Teil des Problems.
Denn selbst wenn es einmal gut geht (zufällig, Mars und Saturn standen in der Jungfrau), wenn es tatsächlich einmal ein Ergebnis gibt: es hat alles viel zu lange geDAUERT. Bis ein politisches Verfahren zu einem Ende gekommen ist, regelt es schon gar nicht mehr, was anfänglich auf der Agenda stand. Denn einerseits hat der demokratische Prozess die unzähligen Stakeholder involviert, die mit Hauen und Stechen ihr Interesse verteidigen. Bevor jedoch,andererseits, irgendetwas Rechtskraft erlangt, brauchen die Verfassungsgerichte, bis hin zum EuGH, noch das eine oder andere Jahrzehntchen. Keine grössere Entscheidung wird einfach mal so umgesetzt. Schlussendlich sind zwei oder drei (technologische) Generationen ins Land gegangen, wenn nicht eine Disruption, die Wirtschaft, das Klima und das politische Klima haben sich gewandelt, und der zu regelnde Gegenstand hat sich fundamental soweit geändert, dass die mühsam gefundene Regel ins Leere greift: alles auf Anfang.
Bis ungefähr hierher, so liesse sich das zusammenfassen, geht die Standardkritik am demokratischen Verfahren – sozusagen mit Ach und Krach und grad noch so – in den Grenzen Winston Churchills. Was nun aber neu ist (Neuland, haha), ist die Tatsache, dass der real stattfindende Weltenlauf auf einen katastrophalen Pfad geraten ist, für den sich alle traditionellen Verfahrensweisen und Prozesse, die Kompromisse, die Checks and Balances, als kontraproduktiv erweisen: und zwar sowohl die demokratischen wie auch alle anderen. Es mag ja sein, dass innerhalb der nächsten 50 Jahre auch auf der Grundlage der herkömmlichen Modelle ein sauberer Weltenrettungsplan gelingt; und dann: Operation gelungen, Patient tot. Die sozusagen Raketen-getriebenen Realitäten haben die dampfenden (na, eher qualmenden) Lokomotiven des politischen Prozesses mit Überschall überholt. Meine
grundsätzlichen Zweifel
umkreisen die folgenden Phänomene:
- Die Dummheit der Wähler.
Eine Publikumsbeschimpfung schreibt sich immer so schön, aber natürlich geht es nicht um Intelligenz, (ja, auch), sondern um die Fähigkeit, politische Fragestellungen bis zur Entscheidbarkeit zu durchdringen. Wenn ein weltbekannter Intellektueller wie Richard Dawkins sich selbst nicht für hinreichend kompetent erachtet, um über den Brexit zu entscheiden, weil er die Fragestellung in ihren Auswirkungen für zu komplex erachtet, dann erscheinen mir meine Zweifel an „demokratischen Entscheidungen“ als zumindest berechtigt. Und der Brexit ist ja nur das eine Beispiel, das zahllose gesellschaftliche Regelungsanforderungen vertritt. Fach-sachlich ist das Publikum in den zur Entscheidung anstehenden Fragen regelmässig uninformiert UND inkompetent – und folgt, wo nicht nur dem eigenen Vorteil, einer emotional-medialen Zufällig- und Unmündigkeit. Wenn nicht den dunklen Machenschaften unbeweisbar russischer Influencer. - Der Opportunismus der Gewählten.
Was eine Wahl wählt, ist vollkommen unklar, sowohl sachlich, wie personell. Man kann den politischen Parteien nicht mangelnde Programmatik vorwerfen; einigen schon, aber es ist nicht die Regel. Entscheidend ist, dass diese Programme keine oder kaum eine Rolle spielen, weil sie in Koalitionsverandlungen bis zur Unkenntlichkeit verwässert werden UND weil sie im politischen Alltag regelmässig durch Sachzwänge, Lobbyarbeit und auch nationale und internationale Verwerfungen bis in ihr Gegenteil verkehrt werden. Letztlich ist das den allermeisten 99% der Mandatsträger auch ziemlich egal, solange sie weiter in ihren Sesseln sitzen können. - Der Verlust der Realität.
Durch die Komplexität und Geschwindigkeit des global verschränkten, weltlichen Geschehens verliert die politische Steuerung auf einer exponentiell abfallenden Kurve den Anschluss an die Realität. Der Exekutive fehlt sowohl der Einblick in die disruptiven Entwicklungen wie auch der Durchgriff auf global agierende Organisationen. Doch beginnt die Problematik bereits bei der intellektuellen Durchdringung: die Legislative, die politischen Apparate, können die zu regelnde Themenlandschaft bestenfalls noch in Zirkeln von Spezialisten diskutieren; die Mehrheit der Mandatsträger stimmen dann Sachverhalten (und Folgen) zu, die sie kaum kennen und noch weniger verstanden haben. Und sogar die (meist autodidaktisch qualifizierten) Spezialisten werden von widersprüchlichen Nachrichten, seien es solche der widerstreitenden Experten oder solche der vielen Interessenvertreter, bis zur Paralyse instrumentalisiert. - Die Bewirtschaftung des Zweifels.
Bevor irgendeine Entscheidung es bis zu ihrer Entscheidbarkeit gebracht hat, wird in der Zielgruppen-gerechten Aufarbeitung jede Eindeutigkeit wie in einem Säurebad aufgelöst. Was in der Substanz einer Ausrichtung der demokratischen Entscheidungsfindungen dienen sollte, wird in der öffentlichen Vermarktung (das mediale Geschehen unterliegt ja Marktgesetzen, nicht inhaltlichen oder gar Wahrheits-getriebenen Dispositionen) bis zur Unentscheidbarkeit zerrieben; für jede eindeutige Diagnose findet sich eine interessierte Bewirtschaftung des Zweifels und der Stimmung. - Der Verlust der Durchsetzbarkeit.
Auch Mehrheiten erreichen ihre Ziele nicht, zum Einen, weil diese Mehrheiten keine monolithischen Blöcke mehr abbilden, sondern anwachsend viele Player zu viele eigene und inkongruente Interessen verfolgen. Doch selbst wenn Mehrheiten politisch (unterstellt) richtige Entscheidungen gefunden haben, geraten diese – siehe „en marche“ vs. „Jilets Jaunes“ – in massive Bedrängnis, sobald die Exekutiven der Mehrheit mit genügend wirksamen Entscheidungen in Besitzstände und/oder Komfortzonen eingreifen. - Das Ende der politischen Geschäftsfähigkeit.
Nach allem Gerangel, Gezeter und Gezitter schliesslich haben etwaige, seltene Fortschritte einen flüchtigen Charakter, weil keine politische Generation (Obama –> Trump) sich an ein politisches Erbe gebunden sieht. „Pacta sund servanda“ – Was sogar für einen Franz-Josef Strauss als politische Selbstverständlichkeit galt, erscheint uns heute als eine naive Parole aus der Vergangenheit.
Ich fasse das einmal zusammen: Unterstellt, dass die anfangs skizzierte Krisen- und Katastrophendiagnose in einem nur „nennenswerten“ Umfang korrekt ist (und wer – eigentlich – wollte das bezweifeln), so erscheinen die auf diese Weise in Mitleidenschaft gezogenen Instrumente und Mechaniken des demokratischen Prozesses der Dringlichkeit, dem Umfang und der Nachhaltigkeitsnot sowie dem Tempo der Entscheidungsbedarfe nicht gewachsen.
Was ist die Alternative?
Rede ich mit dieser Bestandsaufnahme einer anti-demokratischen, gar rechts-autokratischen Attitüde das Wort? Leider nein – nicht mal das. Das wäre doch um so vieles einfacher: einfach ein paar Skrupel über Bord geworfen, eine starke Hand möge es richten – und gut wär’s. Aber nein, mit aller Entschiedenheit – not at all! Wie oft war an dieser Demarkationslinie (z.B.) schon von der „Öko-Diktatur“ die Rede – und wir haben uns schaudernd davon abgewandt! Das wollen nicht, und sei es aus durchsichtig-uneinsichtigen Interessen. Und so läuft unsere Gesellschaft – und wenn man genauer hinschaut ist es bereits die Weltgesellschaft – in einen wirklich radikalen Double Bind: So, wie die Welt verfasst ist, werden die Probleme nicht zu lösen sein; umgekehrt aber wollen wir unter den diktatorischen Zwängen, die wir für nötig vermuten, nicht leben.
Das ist insoweit keine besonders aussichtsreiche Analyse. Und dann? End of story? Natürlich stellt sich die Frage, ob wir uns damit abfinden müssen – und im Prinzip ist die Frage nach der politischen Radikalität zugleich auch die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Demokratie!
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Gimme a break!
Von Paul Auster gibt es eine schöne Geschichte, in der er seinen Helden in einen abgelegenen Keller führt und die Kellertür, die innen keine Klinke hat, hinter ihm zufallen lässt. Der bis dahin auktoriale Erzähler tritt auf den Plan und beklagt, dass er nicht weiter wisse. Er habe keine Ahnung, wie er seinen Protagonisten aus dieser misslichen Situation literarisch überzeugend wieder herausschreiben könne.Bin ich auch an einem solchen Punkt? Habe ich die Demokratie und die Gesellschaft gleichsam realitätsgetrieben in den Dutt geschrieben – und nun fehlt mir eine belastbare Idee, wie der Karren aus dem Dreck kommen soll?
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Das Mandat
Wir glauben und sind es gewohnt, Parteien nach ihren politischen Vorstellungen zu wählen. Wenn wir – for the sake of the argument – die oben zitierten parteilich-gruppendynamischen Verirrungen einmal ignorieren, und die Parteien in ihrer Programmatik ernst nehmen wollen, dann müssten wir zunächst einmal die Programme anschauen. Die Grünen etwa brachten es zur Bundestagswahl 2017 auf ein Parteiprogramm von 248 Seiten; die anderen Parteien kamen mit weit weniger aus, aber in allen steht, in Summe, „viel“ drin. Gemessen an diesen Anstrengungen ist es falsch und ungerecht, eine Partei auf eine Parole zu reduzieren, die Grünen etwa auf die Parole „Umweltschutz“ – und doch genügen der öffentlichen Wahrnehmung zumeist die Plakate. In dieser Verkürzung macht dann die CDU in Wirtschaft, die SPD steht für das Soziale, die FDP kommt von den Steuern nicht los und die Linken, was wollten die noch gleich, noch mehr Soziales, ach ja.
Gerecht oder ungerecht, mehr bleibt nicht hängen, das kommt beim Wähler an. Die Gesellschaft erlaubt sich die Wahl einer Regierung auf der Grundlage von ein paar wenigen Wortpaaren, in denen sich Sicherheit auf Wohlstand reimt: Stabilität und Erneuerung; Von hier an Zukunft; Nie gab es mehr zu tun; usw.. Frau Soundso sieht nett aus, Herr Soundso ist schlagfertig, und der-und-der hat dann-und-dann aber sowas von abgeloosed; ein paar talkshows, ein paar flashlights, ein paar Vorurteile – entscheiden über die nächsten vier Jahre. Und genau die sind eben jene vier Jahre, in denen die ganze Gesellschaft UNbedingt und radikal umgestaltet werden müsste, eigentlich, wenigstens müsste dieser Prozess auf den Weg gebracht werden!
Ein Teil des demokratischen Problems liegt sicher in der sachlichen Komplexität, den vielschichtigen Bewertungsmöglichkeiten und auch der Uneindeutigkeit gesellschaftlicher Fragestellungen. „Alles so schön bunt hier, ich kann mich gar nicht entscheiden!“ (https://musikguru.de/nina-hagen/songtext-tv-glotzer-477702.html) Ein anderer, auch nicht unerheblicher Teil des demokratischen Versagens liegt an der oft selbstverschuldeten Unmündigkeit der Wähler, denen Schlagworte genügen. Sei es nun zu komplex oder zu schwierig: will denn der Wähler eine Regierung, die das Land in den Untergang führt?
Vermutlich nicht.
Dass die Demokratie als gesellschaftliche Organisationsform auf eine abschüssige Bahn geraten ist, das haben wir jetzt ausführlich dargelegt, hat viele Ursachen. Wenn aber, Henne oder Ei, obendrein nicht klar ist, was eigentlich geschehen sollte, und wenn die Vorstellungen davon, was geschehen sollte, ständig (wieder) in Frage stehen, dann sind unbefriedigende, und inzwischen eben die katastrophalen Folgen davon vorhersehbar. Ich meine:
Das ist ein lösbares Problem.
Am Ende steht die eine Frage: was – eigentlich – soll die Regierung tun? Wir sind unzufrieden mit dem, was geschieht, aber was geschehen soll, ist unklar. Die Regierung, so sagen wir das leichthin, hat ihr Mandat vom Wähler, aber welches eigentlich? Nun gut, der oder die Abgeordnete möge sich für die Verhältnisse in seinem/ihrem Wahlkreis einsetzen (schon der Teil hat selten mit der Zukunft zu tun; aber wenn es um die Nation geht, um das Weltgeschehen? Liesse sich das messbar benennen? Es bräuchte also einen Vorschlag, aber mit Vorschlägen ist das so eine Sache. Wir leben zwar in einer Zeit, in der die
I-N-N-O-V-A-T-I-O-N-!
nur in Versalien vorkommt und jede Disruption wie eine Sonnenwendfeier betanzt wird. Bis in unser politisches System dagegen hat diese Änderungsbereitschaft noch nicht gereicht: Was ist, gilt als sakrosankt, und wer es wagt, dazu einen anderen Vorschlag zu machen – abschätziges bis mitleidiges Lächeln – kann nur ein Troll sein oder Schlimmeres.
Vorschlag
Wir kennen das Phänomen, dass die vorlaufenden Ziele („Versprechungen“) nach der Wahl – irgendwie – nicht mehr gelten. Man macht diese Erfahrung ein, zwei, vielleicht dreimal im Leben – und dann wählt man, weil sich das so gehört, ohne politischen Anspruch – oder man bleibt gleich der Wahlurne fern. Kommt es zu einer Wahl, so entscheidet die Wählerin für sich und privatim über das Was und das Warum; wobei: nur selten kommt es zu einer „Begründung“ – etwa ob die Regierung tat und tuen wird, was ihr aufgegeben wurde, oder ob sie ihren Auftrag und damit ihren Auftraggeber verrät. Gelegentlich sind hinterhältige Politiker für einen „Verrat“ dingfest zu machen, womöglich aber waren es „nur“ Umfaller; manchmal „fallen“ ganze Parteien. Auch dann wird das Wahlvolk mehr mit dem Verrat beschäftigt, als mit den tatsächlichen Ursachen, die dazu geführt haben – oft genug ist es das elendige Koalitionsgeracker (ja, auch -gegacker), bei dem die Parteien sich gegenseitig die „Erfolge“verhindern.
In diesem Verfahren wird das „Mandat“, auf das der Wähler seine Regierung gerne verpflichtet hätte, zu einer bedeutungslosen Leerformel.
Muss das so sein?
Es klingt ziemlich simpel, und wäre doch ein radikaler Bruch mit der bestehenden Systempraxis: der Anfang, die Ursache, die Begründung einer Regierungskonstellation, sollte nicht in der Vergangenheit liegen! Vielmehr gehört das Mandat an den Anfang einer Regierung; es ist ein Auftrag! Welcher ist das, eigentlich, genau? Ist er denn klar formuliert, ist er messbar, sanktionierbar? Wir messen alles, nur nicht das Regieren. Wir belohnen und zeichnen aus, wir bewerten und bestrafen … alles. Regieren ist eine DIENSTleistung an der Nation: Leistet sie, was sie verspricht? „Das wird man doch noch fragen dürfen".
- Wie wird Regierungsversagen bestraft?
- Wie wird der Erfolg belohnt?
An der Stelle mag manchem Kennedys Diktum auf der Zunge brennen: „Don’t ask, what your country can do for you“ … usw., aber das wäre ein Kategorienfehler. „Der Staat“ darf seine Bürger sehr wohl in die Pflicht nehmen, nur ist nicht die Regierung „der Staat“; sie dient ihm und mehr noch: Alle Macht geht vom Volke aus!, Soviel zur Klarstellung. In diesem Sinne ist das Mandat, radikal und neu definiert, ist nicht der Job, den sich eine Regierung nach dem aufrechten Ringen – oder dem gerissenen Poker – der Koalitionspartner zurecht legt. Es ist ein im Vorhinein bestehender Auftrag des Volkes! Ich meine, für eine wieder funktionsfähige Demokratie müsste das Mandat verbindlich und vor allem messbar gefasst werden.
Schliesslich ist es doch für das Land (oder die Welt) doch eigentlich ganz ohne Belang, welche Partei es umsetzt, wenn sie denn umsetzt, was das Mandat will (... und selbst dann führen noch viele Wege nach Rom). Auch unter einem fixen Mandat würden die Ausführungsmodalitäten von Partei zu Partei wechseln – und unter dieser Prämisse machte es immer noch Sinn, eine Partei zu wählen.
Wer es, wie ich, nicht lassen kann, so einen auf das Allgemeine zielenden „Vorschlag“ zu machen, ist gut beraten, nicht allzu sehr ins Detail zu gehen; man verläuft sich da leicht. Beispielsweise wird der Wahlvorgang einigermassen überfordert, sollte er über ein Mandat entscheiden, wie es etwa die Grünen 248 Seiten lang darlegen. Das ist Quatsch; es müssen wenige Ziele sein, die das Mandat eingrenzen, aber konkret und erreichbar – und der „administrative Rest“ bleibt ungeregelt, solange er diesen Zielen nicht zuwider läuft. Überhaupt, besser, man hält es mit der Verfassung: „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“.
Ich will aber doch andeuten, wie ich glaube, dass das gehen könnte, …
Nehmen wir eine – ganz wörtlich – brennende Frage: das Klima; wie gesagt: nur ein Thema unter mehreren, vermutlich würde eine „unabhängige Mandatskommission“ solche Grossbaustellen in einem Kanon von Einzelmandaten (in etwa angelehnt an ministeriale Zuständigkeiten) zusammenfassen.
Klima – das Mandat
Die Zustimmung zu den Grünen und andere jüngere Gesellschafts-Zeichen legen nahe, dass es eine grundsätzliche Bereitschaft in der Gesellschaft gibt, die ökologischen Notwendigkeiten auch als Ziele anzuerkennen – und insofern in ein Mandat einfliessen zu lassen. Für dieses Beispiel erarbeitet die Kommission ein verbindliches Ziel für die Absenkung von CO2-Emissionen und legt dem Wahlvolk begründete Alternativen vor:
- erstens minus 20% in der Mandats-Periode
- sowie zweitens Massnahmen, die weitere minus 20% in der nächsten Periode ermöglichen …
- alternativ minus 10% in der Mandats-Periode
- dann aber minus 50% in der nächsten …
Das Wahlvolk entscheidet in dem Fall darüber, ob die „Schmerzen“ gleichmässig über zwei Perioden verteilt werden oder aber eine längere Vorbereitung zu dann massiveren Massnahmen führte. Im Fall der 10/50-Alternative würden die „massiveren“ Massnahmen zu Beginn der ersten Periode verbindlich verabschiedet.
Analog dazu würden auch bei anderen Themen Alternativen angeboten.
Solche Alternativen werden unter Hinzuziehung einer Bürger-beratenen Fachöffentlichkeit erarbeitet und mit einem Detailierungsgrad aufbereitet, der eine Bewertung gestattet. Mit Hilfe einer breiten Medienöffentlichkeit (vergleichbar der vor Wahlen) werden die Ergebnisse vorgestellt, begründet, diskutiert und zur (Wahl-)Entscheidung dem Bürger vorgelegt. Auf diese Weise entsteht ein Kanon von 10 oder 15 Topics mit Kennzahlen (also Messgrössen), die umzusetzen der nächsten Regierung aufgegeben wird.
Die bereits beiläufig eingeführte „Mandatskommision“ stelle ich mir themenspezifisch als eine den „Wirtschaftsweisen“ ähnliche, aber „Bürger-beteiligte“ Zusammenstellung von sagen wir elf Persönlichkeiten vor, die, nachdem sie vom Bundespräsidenten berufen wurden, GRUNDsätzlich unabhängig sind. Die Mitglieder der Kommission werden auf 10 Jahre berufen, verbleiben jedoch höchstens bis zu ihrem 55. Lebensjahr im Amt. Nach dem Beginn einer Legislaturperiode verfolgt die Kommission den Auftrag, das Mandat für die nächst-folgende Regierung zu erarbeiten.
Die Kommission wird aus dem Etat des Bundespräsidenten finanziert und mit einem Budget ausgestattet, dass es ihr erlaubt, die Mandats-relevanten Fragestellungen, etwa durch Veranstaltungen, Studien, Forschungsaufträge …, sorgfältig vorzustrukturieren. Als Ergebnis ihrer Arbeit formuliert die Kommission das „kommende“ Mandat genügend scharf, das Ziele erreicht werden und zugleich hinreichend offen, dass einer so beauftragten Regierung Mittel und Wege zur Verfügung stehen, in den Grenzen des Mandates eigene Vortellungen einzubringen.
Nach diesem Verfahren erscheint das „generelle Ziel“, also das Regierungsprogramm, weitgehend abgetrennt sowohl von der Ausrichtung einer Partei wie auch von den Zufälligkeiten einer Koalitionsbildung. In einem radikalen Bruch mit dem überkommenen politischen Betrieb verpflichtet die Wahl die Regierung auf die Umsetzung des Mandates. Nur der Vollständigkeit halber: Praktisch würde das bedeuten, dass der politische Wettbewerb nicht mehr um die die programmatischen (Kern-) Zielsetzungen selbst stattfindet, sondern um Kompetenzen und Methoden sowie den Erfüllungsweg und den Erfüllungsgrad (beispielweise könnte eine Regierung im ersten Schritt das Mandat auch übererfüllen …etc.).
Kontrolle wäre gut
Gehen wir von den Beobachtungen und Erfahrungen der zurückliegenden Jahrtausende aus, so würde vermutlich – Stand heute – im Umgang mit „so einem Mandat“ auf Seiten der traditionellen politischen Player ein munteres Tricksen und Unterlaufen stattfinden. In breitgefächerten Kampagnen würden zudem von irgendwelchen Vereinen der sozialen Marktwirtschaft oder anderen ähnlichen "gesellschaftlichen Kräften" alles getan, um die „Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass dieses und jenes nicht oder erst später möglich wäre, oder bereits in der Zielstellung falsch sei, gerne auch illegal!“ Wir kennen das. Da die Politik genau so funktioniert, müssten im Vorfeld dieser „Mandatsrevolution“ einige Anstrengungen unternommen werden, dem vorzubeugen: etwa durch Unveränderlichkeitsbeschlüsse, natürlich durch die vordefinierten Messzahlen, vor allem aber durch Sanktionen, und zwar in beiden Richtungen. Regierungen, die Ziele erreichen, werden „belohnt“ et vice versa (aus der Hüfte geschossen: mit Pensionszu- oder absagen; auf Ebene der Partei vielleicht mit einem %-Bonus/Malus bei den Wahlen … vorsätzliches Versagen wäre sogar strafbar … alles Ausführungsdetails, die hier nur beispielhaft stehen).
Richtigstellung und Zurücknahme
Zu den Voraussetzungen des Verfahrens gehört Zustimmung, also demokratische Legitimität. Die Tatsache, dass ein solches Verfahren durch nichts vorgegeben und nirgendwo im bestehenden System geregelt ist, schafft gewaltige Hürden … bis hin zu einer Änderung des Grundgesetzes. Wie wahrscheinlich ist das denn?! Würde ein Wunder geschehen, käme es zu endlosen Höchsterregungsdebatten, in die sich alle berufenen wie unberufenen Corporationen des Landes einmischen, und mit nur einer Prise Realismus ist so ein Vorhaben schlicht unmöglich. Das überrascht jetzt auch niemanden.
Aber – nochmal auf Anfang:
So, wie es geht, geht es schief. Irgendwas muss uns, der Gesellschaft, der Welt sogar, einfallen. Irgendwo müssen wir anfangen, Dinge anders zu machen, als bisher. Entweder richten wir uns darauf ein, dass es, nach 70 Jahren Wohlstand und Frieden, wieder zu Not und Elend kommt, dass es im Krisenfall zu „Notstandsmassnahmen“ kommt, zu autokratischen und wer weiss was für Strukturen, … zu Krieg und Bürgerkrieg gar – oder uns fällt ein, wie wir die Demokratie so umbauen, dass wir uns am Schopf aus dem Schlamassel herausziehen.
(neuerlich durchgesehene Fassung: 05-2023)
Das ist doch alles Alarmismus! ;-)
https://www.heise.de/tp/features/Klima-Hysterie-4480583.html
Bei vielem tät schon reichen über 80jährigen nur noch das Wahlrecht zu Rentenfragen zu belassen.
Im Übrigen: Bei über 500 laufenden Verträgen mit Beraterfirmen sollten wir uns keine falschen Vorstellungen über die Beratungsrichtung machen...