Die Wirklichkeit hat meine Rezension von Ken Folletts "Never" eingeholt. Meine ursprünglich ergänzenden Kommentare haben eine … und noch eine Aktualisierung nötig gemacht; inzwischen wachsen die Ergänzungen der Rezension über den Kopf, und ich habe sie hier zu einem eigenen Beitrag zusammengefasst – wobei der jüngste "Nachtrag" an erster Stelle steht.
Ich verstehe Putin nicht
DefCon 2
Ken Follett und die Wirklichkeit
Kriegsschauplatz Europa
Nachtrag am 24-II – DefCon 2
Meine Versuche, der Lage mit politischen, strategischen, psychologischen oder historischen „Analysen“ gerecht zu werden, sind gescheitert. Ich muss sogar einsehen, dass der Begriff „Analyse“ Kenntnisse und Einsichten erfordert, die mir – und der Öffentlichkeit – nicht zur Verfügung standen. Im Angesicht der Brutalität, Radikalität und Skrupellosigkeit von Putins Schlag gegen die Ukraine erscheinen mir meine eigenen, subtilen Erwägungen von Pros und Cons und den durchaus verteilten Verantwortlichkeiten obsolet. Putin ist Täter, ein krankes Hirn. Und … hätte, hätte, Fahrradkette, das können wir jetzt zur Seite legen.
Schrödingers Katze
Mit den Ereignissen der Nacht sind die Nationen Europas zu Geiseln geworden. Ihnen wird beschieden werden. Die „Öffentlichkeit“ ist zum Empfänger von Verlautbarungen geworden; die Medien wechseln in die Kriegsberichterstattung. Zu dem, was geschieht, haben „wir“ nichts zu sagen, nichts beizutragen, nichts zu entscheiden. Es werden jetzt „scharfe“ Reaktionen für „angemessen“ erklärt. Das ist das Vokabular einer Eskalation, die vorgibt, eine Eskalation verhindern zu wollen.
… ja, aber …
es genügt nicht, um das eigene Leben zu fürchten. Vor dem Krieg mag man sich als Taube oder Falke sehen; und jeder auch nur im Ansatz vernunftbegabte Mensch wird sich gegen den Krieg stellen! Putins Handeln ähnelt jedoch auf so erschreckende Weise dem historischen Ablauf, der in den zweiten Weltkrieg geführt hat, dass jeder Einzelne sich die Frage stellen wird, stellen muss, welche Umstände das Risiko für das eigene Leben rechtfertigen.
Wenn das „davor“ vorbei ist und es IST Krieg, gibt es die Wahl zwischen Taube und Falke nicht mehr. Jetzt bist Du Opfer, dann halt die Klappe, oder Du wirst Täter, und sei es durch Zustimmung.
Doch Zustimmung – wozu? Sanktionen!, heisst es allerorten; doch deren Ambivalenz wird sogleich mutdiskutiert: wenn sie wirken, sind es Waffen, wenn sie nicht wirken, sind sie nicht „angemessen“. In seiner Vorlesung „zur Verteidigung der Gesellschaft“ (1975) hatte Michel Foucault das berühmte Zitat von Clausewitz demaskiert: „Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“ Das hat uns jetzt über Jahrzehnte begleitet; nun werden wir damit konfrontiert, dass der Politik die Mittel ausgehen.
Die Stunde des Fatalismus
Solange der Krieg auf die Ukraine beschränkt bleibt, kommt es nicht zum Einsatz von Atomwaffen, vermutlich. Die Frage wird jedoch sein, ob die Sanktionen des Westens von Putin als (quasi-militärischer) Angriff und damit als Ausweitung der Kampfzone interpretiert werden. Dann reden wir nicht länger von einem Krieg mit konventionellen Mitteln, und der Einsatz von Atomwaffen würde zur Ultima Ratio der Abschreckung.
In solchen Momenten sehr grosser Gefahr sind Panik und Hysterie nicht weit. Jetzt ist so ein Moment. Wenngleich solche emotionalen Zustände von der Ratio nicht wirklich im Zaum gehalten werden können, ist es doch hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass sie „sinnlos“ sind. Es gibt keine denkbaren Reaktionsmöglichkeiten, für die diese Alarmzustände die notwendigen Energien freisetzen würden: Angriff? Ich, Du, Er, Sie? – „wir“ können Putin nicht angreifen. Flucht? Wohin? Wenn der Konflikt eskaliert, wird die ganze Welt zum Schauplatz, und dann steht die Frage im Raum, ob es nicht besser wäre, sofort zu sterben, als die Folgen eines atomaren Konfliktes zu erleben.
Nachtrag am 22-II-2022
Fünf: Wie entsteht Wirklichkeit?
Ich habe, in meiner Jugend, genügend lange in (linksradikalen) Gruppen verbracht, um mich daran zu erinnern, wie Gruppen eigene Realitäten definieren. Ich kenne, will ich damit sagen, die selbstverstärkende Realitätsspirale von Sekten, und ich weiss, dass nach genügend langer Konditionierung eine so geschaffene Realität zum Credo des (der) Subjekte/s wird. Zu einem bestimmt-unbestimmten Zeitpunkt braucht es dann die Gruppe nicht mehr, um gleichwohl an dem Glauben festzuhalten.
Bei Sekten fallen uns die einhergehenden Realitätsverluste sofort ins Auge; aber mit genügend Abstand müssen wir einsehen, dass auch die Realität der Norm, der Mitte, der Gesellschaft konstruiert ist. Wenn wir die Abweichung der Sekte, der Querdenker, der Splittergruppen konstatieren, so geschieht das im Vergleich zur normativen Kraft der Mitte. Aufklärung ist insofern die Fähigkeit des Subjektes, die eigenen Bedingtheiten mitzudenken. Diese Fähigkeit ist fragil, prekär und sozial hergestellt. Wenn die selbstkritische Haltung so gar keine Bestätigung erfährt, gerät sie in Zweifel: Wer sich einmal geirrt hat, weiss zumindest, dass Irrtümer möglich sind – und das bringt den Zweifel in den Zweifel. Oder, die umgekehrte Reaktion, eine diesen Zweifel abwehrende Verhärtung.
Macht entscheidet für und besichert das Interesse. In der Einsamkeit (weitgehend) absoluter Macht gibt es keine soziale Kontrollfunktion: das eigene Credo macht sich selbständig, schottet sich ab. Befördert wird die Eigen-Interpretation der Wirklichkeit dadurch, dass meist recht klar zu erkennen ist, dass eine gegenüberliegende, abweichende Interpretation (ebenfalls „nur“) Interesse-getrieben ist – und die „Realität“ unter das dort eigene Interesse beugt. Doch auch wer den Splitter im Auge des Gegenübers sieht, wird nicht schon deshalb den Balken im eigenen Auge erkennen.
Sechs: Das politische Bewusstsein ist an das Subjekt gebunden.
Wenn wir von Wladimir Putin sprechen, assistiert ein weiterer Aspekt dieser psychologischen Verengung: das Alter. Zwischen dem Putin, der vor 20 Jahren im deutschen Bundestag sprach (t-online hat seine Rede ausgegraben), und dem Putin, der heute einsame Entscheidungen trifft, liegt ein Lebensabschnittsschalter: derjenige Putin, der bereit war, etwas zu erreichen (und dafür gewisse Kompromisse eingehen würde), wurde von demjenigen Putin zur Seite geschoben, der sich von solchen Illusionen getrennt hat. Putin fühlt sich vom Westen abgrundtief verarscht: seine ausgestreckte Hand wurde mit eiskaltem Kalkül ausgenutzt. Putin ist jetzt 69 Jahre alt, Altersstarrsinn ist ein verbreitetes Phänomen, und wer weiss, wie gesund er ist. Aber auch ohne alterstypische Zipperlein verkürzt sich sein Horizont: für ihn stellt sich die Frage, was er „noch“ erreichen kann. Das ist eine Frage, die radikalisiert, fokussiert, die sich „auf das Wesentliche“ zu besinnen sucht.
Heute verarscht Putin den Westen, der sich als unfähig oder unwillig erweist, die eigenen Beiträge in der Kausalkette zu erkennen. Auch dafür gibt es einen guten Grund: Während das beteiligte Personal im Westen bereits mehrfach gewechselt hat, und damit die jeweils „persönlichen“ Entscheidungen und Erinnerungen an diese Entscheidungen gelöscht wurden, lebt Putin in der Kontinuität dieser Erinnerung. Er persönlich ist (immer noch) der (selbe) „Gekränkte“, „Verratene“, während die westlichen Entscheidungsträger, die erst seit einem Jahr (und seien es drei oder fünf …) im Amt sind, von der je eigenen Unschuld überzeugt sind. Die allgegenwärtige Frage: „Was will Putin?“ gibt darauf einen deutlichen Hinweis, der durch alle Interpretationsversuche in Politik und Öffentlichkeit geistert. Natürlich ist das Geschichts-vergessen, aber wenn Sahra Wagenknecht darauf hinweist, bleibt sie allein.
Sieben: Die überraschte Erschütterung, die heute durch die „Morgenlage“ schwappt, hat Züge einer Karikatur: seit Wochen wurden wir darauf vorbereitet! Carsten Luther schreibt (heute morgen in der ZEIT): „Die offene Invasion der Ukraine hat niemand provoziert.“ Aber herbeigeredet? Halten wir zunächst einmal fest, dass wir auf die Nachrichtenlage nichts geben können, keinen Pfifferling, und dass wir deswegen auch kaum beurteilen können, was tatsächlich geschieht. Was die jeweiligen offiziellen Statements betrifft, so bleibt uns nur, die Worte für die Tat zu nehmen; was die Berichterstattung betrifft, so wird es immer schwerer, eine ideologische Disposition „herauszurechnen“. Beim Deutschlandfunk und bei der ZEIT ist das besonders auffällig.
Heute morgen enden aber auch meine Versuche einer analytischen, differenzierenden Interpretation. Nach der Annexion der Krim und mit dem „Anschluss“ der Volksrepubliken sind die historischen Parallelen unübersehbar, und so gerate ich in das Dilemma alles Politischen:
Right or wrong: my country.
Wenn der Rubikon überschritten ist, entstehen kollektive Verantwortlichkeiten, gleichgültig, welchem Lager man sich zuvor zugehörig sah. Wir Deutschen wissen das: unsere historische Verantwortung, unabhängig von jeder persönlichen Zurechnung, können wir nicht ablegen; eine „Gnade der späten Geburt“ gibt es nicht. Soeben entsteht neuerlich eine historische Bruchkante: eine „differenzierte“ Haltung zu Putin ist unmöglich geworden.
Meine Überzeugungen, insbesondere meine Sicht auf Europa und die USA, aber auch mein Verständnis vom Henne-und-Ei-Problem, werde ich nicht über Bord werfen, aber es steht ausser Frage, dass ich Teil des Westens bin.
Mit gegangen.
Mit gefangen …
p.s. vom 20-II
Ich ahne natürlich, dass jetzt die Frage aufkommt, ob ich denn dem Putin „das alles“ durchgehen lassen will. Meiner Position am nächsten kam Herfried Münkler, der die Wiederkehr der Einflusszonen als eine zähneknirschende Notwendigkeit diagnostizierte.
Ich habe mich mit der „Putin-Frage“ hier und hier schon mal beschäftigt. Deswegen werde ich nur solche Überlegungen hinzufügen, die dort noch nicht gesagt waren.
Eins: Eigentlich erscheint es mir richtig, dass der Westen versucht, Russland ökonomisch abzuschrecken – aber eigentlich glaube ich nicht an den Erfolg einer solchen Strategie. Vermutlich würde der russische Staat implodieren, würde der Westen seine Sanktionen (also alle denkbaren) durchsetzen können. In diesem „können“ steckt die Frage, ob denn Russland abwarten wollte, wie und wie massiv solche Sanktionen wirken würden. Das halte ich für illusorisch. Russland ist eine Autokratie. Putin muss sich mit niemandem abstimmen, aber seine Macht hält nur solange, wie er Entscheidungen fällt und nicht „Wirkungen erduldet“. In anderen Worten: ökonomische Sanktionen haben längst eine militärische Natur.
Zwei: es erscheint mir falsch, die Ostgrenze der NATO mit Truppenkontingenten zu verstärken. Das ist – 800 Mann hier, 1000 Mann dort, drei Abfangjäger hierhin und nochmal 3000 Mann dorthin – Symbolpolitik, einerseits. Hinzu kommt andererseits: im Gegenteil! Obwohl symbolisch, sind das auch nur weitere Schritte der Eskalation – der Westen gefällt sich darin, nur auf russische Drohgebährden reagiert haben zu wollen; in einer Eskalation ist genau diese verdrehte Quid-pro-Quo-Argumentation das Treibmittel anwachsenden Risikos. Zudem folgen Truppenkontingente der Vorstellung von konventionellen Kriegen. Das Mobilmachungs- und Vaterlandsgerede der Ukraine ist – in Ansehung des Gegners – regelrecht albern. Ein Konflikt mit Russland ist weder konventionell zu begrenzen noch zu gewinnen – in Ansehung der militärischen Stärken ist die Ukraine konventionell auch nicht zu verteidigen; Waffenlieferungen machen es nur schlimmer. Im Sinne der Schadensbegrenzung und der Vermeidung von Tod und Leid hat die Ukraine nur die eine Option: einen Einmarsch, sollte er denn stattfinden, zu erdulden. Alles andere ist Machismo-Blödsinn.
Drei: Die Landnahme in der Ukraine – und Landnahme überhaupt – ist nicht das treibende Interesse Putins. Ihm geht es um die NATO und insbesondere um deren Osterweiterung; ich zweifle sogar, dass es ihm um Einfluss geht. Die NATO hat Putin genügend Anlässe gegeben, um eine solide Paranoia zu entwickeln und zu pflegen. Das Gerede von der Bündnisfreiheit der Nationen folgt der gleichen Logik wie Putins Forderung, NATO-Truppen aus den Nationen eben dieser Osterweiterung abzuziehen. Gäbe es noch Restbestände an Rationalität, so wäre eine Neutralisierung dieser Staaten die tatsächlich einzig hilfreiche Alternative.
Vier: In der macht-politischen Analyse Münklers fehlt die ökonomische Realität. Die globalen Verflechtungen (Russland ist – nur zum Beispiel – der 3.grösste Öllieferant der USA; das Nordstream II-Gerede der USA belegt nur deren bigotte Interessenpolitik) haben eine Welt geschaffen, in der Kriege von keiner Zielerreichung mehr legitimiert werden.