Soweit ich es medial beobachten kann, schlummert Europa der US-Wahl entgegen. Es ist beinahe zu spät, eine europäische Linie zu entwickeln und die internationale Handlungsfähigkeit – sagen wir es wohlwollend: – auszubauen. Hier geht es darum, was passiert, wenn Trump gewinnt oder ein Bürgerkrieg ausbricht, weil Trump seine Niederlage nicht akzeptiert (was nicht das Gleiche ist, aber als Szenario mit ähnlichen Prämissen durchdacht werden muss …).
Wenn Trump gewinnt
Wake Up!
Europa muss zusammenfinden
Wake Up! Europe
Erstens:
Im Falle eines amtlich erklärten Wahlsieges von Kamala Harris wird das Interim nach dem Wahltag bis zur Inaugurationszeremonie, knapp drei Monate (5. Nov bis zum 20. Jan), zu einer der gefährlichsten Zwischenzeiten in der Geschichte der USA. Dieser Umstand, so meine Interpretation, ist denn auch der einzige Grund, warum Joe Biden nicht vorzeitig zurückgetreten und das Zepter an Kamala Harris übergeben hat (dass er so gut wie nicht mehr regiert, lesen wir hier). Biden blieb im Amt, nicht etwa, weil er Harris das Amt nicht zutraut (die Frage hatte er mit ihrer Wahl zum Vize vor vier Jahren beantwortet; dass sie während seiner Amtszeit im Hintergrund blieb, ist der verfassungsmässigen und notwendig ungeteilten Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten geschuldet; Dick Cheney hat gezeigt, dass der Präsident ansonsten zum Frühstücksdirektor abstiege), sondern weil er, und vermutlich Harris und die gesamte Administration, jede wie auch immer (un-)begründete legalistische Infragestellung der präsidentialen Autorität – für eben diesen Fall – vermeiden musste. Denn es ist wahrscheinlich, wenn nicht sogar unvermeidbar, für diese Zeit den nationalen Notstand auszurufen und zumindest die Nationalgarde, wenn nicht gar das Militär, damit zu beauftragen, die staatlichen Institutionen zu besichern.
Zweitens:
Auf diesen historischen Moment – Harris ist gewählt, aber es drohen Bürgerkriegs-ähnliche Unruhen in den USA – muss sich Europa (und mit nicht überall der gleichen Dringlichkeit: die Welt) vorbereiten, um nicht neuerlich „wie Schlafwandler“ in eine globale Krise zu schlittern (die „Katastrophe“ spar ich mit für den Abschnitt Trump auf). Sollte es zu dieser (aus heutiger Sicht: spekulativ) krisenhaften Entwicklung kommen, sind die USA über einen kritischen Zeitraum geopolitisch absorbiert und zuu viele globale Player könnten versucht sein, dieses globale Aufmerksamkeit- und Sicherheitsgap auszunutzen. Die Abwesenheit hat ja bereits begonnen: Wie das aussieht, zeigt Benjamin Netanyahu, der schon heute die aussenpolitische Schwäche („mehr ist es noch nicht“) der USA missbraucht (und die legitimen Interessen Israels für seine persönlichen Zwecke umdeutet und instrumentalisiert; siehe dazu auch Thomas L. Friedman: "Israel faces an existential threat from the outside, and its prime minister and his allies have been prioritizing their own political and ideological interests ahead of that.").
Schon in Hinsicht auf die Ukraine, aber natürlich auch den Nahen Osten, bewerte ich diese bevorstehende Situation als initialen Moment für eine (ohnehin strategisch notwendige) gesamt-europäische Verteidigungsbereitschaft; natürlich: „sicherheitshalber“, mit aller denkbaren Zurückhaltung und ohne jedes Säbelrasseln, aber in dem Sinn, das durch die Absenz der USA drohende Machtvakuum nach Möglichkeit zu vermeiden.
Drittens:
Ganz anders die Situation, würde Trump tatsächlich gewählt: Es ist kaum vorstellbar, dass Demokraten in ähnlicher Weise die Legitimität einer Wahl anzweifeln, wie es Trump wiederholt angedroht hat – auch liegt der Prozess „noch“ in den Händen demokratisch legitimierter Institutionen. Deswegen rechne ich mit einer grundverschiedenen Risikosituation (wenngleich mit ähnlichen Konsequenzen für Europa), die sich in ihrer, sagen wir: vektoriellen Ausrichtung an dem Katalog orientiert, den die Heritage Foundation im Projekt 2025 dargelegt hat (siehe dazu den Anfang meines Essays). Dort wurde im Namen der versammelten US-Konservativen (~80 beteiligte Think Tanks und Institutionen) ein detaillierter Aufgabenkanon für alle Ministerien erarbeitet, vor allem aber wurde angekündigt, dass für die Periode der unmittelbaren Regierungsübernahme ein „Playbook“ bereitgestellt würde, u.a. mit einer Liste von vorformulierten „Executive Orders“, die noch am Tag der Amtseinführung unterschrieben werden und in Kraft treten sollen. Zu diesen Massnahmen gehört im weiteren Verlauf der Austausch von möglichst vielen (geplant sind bis zu 50.000) Mitarbeitern der Administration, sozusagen bis hinunter zu jedem oder jeder Amtsleiterin. Ich nenne die Ausrichtung „vektoriell“, weil die Massnahmen vermutlich nicht 1:1, aber doch „im Sinne von“, „in dieser Richtung“, umgesetzt würden.
Während diese Massnahmen überwiegend die „inneren Angelegenheiten“ der USA betreffen – und insofern die übrige Welt „zunächst“ nichts angehen, ist aber auch zu erwarten, dass eine neue Trump-Administration ziemlich rasch auf die Kriegssituation in der Ukraine einwirkt, zunächst mit einem Stopp aller materiellen Unterstützung. Machen wir uns nichts vor: die NATO wäre unmittelbar existentiell gefährdet. Hinzu kommt: Auch wenn mir schon bei dem Gedanken die Haare zu Berge stehen, ist es in meinen Augen keine „far fetched speculation“, eine Eskalation im Nahen Osten unter direkter Beteiligung der USA zu erwarten – vermutlich inklusive eines Waffenganges gegen den Iran. Trumps Deal könnte lauten: Du, Putin, kriegst die Ukraine, dafür mischt Du nicht ein, wenn wir den Iran platt machen und die Situation im Nahen Osten im Sinne Israels fundamental umgestalten. Die Risiken der gleichzeitigen Entwicklungen sind kaum zu überschätzen, zugleich praktisch nicht einschätzbar.
Viertens:
Wie angedeutet ändert das Katastrophen-Szenario Trump zwar die Bewertung, doch bleiben die Konsequenzen vergleichbar. Zunächst müsste Europa sich sofort zu einem koordinierten, militärischen (und „noch! koordinierter“ wirtschaftlichen) Macht- und Einflussfaktor zusammenfinden. Das würde vermutlich bedeuten – und darauf sollte die EU schon seit langem vorbereitet sein –, dass Ungarn und möglicherweise auch andere (nur: Vizegard- …?)Staaten aus den Entscheidungen der EU ausgeschlossen werden. Es würde ebenfalls unmittelbar erzwingen, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam die Führung der EU übernehmen – und womöglich in stiller Diplomatie Grossbritannien hinzu einladen. Mit der Regierung Starmer besteht wenigstens hier eine historisch glückliche(re), günstigere Konstellation: dass der Brexit ein „grosser Fehler“ war, haben inzwischen 60% der Briten verstanden. Aber auch auf Seiten der EU herrscht geopolitischer Druck: sie kann nicht wollen, dass Grossbritannien im Falle eines Strukturbruches der NATO zum US-Brückenkopf würde.
Im nächsten Schritt stünde (also) eine Neuinterpretation der NATO an; wenn es gut geht, in dem sich die NATO (wie es in der Wirtschaft ähnlich gehandhabt wird: Americas, EMEA, ASIA, …) nach regionalen Kraftfeldern neu sortiert, und die EU sich zu einer plus/minus eigenständigen Subformation innerhalb der Nato zusammenfindet. Eigentlich lieber nicht: aber man müsste bei der Gelegenheit auch sehr verschärft über die Türkei nachdenken ….
Obwohl damit eine ziemlich radikale Umgestaltung in einem Umfeld gewaltiger Beharrungskräfte skizziert ist, käme sie aber doch gerade in den geopolitischen und finanziellen Auswirkungen den Interessen der USA (Hinwendung zum Pazifik) entgegen und erschiene damit weniger unwahrscheinlich als eine Fortsetzung des Status Quo.
Fünftens:
All das schreibt sich bei einem Glas Riesling und mit genügend rationaler Phantasie leichtfüssig und mit rosa Wangen; dann käme die Realität.
Deren erstes Problem ist – natürlich – das politische Material: WER!
Wir (sagen wir: das politische Deutschland) wissen nach dem Fall der Mauer, der Finanzkrise 2008/2010, dem Ukraineüberfall, dass radikale politische Massnahmen – auch im internationalen Massstab – möglich sind, wenn der Druck auf dem Kessel entsprechend steigt. Gleichzeitig wissen wir (sagen wir: das politisch-historische Deutschland), dass alles Handeln Täter braucht: Menschen machen Politik.
Das ist eine entmutigende Nebenbedingung! In den letzten drei Jahren hatten wir genügend Gelegenheit, die Profile des derzeitigen Personals zu studieren: Scholz (und seine SPD) wären (sind) von inneren Verwerfungen gebeutelt, vom anstehenden Wahlkampf absorbiert und – in den genannten Szenarien – sowieso hoffnungslos überfordert; Pistorius wollte vielleicht, wenn er könnte, dürfte aber nicht (erinnern wir uns an Peer Steinbrück)! Lindner (und wie hiess seine Partei nochmal) stünde weiter im Schatten seines ideologischen Schlaganfalls: durch die eigene Handlungsunfähigkeit fähig, alles zu verhindern. Dass Merz zu strategischer Grösse aufwüchse, ich kann es mir schlicht nicht vorstellen. Söder dagegen hatte immerhin oft genug bewiesen, dass ihn ggf. sein Geschwätz von gestern nicht allzu lange belästigt; aber ein Stratege von internationalem Format, phhh? Habeck? Immerhin wissen wir, dass Habeck ein ziemlich guter Krisenmanager ist. Ob er aber über die geforderte Weitsicht und (nach der jetzt über drei Jahre andauernden Medienfolter immer noch) den Mut verfügt, unkonventionelle Wege zu gehen? Tatsächlich traue ich Annalena Baerbock am ehesten die Skrupellosigkeit zu, die in den genannten Szenarien gefordert ist – leider fehlt es ihr an politisch-intellektuellem Format. … Und weiter reicht meine Vorstellungskraft nicht.
Sechstens:
Was auf die Welt zukommt, ist also nicht nur politisch, und bis in die persönlichen Konsequenzen, bedrohlich; vor allem personell ist das Hemd zu kurz. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ampel … offenbar … beschlossen hat, bis zur nächsten Bundestagswahl am Abgrund zu verharren; Neuwahlen werden nur von der Opposition ins Kalkül gezogen. Selbst wenn: Es würde auch alles nur erschweren: Merz gewinnt, wenn’s gut geht mit 35%+, und mit wem soll er regieren? AfD 19/22, SPD 13/17, Grüne 9/13, BSW 8/12 – und dann? Noch ein Dreierbündnis, oder nochmal mit der SPD?, ernsthaft?
Die Lage ist so trostlos, dass man sie kaum noch bedenken will.
Ich meine aber doch, dass es Handlungsoptionen gibt, vor allem für jene, die irgendwie intellektuelle Reichweite haben – sei es als Akteure oder als Multiplikatoren, als Journalisten oder institutionelle Repräsentanten. Selbst jene, die meine Analyse nicht teilen, können sich kaum darin einrichten, dass es „schon irgendwie gut gehen wird“. Der Identitäts-politische Eskapismus hat abgewirtschaftet, jetzt ist politisch-strategisches Denken (und Handeln) gefordert. Ich meine, die „raisonnierende Öffentlichkeit“ sollte aus dem Koma erwachen und darauf hinwirken, dass Europa sich formiert, dass die Entscheidungsträger nicht in ihrer Dumpfbackigkeit verharren können, dass eine Debatte entsteht.