In den Wohngemeinschaften meiner Jugend- und Studentenzeit habe ich gelernt, dass ich – und ich glaube tatsächlich: dass man – mit jedem Menschen zusammenleben kann, sagen wir: ungefähr mit jedem und … schrittweise, es klappt nicht immer auf Anhieb. Auch psychisch krankhaft veranlagte Menschen meine ich nicht, aber ein durchaus breites Spektrum charakterlicher Originalitäten.
Unter den Worten – das Land
Juli Zeh schreibt Über Menschen
Ein Kammerspiel
Das Kammerspiel
Mit Gote könnte ich vermutlich auch irgendwie klarkommen.
„Tach. Gote. Ich bin hier der Dorfnazi.“
Als Dora nach Haus kam – Türen und Fenster hatte sie verschlossen, sie war sich sicher –, stand da ein Bett in ihrem Schlafzimmer, zusammengezimmert aus Paletten und weiss lackiert, mit umlaufender Bettkante. Es roch nach frischer Farbe.
„Du hattest keins.“ sagt Gote. Später stehen vier Stühle vor der Tür; draussen, immerhin, nicht im Haus. Heini kommt in Schutzkleidung mit technischem Gerät und mäht das grob verwilderte Grundstück. Auch ihn hatte Dora nicht um Hilfe gebeten, sie kennt ihn ja gar nicht. Dank erwartet Heini keinen.
Als Beziehungs-, Corona- und Stadtflüchtling war Dora in Bracken gestrandet, ein Strassendorf mit 250 Einwohnern in Brandenburg. Ganz in der Nähe liegt Unterleuten; der seltene, vom Windpark vertriebene Kampfläufer hat inzwischen offenbar in den Landkreis Prignitz hinübergemacht. Flucht, Vertreibung, Schiffbruch, Migration – nur auf den ersten Blick sind die Metaphern auch metaphorisch; von einem Plan jedenfalls kann man nicht reden. In der naiven Annahme, als erfolgreiche Angestellte einer Werbeagentur über eine geordnete bürgerliche Existenz zu verfügen, hatte sich Dora beim Kauf eines Hauses verausgabt – stellen wir es uns „teilrenoviert“ vor, ne Dusche gibt es schon –, mit einem 4000 Quadratmeter-Grundstück, weder Garten noch Park, bloss ein überwuchertes Flurstück in Dorfrandlage und von Gotes Grundstück „getrennt durch eine Mauer, die sie vereint“. Gote und Dora begegnen sich erstmals und dann öfter, bald kann man sagen: routinemässig, an dieser Mauer, müssen dazu auf beiden Seiten einen 50 cm-Hochstand unter die Füsse bringen, um sich sehen zu können. Viel zu sagen haben sie sich auch dann nicht, grob geschätzt wechseln sie 4 oder 5 Worte auf die Minute, also rauchen sie. Eine lovestory wird daraus nicht, auch nicht als amour fou.
Juli Zeh erzählt eine kleine Geschichte, ein Kammerspiel mit drei Personen, zwei, drei Nebendarstellern und ein paar Komparsen. Wieder ist unvermittelte Nachbarschaft das initiierende und handlungsführende Schicksal, wieder sind Wörter eher Hindernisse und Sprengsätze als dass sie Verständigung vermitteln.
Das ist erstaunlich genug, denn Frau Zeh gelingen immer wieder – als hätte sie zusammen mit Dora, die gefeierte Werbetexterin, daran gefeilt – Sätze, Pointen und Aphorismen, denen man so etwas wie eine kommunikative Aufgabe durchaus zumuten könnte. Aber darum geht es ihr, der Frau Zeh, nicht. Ihr Thema ist ein blanker Existentialismus: Leben, Grenzen, der Mensch unter dem Etikett. Überhaupt: dieses Entbergen! Unter den Wörtern, hinter ihnen, an ihnen vorbei, ruhen Wahrheiten, Wahrhaftigkeiten, mehr und öfter, als auf den von ihnen zugerichteten, zerschundenen Schauplätzen, unter den von ihnen begrenzten, verschatteten Horizonten. Bisweilen sind „alternative Wahrheiten“ darunter, das auch, einige schäbig, andere hässlich, manche gruselig.
Beim Perspektivwechsel, vor dem, was bloss ist, entlang der Landstrasse, vorn, da stehen die Wortfassaden wie billboards; sie versperren den Blick. Dora macht Entdeckungen dahinter. Das dauert und ist deswegen ein mühevoller Vorgang, der ihr geschieht. Der ihr aber auch nur deswegen geschehen kann, weil das Durcheinander, das in ihrem Kopf stattfindet und zwischen Berliner Feuilletons und Brackener Gossip mäandert, bisweilen tobt, ein clash of civilizations, weil dieser das Gehirn waschende, über sie gleichsam herniedergehende, sie überwalzende Vorgang nur ab und zu und auch dann nur in homöopathischen Dosen zu Worten kommt. Die schlagfertige Kommunikationsfachfrau der horizontalen Argumentation – vor dem vertikalen Schweigen steht sie wortsuchend, verwirrt in einer fremden Welt.
„Du musst ständig nachdenken.“ sagt Gote. „Nimm doch das Leben, wie es ist.“
Dass hinter den Worten Leben stattfindet und oft genug die Worte das Leben selbst in Schubladen versperren, das erkenne ich wieder. Dass da nichts zu finden sei, im Nachdenken, dass die Worte die Welt verminen, verbarrikadieren, ghettoisieren, das wäre eine bittere Nachricht. Ich folge ihr nicht. In den Wohngemeinschaften meiner Jugend waren die Worte das Bindemittel, sie ermöglichten das Nebeneinander verschiedener Lebenswelten. Bei aller Sympathie und trotz des gefälligen und schlussendlich traurigen Wohlgefühls bei der Lektüre – und es ist auch keine Kritik, sondern ein Kommentar – „Das Leben, wie es ist“, das ist noch keine Rezeptur für ein Gelingen, vor allem: es ist keine Zivilisation, oder, schlimmer noch, keine mehr. „Wenn Dein Hund noch einmal an meine Kartoffeln geht, mach ich ihn platt.“ (Discosure: er überlebt.)
Juli Zeh folgt Gotes Rat: alles ist voller Gegenwart, wie es ist. Deswegen sollst Du die Geschichte rasch lesen, jetzt. Wer weiss, ob wir sie morgen oder bald noch verstehen.