Sympathie mit Kritik in einem Topf zu verrühren ist keine einfache Aufgabe. Im Fall von DD – Dietmar Dath ist das besonders schwer, zumindest geht es mir so. Abseits seiner Arbeiten für das Feuilleton der FAZ, die ich seit einigen Jahren
D.D. … Du Intellektueller!
Dietmar Dath schrieb „Maschinenwinter“
Vorwärts, Genossen, es geht zurück!
Maschinenwinter, ein Essay von 2007
dankbar bis spitzmündig
zur Kenntnis nehme – und ich erkläre geich, warum –, habe ich DD als Autor erst soeben im Verlauf der Lektüre der SF Neptunation kennengelernt. Der Blick (danach) in sein Werkverzeichnis hat mich einigermassen sprachlos gemacht, einerseits ob der Fülle an Veröffentlichungen und andererseits, ob der mit einem materiellen Leben kaum vereinbaren schieren Masse an Seiten. Die umso unerklärlicher wirkt, als sich darin die Verdauung – und streckenweise auch die Lektüre – von ganzen literarischen und wissenschaftlichen … ja, Bibliotheken widerspiegelt. Also, wenigstens aufscheint. Allein der Lesestoff hätte in mein bisheriges Leben auch dann nicht gepasst, wenn ich nichts anderes zu tun gehabt hätte.
Gemessen an dieser bestaunenswerten Aufhäufung von In- und Output kann, muss jeder den Autor einordnende oder gar bewertende Versuch als Anmassung erscheinen – wer wollte schon von sich behaupten, DDs Flughöhe zu erreichen? Ich bestimmt nicht; wobei – ich würde so nicht einleiten, wollte ich nicht doch einen kritischen Blick auf ihn wagen. In selbstkritischer Demut, versteht sich.
In meiner ersten Reaktion – nämlich auf Neptunation – habe ich ihn ironisch zu nehmen versucht, eine, wie soll ich sagen, Hilfsmassnahme, mit der ich mir eine schärfere, tiefere Analyse ersparen wollte. Jeminee! Es war halt ein Roman, Science Fiction, wieviel Aufwand würde das rechtfertigen! Inzwischen, nach einem Hinweis von Marek Sievers, habe ich mich mit seinem Essay (immerhin 130 Seiten!)
Maschinenwinter
beschäftigt, was vielleicht ein Fehler war. Denn nun muss ich doch beherzter in die Kritikasterkiste greifen.
Klären wir zuvor noch rasch folgende Frage: Warum eigentlich? Lohnt es überhaupt? Ich meine, Maschinenwinter ist von 2007, seither wehten so manche Nebel über Avalon, und wer weiss schon, ob der Autor noch seiner Meinung ist? Das, 12 Jahre später, ist der Spekulation anheim gegeben, leider. Immerhin aber untertitelt das Buch: „Wissen, Technik, Sozialismus – eine Streitschrift“. Da möchte man schon einen Beitrag zur Zukunft erwarten, und wenn der länger als nur über’s Jahr halten soll, muss!, dürfte auch nicht allzuviel Schwund drin stehen, oder!
Hinzu kommt: An Entwürfen herrscht ja Mangel, expliziter. Narrative werden so dolle herbeigewünscht, dass der Begriff bereits wg. modischer Überhitzung auf dem Index gelandet ist. .. Also in Summe wären das schon ganz brauchbare Vorbedingungen für die Lektüre, aber reicht das? Und da kann ich jetzt schon mal das Ergebnis verraten: es lohnt sich, schon, irgendwie, im Grossen und Ganzen! So, wie der Autor argumentiert, und das wissen wir natürlich erst NACH der Lektüre einigermassen genau – wenigstens ich –, da soll mir die Zukunft lieber vom Halse bleiben! Aber der Reihe nach.
Dankbar und spitzmündig, das wollte ich noch erläutern, denn es bildet die Vorlage, sozusagen die Flanke, die aus der Tiefe des Feuilletons jetzt mit einem riskanten Volley ins literarische Tor gehört.
DD ist ein Held der Textfläche
Ich bin ganz sicher, dass ihm viele seiner zwischen genialisch und manieristisch changierenden Formulierungen zufliegen; er muss dafür nicht arbeiten, gibt sie quasi als das Wechselgeld seiner kontinuierlichen Geschichtsbetrachtung heraus. Manchmal löst das beim Leser – darf ich das verallgemeinern? … aber sonst würde er sich in der FAZ wohl doch nicht halten können – so etwas wie Glücksgefühle aus. Er, DD, versteht es, Sachverhalte in Miniaturen so zu verquicken, dass Sinn, Tiefsinn oder auch amüsanter Unsinn entstehen („Jedes Feuer beliebiger Grösse ist zweimal so wahrscheinlich wie ein Feuer doppelten Umfangs“ oder „Sie kennen ihre Befehle, nicht ihre Lage.“ oder „Das Naturrecht, sagt die Linke immer wieder, ist gut, weil es nicht natürlich, sondern künstlich ist.“). Das macht Spass, stiftet Gewinn im Nebennutzen und repräsentiert eine Denkungsart, die ihre Zumutungen verlohnt. Richtig geliebt habe ich DD für seine Filmkritik-Videos, in denen seine scharfe Sprache und Besichtigung um so vieles leichter, schnippischer, zwinkernder erscheint, als in seinen Texten.
Daher die Dankbarkeit.
Dass Denken Spass machen kann, dass Schreiben und Erkennen das Leben bereichert, das ist in Zeiten grosser Umbrüche die Ausnahme, übrigens nicht erst in unseren Tagen. „Und dann sind plötzlich Zeichnungen und Skulpturen verschwunden, und man bemerkt eine Verfinsterung, die mehrere Jahrhunderte hindurch anhält und mit der raschen Entwicklung neuer Technologien zusammenfällt. Na, sehen Sie!“ Das schrieb Simone de Beauvoir in den frühen 1950er Jahren über Zeiten, die noch weiter zurücklagen, aber es scheint, dass die kommenden Jahrhunderte, die sie damit in einem Atem prognostiziert, noch nicht vorbei sind.
Spitzmündig dagegen wird mir im Gesicht, wenn sich die glitzernden, sprachlüstern-vollmundigen und selbstgenügsamen Stanzen in Sottisen verlaufen. Und das passiert regelunmässig; … was natürlich daran liegt, dass sich ein DD, dass man einen DD nicht mehr redigieren kann. Ein Dilemma: Ich habe es selbst oft genug erlebt, dass die eigentlich redaktionelle Begleitung eines Textes nicht wirklich am Inhalt selbst interessiert ist, das möchte zudem in Arbeit ausarten, sondern lediglich zum Machtkampf gerät. Autoren widersprechen dem redaktionell eingeforderten ius primae noctis, Redaktionen verteidigen das Gate, dem sie – nicht selten in kafkaesk casual – vorstehen. Diese Mechanik hat schon viele Leser belästigt und natürlich den Autoren geschadet.
Das wird jetzt als Vorwort zuviel; mir ist aber daran gelegen, meine kommenden Dolchstösse mit einem zuvor glaubhaft vorgetragenen Wohlwollen durchzuführen: Es ist einfach zu oft halbgar, was DD in Brillianz und Leuchten verpackt.
In Neptunation steht auf Seite 628 (die wiederzufinden mich über eine halbe Stunde beschäftigt hat): „Aber Aiguo weiss, dass es zur Denkweise von konflikt- und krisenerprobten Leuten höherer Dienstränge in hierarchischen Organisationen gehört, unberechenbar zu bleiben und auf Angebote oder Aufforderungen anderer nie ganz genau so zu reagieren, wie jene sich das vorstellen – … “
Für diese sehr zutreffende Miniatur gibt es eine literarische Entsprechung, die als Maxime formuliert heissen könnte: „Lass Dich nicht festnageln.“ Lass es/einen Sachverhalt offen, bevor Du in die Falle tappst: irgendjemand, der seinen Widerspruch auch noch beweisen kann, find' sich immer!
In diese aalglatte Unbestimmtheit führen mehrere Wege;
- einer davon ist, eine Entwicklung voranzutreiben bis es „spannend“ wird – weil die bis dahin entwickelten, prekären Vorumstände eine einigermassen präzise Auflösung fordern, um als Text und Autor zu überzeugen –, dann aber abzubrechen; ein Cliffhanger. Auf die Art kannst Du auch die vermeintliche Auflösung in eben jenem Ungefähren, Transitiven, Rekapitulierenden stattfinden zu lassen, wo die Ausarbeitung oder Überprüfung der Einzelheiten nicht mehr das Niveau der Exposition erreicht/erreichen muss, … weil die Handlung ja nun schon so viel weiter ganz woanders angekommen ist.
- Ein anderer Weg ist, mit den Welt-Wertbeiträgen vielbändiger Werkausgaben nur so herumzufuchteln (deswegen, übrigens, gibt es Schrotflinten: irgendwas passt, irgendwas trifft immer). Jedenfalls wird unterwegs die Anzahl jener, die aus profunder Sachkenntnis des Behaupteten dagegenhalten könnten, diffudieren, bevor jemand den Mund aufgemacht hat.
- Noch ein dritter Weg besteht darin, abgründig simple Sachverhalte in einem Muster fachspezifischer, zum Beispiel soziologischer, Termini einzugraben, dass sich eine fachfremde Leserschaft gezwungen sähe, pro Satz gleich viermal irgendwas nachzuschlagen, um vielleicht dann zu verstehen, welche Kalenderweisheit so verkleidet aufgetreten war, oder ob es die Mühe gelohnt hat (meistens nicht).
Von dieser letzten Marotte wollte ich DD eher freisprechen, was die beiden anderen betrifft, so täte ihm jede Exkulpation Unrecht.
Bedauerlich und auf Dauer gesellschaftsschädlich ist, dass – Simone de Beauvoir hat es vorhergesehen, Karl Kraus hat es böse zusammengefasst – die Sonne der Kultur am untergehen ist. Unsere Zeiten abnehmenden Lichtes aber führen dazu, dass es um die kritische Auseinandersetzung mit „was-auch-immer“ schlecht bestellt ist. In jedem x-beliebigen Vorstadtsaal zerbricht sich das Publikum in Jubel und Begeisterung, jedes Abonnementkonzert der Höhepunkt des Jahres, jedes schulterfreie Violinsolo ein Jahrhundertereignis. Da können die Rollstars in Rollstools auf die Bühne rollen, die x-y-z-Arena wird zum Hexenkessel, noch bevor irgendein Ron einen seiner sechs Akkorde angeschlagen hat. Und so auch in den Feuilletons – in denen die Moränen unserer Kultur verhandelt werden. Hier reüssiert, wer dem Mainstream haargenau kantenlos entspricht – oder aber gerade genau soviel radikale Abweichung vortäuscht, wie es der/die/das Redakteur als Ablass zum eigenen Lebensentwurfes für hinreichend, angemessen oder so wunderbar anrüchig erachtet: „.. die sich nicht schämen, den Biermann aufzulegen, weil er so herrlich revolutionär ist …“, so besang man das früher.
Gemein und hinterhältig jetzt aber ist: es ist richtig anstrengend, anderes zu versuchen: Du musst ihn/sie/ diese Protegées dann Satz um Satz um zerpflücken, denn auf der oberen Ebene des „sound“ oder der „Textfläche“ gegenzuhalten, spielte nur deren Spiel: l’art pour l’art.
Der Plan
Um also zwischen Zustimmungs-geeigneten und kritisch bestreitenswürdigen Verdichtungen Dath’scher Textflächen zu unterscheiden gerät man in ein bekanntes holistisches Dilemma: was ist das Ganze, was ist das Einzelne und was hat das Eine mit dem Anderen zu tun? Dem auf die Spur zu kommen, muss man dem Text bis auf den einzelnen Absatz nahe treten – etwa am Beispiel:
"Eine Welt ohne Plan oder Kommando ist auf dem einmal erreichten Produktionsmittelniveau schlicht nicht zu haben; sie ist ein Märchen.
Also lieber anders. Und wie?
Demokratische Planung anstelle der oligarchischen wäre schon aufgrund der Steuerungsbesonderheiten von Demokratie modularer, arbeitsteiliger, flexibler, intelligenter, als wenn ein paar Damen und Herren die Fahrpläne machen, die selber nicht auf die Züge angewiesen sind." [S.57]
Bevor ich das Zitat näher betrachte: Eines der Anliegen des Autors ist, dass der Sozialismus ausbrechen möge. Das ist bekanntlich mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden, darunter historische. Der Autor qualifiziert sich immerhin als Zeitgenosse, in dem er das spannungsreiche Gefälle zwischen Marx und Wirklichkeit nicht undiskutiert lässt;
„Ein wirklich wissenschaftlicher Sozialismus für die Gegenwart hätte mit Marx soviel und sowenig zu tun wie die gegenwärtige Physik mit den Funden Maxwells und die gegenwärtige Biologie mit denen Darwins.
Eine ganze Menge also, aber eben jeweils im überprüften (und immer neu zu prüfenden) Anwendungsbereich.“ [62]
er wehrt sich zugleich mit Händen und Füssen (und mitunter sehr langen Schachtelsätzen) gegen die Zumutungen, die der Untergang des Ostblocks in das Geschichtsbild der Gutwilligen, Lohnabhängigen und Intellektuellen gerissen hat.
„Wissenschaftlicher Sozialismus? [kursiv im Original]
In den inzwischen hundertfach kaputtverleumdeten untergegangenen sogenannten autoritären Wohlfahrtsstaaten des zwanzigsten Jahrhunderts war dieser Name fürs dort Erreichte gebräuchlich.“ [60]
Mit anderen Worten: Daths persönlichen Aufklärungsscore würde ich im Mittelfeld ansiedeln. Wenn ich ihn recht verstehe, strebt er an, insbesondere mit Hilfe der inzwischen (!) verfügbaren Technologien aus einer Gesellschaft, die von willkürlich kapitalistischer Produktion (und ihren Kollateralschäden) dominiert wird, in eine demokratisch-plan-sozialistische überzuwechseln. Etwas platt liesse sich sagen: dem realen Sozialismus hatte nur der Computer gefehlt.
Jetzt kommen wir also an diese Zustimmungs-pflichtige Stelle, nach der die Welt geplant und kontrolliert gehört, oder zumindest nicht anders vorstellbar ist. Dass sie bereits geplant und kontrolliert ist, ergibt sich aus anderen Textstellen, in denen der Autor konzidiert, dass Unternehmen das tun. Nur eben nicht demokratisch, nach Kriterien oder Bedarfen des … Volkes.
"Die feierlich beschworene Freiheit des Individuums ist die Freiheit einer besitzenden Klasse, die den Teufel tun wird, ihre Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel nicht planend zu nutzen und, wo möglich, zu vergrößern." [57]
DDs Text ist, seien wir gerecht, aus 2007
Erkenntnisse darüber, inwieweit jüngere Entwicklungen der Produktivkräfte zu einem Verlust an Kontrolle und Steuerbarkeit geführt haben, wie es etwa Michael Seemann 2014 („Das Neue Spiel“, siehe auch) dargelegt hat, standen DD wohl noch nicht zur Verfügung und bitte, – ganz im Allgemeinen gesprochen – dieser (eigentlich offensichtliche) Sachverhalt hat es bis heute nicht in den common sense geschafft. Textimmanent gerecht wäre es also, die Parole von der demokratischen Kontrolle aus der Sicht 2007 zu würdigen – solang ist das nun auch wieder nicht her – jedoch selbst mit solchen historischen Rücksichten hätte sie einen schweren Stand.
Man müsste sich aber schon ähnlich der FAZ (s.o.) investigativ verkünsteln – eigentlich – , wollte man die Einsichten, die uns seither überwältigt haben, zugunsten einer solchen Museumsdebatte vernachlässigen. Aus heutiger Sicht krankt das Dath’sche Wintermärchen daran, dass gerade das Kontrollidiom in den letzten Jahren schweren Schaden genommen hat, praktischen, als Kontrolle im globalen Raum, wie auch philosophisch, im Sinne der Kontrollierbarkeit. Einen Schaden, der noch so emanzipativ gewünschten Planungsvorhaben, wären sie überhaupt sinnvoll, komplett – oder wenigstens weitgehend – aushebelt.
Nur insofern sich auch heute noch Entsprechungen für das Dath’sche Denken finden, will ich seinen Vorstellungen von damals noch ein paar Zeilen Gnadenfrist einräumen.
DD stellt sein demokratisches Planungs- und Kontrollidiom als Desiderat zwei virulenten, komplementär-kontradiktorischen Vorurteilen gegenüber, nach denen „jede makroökonomische Planung für unmöglich“ erklärt wird und/oder eine demokratische Planung „zuviel Macht in die Hände von Menschen legt, die damit nicht umgehen können“. [55]
Was genau eine demokratische Planung – hier beispielhaft des Zugverkehrs, aber natürlich ist sie metaphorisch gebraucht – einer oligarchischen Planung gegenüber („von ein paar Damen und Herren, die selber nicht auf die Züge angewiesen sind“) an arbeitsteiligen, flexiblen und intelligenten Vorzügen zu bieten hätte, das zu ergründen bleibt dem Leser aufgegeben. Er sollte sich dabei tunlichst der Idee verweigern, Rat und Beispiel etwa in Frank Beyers „Spur der Steine“ zu suchen. Aber es kommen auch anderen Fragen auf: Ein Wikipedia-Artikel über „Fahrplanung“ zeigt, wie eine solche Planung zustande kommt.
Überflüssigerweise braucht es hier eine Nebenbemerkung: Unbestimmte Sachwalter – deren Urteil sich in alltäglichen Zwischenzeilen und Nebenbemerkungen findet – legen nahe, dass man zwar alles in der Wikipedia nachschlagen „darf“, will man Ruf und Seriosität schützen, sollte man – aus Gründen diffuser jedoch nicht nachgewiesener Vorzweifel – die Ergebnisse dieser „Recherche" (besser) nicht in eine ernsthaft gemeinte Debatte einzuführen. Mit Verweis auf den Quellenapparat des Artikels überspringe ich diesen Unsinn.
Mit dem verweis auf Wikipedia kommt es mir darauf an, einerseits, die „paar Damen und Herren“ dieses hingeworfenen Schnipsels als Phantasmagorie zu outen, andererseits aber auch das Dath’sche Zielbild ein paar praktischen Zweifeln auszusetzen. Und zwar OHNE zu bestreiten, dass der Interessenkampf, der möglicherweise auf verschiedenen politischen Levels Ansprüche z.B. der Autoindustrie gegen die Möglichkeiten z.B. des ÖPNV ins Feld führt, administrativen Niederschlag finden KÖNNTE; oder, dass fiskalische Übergriffe eines Shareholders in das Planungswerk der Bahn dort Flurschäden zeitigt. Das mag nämlich sein – bei einem Geschehen von der Komplexität des bundesdeutschen Schienenverkehrs solche Steuerungseingriffe aber mal eben so wurschtelig daher und nach unbestimmten „demokratischen“ Kriterien für besser zu behaupten, untergräbt die ernsthafte Auseinandersetzung – und wäre sie zum Vorteil einer „demokratischen Planung“ gemeint.
Es geht um Planung, und die ist mit dem Zugverkehr nur illustriert. Gleich im Anschluss kommt DD zur seiner jetzt eigentlichen Aussage:
„Das Argument Nummer eins: »Planung geht nicht«, fällt in Wahrheit mit dem Argument Nummer zwei: »Man soll diese unzuverlässigen Plebejer nicht zur Planung zulassen«, unmittelbar zusammen. [57/58] … Die Furcht, im Fall der offenen Abstimmung bekämen wir es mit idiotischen Ergebnissen zu tun, ist die Furcht, die Menschen seien Idioten.“ [58]
Immerhin lässt DD den Verdacht zu, dass das stimmen könnte. Ignorieren wir für einen Augenblick die Gauss’sche Verteilung und – for the sake of the argument – nehmen wir an, sie seien es nicht, im Sinne von grundsätzlich nicht, mindestens aber nicht grundsätzlich. Zumindest blieben sie auch dann Objekt massiver, verschlagener, subkutaner Manipulationen – siehe Cambridge Analytica(ff) – insofern sollte man für das Ergebnis demokratischer Planung besser keine Garantien übernehmen. Aber natürlich bliebe auch die „Intelligenz des Volkers“ grundsätzlich unbeweisbar, und wir könnten nur die Ergebnisse prüfen. Was immer „das Volk“ sich darunter vorgestellt hatte, gewählt haben den Brexit „die Boomer“ gegen „die Millenials“; noch dramatischer war Demokratie nur am Ende der Weimarer Republik ausgegangen.
Die gesellschaftlichen Vorstellungen des DD sind – bei aller Intelligenz und Belesenheit – schlussendlich doch sehr einfach gestrickt:
„Wer nicht untergeht, obwohl andere für ihn planen, könnte die Zügel ebensogut gleich selbst in die Hand nehmen.
Viel Komplizierteres steht im ganzen Brecht nicht.“ [58]
„Man mag ja finden: Sie sind zu blöd. Aber dann gewähre man bitte von vornherein gar kein Wahlrecht; …“ [59]
Das ist – sogar mit Blick auf die Intentionen – von grobem Unfug kaum zu unterscheiden. Ich mag mich gar nicht mit der Geschichte aufhalten und nachfragen, WER „man“ gewesen war, der das Wahlrecht „gewährt“ hatte. Ich will auch nicht darauf hinweisen, dass diese Argumentation den Zustand der Volksintelligenz noch immer unbestimmt im Ungefähren belässt. Ich stelle dagegen lieber fest: „Die Welt ist, was der Fall ist“. Diese Art von konjunktivischem „Revisionismus“ – hätte getan haben sollen – hat einen Schlag ins Surreale, Hirnige. Was, wenn es tatsächlich um Wahlen ginge, wie sie das Wahlrecht konstituiert, noch zu analysieren wäre, ist die Frage, inwieweit (was, wen) denn Wahlen überhaupt wählen. Zwei Drittel der Kandidaten stammen von den Listen, die von Parteizentralen zum Abnicken gestellt werden, ein zweistelliger Prozentsatz aus dem Nepotismus der Überhangmandate, die Programme werden von Komissionen ersonnen, die ihr Mandat ebenfalls von Parteiführungen haben … usw. (zu denen – DER Partei, im Falle des Sozialismus – hauptamtlich, bitte sehr [125], auch Dath keine Alternative sieht). Diese „Demokratie“-Aufführung selbst NICHT zu befragen, wenn es darum geht, das „Gewähren oder Nicht-Gewähren“ des Wahlrechtes zu diskutieren, grenzt ans Absurde.
Je länger der Text dauert, desto mehr erscheint die Form der Dath’schen Befassung wie eine intellektuelle Schmetterlingsargumentation, die nur über weltabgewandten Schreibtischblüten stattfinden kann. Sie kennt – von aller realweltlichen Praxis abgesehen – nicht die Komplexität von Abläufen, nicht den Intelligenzabfall der Gruppenbildung, nicht die filigrane Mechanik von Gruppendynamik-Führungsverlangen-Opportunismus und Reaktanz – vor allem aber ignoriert diese Sicht, dass längst die Maschinen die Produktionsprozesse steuern – bis hin zu der Aussage (und die stammt aus 1995!): „Seit wir R/3 ausgerollt haben, steuert SAP meine Firma, nicht ich.“
Daths gesamte Argumentation – wenigstens in diesem Buch – zeigt, wie und wohin sich ein stramm-orthodoxer Marxismus-Leninismus unter Zuhilfenahme der Deutschen Bibliothek entwickeln lässt. An zwei, drei Stellen blitzen sogar ein paar jüngere Stichworte auf, darunter Feminismus, Transhumanismus, und, wenn ich es recht erinnere, auch der Hochgeschwindigkeitshandel. Die Ökologie dagegen hat es in diese Läuterung der lohnabhängigen Klassen noch nicht geschafft, gut, an einer Stelle, glaube ich, erscheint der Begriff Nachhaltigkeit in einem Nebensatz. Zu den aufgeklärteREN Teilen dieser Überlegungen gehört, dass Dath selbst den Lohnabhängigen ihre künftigen Organisationsformen nicht vorschreiben will, aber organisieren sollen sie sich. Gefälligst:
„In enger Zusammenarbeit mit diesem zweiten Organisationstyp werden schließlich auf der dritten und über die Stabilisierung der Erfolge entscheidenden Ebene Organe entstehen müssen, die aus der Defensive in die Offensive führen und Partikularkämpfe universalisieren können. … Wahrscheinlich wird das, was die vorübergehend Arbeitslosen wie die dauerhaft Ausgemusterten gegen ihre Zurichtung zum Reservistenpool im Klassenkampf der Besitzenden gegen die Lohnabhängigen mobilisieren kann, einer Gewerkschaft alten Typs wenig ähneln.“ [124]
DDs Umgang mit der Historie, z.B. des Zerfalls der Sowjetunion, steht in der lebendigen, orthodoxen Tradition des Um- und Nachdichtens, jetzt aber mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Weisungen aus Moskau ausbleiben. In seiner Historie sind es die „Bürger“ der Sowjetunion, die, „[um] in den Genuss von Annehmlichkeiten zu kommen“, die DD ihnen im Übrigen durchaus zugesteht, … „motiviert genug [waren], ihren Laden erst in Schuss zu bringen, am Ende aber, mit ein bisschen Anstachelung seitens sogenannter Reformer, auch zu zerlegen …“ [104]
Um dem Autor gerecht zu werden, müsste diese Demontage den kompletten Text schreddern. Es ist schlichtweg keine Kritik der Verhältnisse, sondern eine wortgewandte Märchenerzählung, gelegentliche Bonmots unterwegs; der aber der traurige Impetus eigen ist, gelten zu wollen, für ernst genommen werden zu wollen. Dann aber … den Text Seite für Seite zu analysieren ist weder hilfreich noch spassig.
Ich will lieber noch einen nicht gleich naheliegende Gedanken ergänzen:
Diese Art zu denken – und in Wahrheit ist es ja eher eine Haltung, die zu Buchstaben gerinnt – kann sogar in der FAZ stattfinden, weil sie ungefährlich ist … UND, weil DD das weiss, nutzt und pflegt.
Der systemerhaltende Charakter
des Dath’schen Denkens lässt sich an seinen Zitaten belegen: Ein Zitat, erstmal grundsätzlich, entlastet eine Aussage von ihrer willkürlichen Subjektivität und erhöht sie ins bereits gesellschaftlich „Akzeptierte“. Mit etwas Glück trägt das Zitat den Autor mit „nach oben“. Grundsätzlich ist das Zitat eine Geste der Unterwerfung unter das gesellschaftliche Diktat der Gültigkeit – ich selbst gehe ebenso damit um (wenn ich nicht gerade eine Rezension schreibe, in der das Zitieren unumgänglich erscheint). Wer etwas behauptet, soll es belegen! Zu einem nicht geringen Teil liegt das daran, dass kein Menschengefäss gefüllt auf die Erde kommt – und also alles Denken aus dem Vorgefundenen schöpfen muss.
Andererseits ist natürlich alles Gegebene zugleich auch General-Repräsentant des Bestandes und damit struktur-konservativ: wer wann was gesagt hat – ist Geschichte! Es zu zitieren perpetuiert Geschichte und erlaubt allenfalls inkrementelle Interpretationen. Es läuft also darauf hinaus, dass ich – entweder – das Gegebene akzeptiere und also daraus zitiere – oder – es zu überwinden trachte.
In dem Fall müsste ich selber denken.
Gewiss, das Zitat hilft auch als Eselsbrücke, über die eine Erkenntnis in Heute führen soll, könnte – wenn es denn so eingesetzt wird. Dann aber muss es, das Zitat, auf das Heute gerichtet erscheinen, aktualisiert, transzendiert – und nicht umgekehrt das Heute an dem Zitat gemessen oder ausgerichtet werden: Es macht keinen Sinn, den Marx des Industriezeitalters gegen das Zeitalter der Digitalisierung in Stellung zu bringen, im Gegenteil zeigt sich in der historischen Bemühung ein analytisches Unverständnis vor der Gegenwart. Dann nützt es auch nicht, die Gegenwart sozusagen „daneben, hinterher“ zu zitieren, gleichsamum um das eigene Gestrige zu verjüngen. Solange die (in Daths Fall: Marx’schen, Leninschen, u.a.) Gesetze von vor 100 plus Jahren herhalten müssen, kann die Gegenwart darüber nur stolpern. Es klingt polemisch, ist aber bezeichnend: das Geburtsjahr der von DD zitierten plus/minus 100 Autoren liegt, wenn mir kein Fehler unterlaufen ist, im Ø um 1857, wobei Mehrfachnennungen von Autoren (und die damit verbundene weitere Alterung des Durchschnitts) nicht eingerechnet wurden.
Was soll das heissen!
Nun, der Autor ist belesen, keine Frage, aber sein Bezugsraum liegt tief in der Vergangenheit. Stimmt schon: vieles, was Menschen gedacht und erkannt haben, stammt nicht grad von gestern; nur erleben wir eben gerade, seit den ~1970/80er Jahren, einen epochalen Umbruch, der es mehr als nur fragwürdig erscheinen lässt, ob wir mit Erkenntnissen des späten 19., ja, selbst des späteren 20. Jahrhunderts weiter kommen. Wollte DD – bitte sehr – 2007 der Welt mit dem Sozialismus auf die Pelle rücken, so hätte er zunächst einmal ein gutes Dutzend Zukunftsstudien und/oder ökonomischen, ökologischen Analysen befragen müssen, die ihm die Zukunft erklären: er hätte nicht nur mal so behaupten dass, sondern reflektieren müssen, inwieweit sich die Welt von Marx entfernt hat, und er hätte prüfen müssen, ob das 2007 längst in Farbe ausgemalte Bild einer digitalisierten Gesellschaft mit den schimmeligen Kapital- und Klassentheorien zu fassen ist.
Als DD seinen Maschinenwinter schrieb, haben meine Kollegen und ich an der Studie „Grid Media“ (siehe) gearbeitet, die ebenfalls 2007 erschien. Wir haben das Kondensat der Zeit damals in dem RollOut der Digitalisierung durch alle ökonomischen und kulturellen Erscheinungen beschrieben: Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert; am Ende auch das Leben selbst. Und wir haben die ökonomischen und auch gesellschaftlichen Implikationen diskutiert! Wenn nicht mit diesen unseren (und/oder ähnlichen) Überlegungen, die auch 2007 bereits in zahllosen Facetten vorlagen, so hätte Dath mit eigenem Hirnschmalz darauf kommen können, müssen, dass schon und vor allem die Ungleichzeitigkeiten der Welt, etwa zwischen Amazon und dem Amazonas, zwischen Wuppertal und Shenzen, Dubai und Brixton usw., mit seinen Vorstellungen berührungslos und schnittmengenfrei unvereinbar sind.
Am Ende, wenn man DD durchliest, erkennt man das Grundsätzliche Dilemma der Linken und versteht, warum hinter der Bezeichnung links, wie wir sie geschichtlich mitschleppen, kein brauchbares Ideen- und/oder Gesellschaftskonstrukt mehr zu finden ist: die links-moderne Orthodoxie (à la DD, Hardt/Negri, Kunkel, u.ä.m.) verwaltet und übertüncht den Ideenapparat des 19. Jahrhunderts, während der links-grüne Liberalismus, satt und strukturell technophob, auf eine schmerzgelinderte Passage bis (hoffentlich) zur Rente hin sinniert – die die Sozialdemokratie bereits hinter sich hat.