Ich habe (siehe unten: Hic Rhodos …) dargelegt, dass ich die FDP derzeit für die einzig wählbare Partei halte, vor allem, weil mir Christian Lindner als der einzig wählbare Politiker erscheint. Nun liegt das Wahlprogramm der Partei vor, und ich absolviere ein paar Trainingseinheiten in Ächternach.
Wahlprogramm FDP
Was wirklich fehlt ist Thought Leadership!
viel Konsens, krasse Fehler
Viel Magenta im Programm
Ich nähere mich diesem Programm als Wähler, habe also weder die Musse, noch die Intention, „historisch gültige“ Statements zu verfassen. Meine Eindrücke enstammen der „Erstlektüre“. Ich sehe mich nicht kompetent oder hinreichend vorurteils-stabil, um zu den 300 Themen qualifiziert Stellung zu nehmen – ich nehm das halt zur Kenntnis und denk mir „Is ok“ – oder eben nicht.
Was bleibt, ist ein Gesamteindruck („Ich werd’se wohl wähln“) und ein paar Hinweise zu Fragen, zu denen ich mir eine Meinung zutraue („So doll, wie erhofft, isses nu doch nich gewordn; un manchmal schlechter.“).
Gestern hat sich Andreas Backhaus bei Tichy mit dem Programm beschäftigt, und wenngleich ich die dort vorgetragenene Forderung (die Migrationspolitik in den Vordergrund zu stellen) für blöd, falsch und verwerflich halte, stimme ich doch in einem Punkt mit Backhaus überein: „… die FDP müsste jedenfalls kühn und bissig auftreten und mit Intelligenz und Vernunft überzeugen. Sie müsste vieles anders und besser machen, als man es bisher von ihr gewohnt ist.“ Genau darauf, mit freilich gänzlich anderer Ausrichtung, habe ich auch gehofft. Ich meine nun, nach der Lektüre, dass Christian Lindner eine „historische“ Chance vertan hat. Gerade jetzt hätte er mehr wagen können, und ich meine: müssen. Es ist, wie so oft: mit der zunehmenden, als „realistisch“ sich einstellenden Erreichbarkeit eines Zieles schwindet der Mut, der diese Erreichbarkeit erst möglich gemacht hat: „Jetzt bloss keine Fehler machen.“ Und wie so oft ist genau das der, zumindest ein gewichtiger Fehler.
Primat der Ratio
Das Wahlprogramm diskutiert vor allem anderen die Anforderungen, Chancen und Notwendigkeiten der Digitalisierung – und das konsequent durch alle Themenbereiche hindurch; immerhin. Auch in vielen der vielen „Regelungsbereiche“ klingen die Zielvorstellungen nach einem Primat der Ratio; es entsteht der Eindruck: hier agiert eine Partei auf der Höhe der Zeit. Gelegentlich findet sich noch das Restvokabular einer Klientelpartei, etwa wenn Apotheker oder Vermieter vorkommen, doch im Grossen und Ganzen zeigt das Programm viel zustimmungsfähiges politisches Material.
Das erste, vordergründigste Problem sehe ich in der Positionierung der Partei als
Vollsortimenter
Allein das Inhaltsverzeichnis, das alle behandelten Teilthemen auflistet, ist – bei einem insgesamt 80-Seiten Papier – 10 Seiten lang, und darin findet sich (fast) alles, was eine grosse Volkspartei ihren Wählern darstellen muss. Nach dem Schwerpunkt Bildung, mit besonderer Betonung der digitalen Chancen und Lücken, findet in rund 300 Positionen (fast) jede denkbare Frage ihren Paragraphen, von der obligatorischen Steuerpolitik (30 Milliarden Entlastung) bis zur Landwirtschaft, vom Venture Capital bis zum Binnenmarkt, von der Bahn bis zur Kultur, von der Rente bis zu den Flüchtlingen, von Sprachförderung vor der Einschulung bis zur Reform der Sicherheitsarchitektur.
Nun meine ich nicht, dass eine Partei gut beraten wäre, wenn sie in der Breite der politischen Themenstellungen markante Lücken aufwiese; Kompetenz schadet nie – und es ist sicher auch richtig, für die absehbaren Gesprächsthemen einer möglichen Regierungsbildung die eigenen Ideen zur Hand zu haben. Aber.
- Erstens ist die FDP keine Volkspartei, und es ist auch nicht zu erkennen, dass sich das in absehbarer Zeit ändert.
- Zweitens wählt man, wenn man denn die FDP wählt, die Partei für ihre Differenzeignung, also dafür, dass sie drängende Themengebiete glaubwürdig abdeckt, die andere Parteien nicht im Fokus führen und/oder aus inhaltlichen Beschränkungen oder ideologischen Gründen schlecht oder falsch bedienen.
- Drittens ist eine Koalition, in der die FDP eine Rolle spielen könnte, aktuell nicht in Sicht; würde sich das ändern, so stünden der FDP gewiss nicht alle Ressorts zur geflissentlichen Auswahl.
Es wäre also, meine Meinung, strategisch äusserst klug, als Partei nicht diesen Bauchladen zum Markt zu tragen, sondern sich mit trennscharfen Positionen als Lösungsanbieter darzustellen, wo dem Mainstream der Mut, der Durchblick und auch der parteiliche Wille fehlt. Rein praktisch würde man deswegen ja nicht darauf verzichten, alle erarbeiteten Fragestellungen auch zu präsentieren, man würde sie allerdings zu Blöcken bündeln, priorisieren und dabei die Schwerpunkte pointiert im Vordergrund darstellen.
Kommt das Gegenargument: das haben wir ja getan, in dem wir Bildung und Digitalisierung … jaja, ich kann lesen.
Es macht aber einen Unterschied, ob ich sage: „Wir fokussieren in der von uns angestrebten Regierungsarbeit drei Themen – Bildung, Digitalisierung, steuerliche Vereinfachung“ – oder ob ich sage: „Bei der Landwirtschaft setzen wir uns dafür ein, die Chancen der Digitalisierung …, bei der Lehrerfortbildung werden wir darauf drängen, die Qualifikationen der Digitalisierung …, in der Staatsorganisation treten wir dafür ein, die administrativen Prozesse auf der Höhe der Digitalisierung …“ … und so weiter, Thema, für Thema. Das schafft einen gehörigen Ennui, und hinterlässt allenfalls den Eindruck, dass die Partei überall, wie eine Hundemarkierung, ihren kleinen Digitalschiss hinterlässt. So werde ich (als Wähler) die Partei nicht als strategische Ergänzung/Kontrapunkt zum bestehenden Einheitsbrei wahrnehmen.
Nebenbei kommt strafverschärfend hinzu, das Kultur, und eben auch Bildung, Ländersache ist, und ich verwette meinen Computer darauf, dass sich das in der nächsten Legislaturperiode nicht ändern wird. Insofern würde ich, als Partei, in einem Bundestagswahlprogramm den Schwerpunkt auf jene Themen legen, die auch im Bund geregelt werden. Wäre dann das Thema Bildung in meinen Augen also weniger wichtig? Durchaus nicht! Allerdings würde ich es stets so formulieren, dass „Wir in den jeweiligen Länderparlamenten all unsere Anstrengungen darauf richten werden, dass …“ und es eben nicht so aussehen lassen, als würde man etwas im Bund regeln wollen, was da sicher nicht geregelt werden wird.
Digitalisierung
Das zweite grosse Problem dieses Wahlprogramms ist, dass die Partei sich für alles stark machen will, was auch nur im Entferntesten mit Digitalisierung zu tun hat, bis hin zu einem Digitalisierungsministerium, jedoch mit keinem Satz und auch keiner strategischen InAussichtnahme darauf eingeht, dass eben diese Digitalisierung gewaltige Probleme in der Breite der Bevölkerung erzeugen wird. Hier wäre der mutige Ankerpunkt gewesen, dem Bürger und ihr den Weg zu weisen aber auch ihre vagabundierenden Ängste aufzugreifen und seine auch. Wieder einmal, wie in der Vergangenheit, präsentiert sich die Partei nicht als die Speerspitze zu Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und des scharfen Denkens, sondern eben nur als die Partei der Besserverdienenden, derjenigen, die die Digitalisierung für sich zu nutzen verstehen. Das steht schon mal im Widerspruch zu der volksprogrammatischen Breite des Programms, ist darüber hinaus aber auch dumm, denn die absehbaren Probleme der Digitalisierung erfassen auch breite Schichten der bestehenden FDP-Klientel (etwa Banker, Rechtsanwälte, Makler, Ärzte …). Vor allem aber ist es dumm, weil sich Lindner in genau diesem Punkt ein Alleinstellungsmerkmal hätte unter den Nagel reissen können, bei dem in allen anderen Parteien bestenfalls Heulen und Zähneklappern herrscht und schlechtestenfalls wedelnd-freches Leugnen.
Europa und NATO
Mit Verve und überzeugend tritt die FDP für Europa und eine weitere, und sei es eine Kern-, europäische Einigung ein, bis hin zu einem Bundesstaat, einer gemeinsamen Polizei und Armee. Zu einem eklatanten, zentralen Widerspruch dabei, drittens Problem, gerät das gleichzeitige Bekenntnis zu einer transatlantischen Partnerschaft und dem transatlantischen Bündnis (NATO). Wesentlich geht dieser Spagat von der Analyse aus, dass Europa nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Selbst wenn es so wäre, und ich bezweifle das, dürfte man diese Schwäche, wo sie tatsächlich existiert (etwa in der digitalen Kriegführung), nicht noch als politische Zielsetzung festschreiben! Aber auch strategisch liegt das Argument im Klee: Wir können einfach nicht länger so tun, als ginge es bei dem US-amerikanischen Engagement in der NATO um irgendeine Wertegemeinschaft; die NATO ist – aus Sicht der USA – „Vorfeld-Politik“. Sie war die Garantie für die USA, dass eine Auseinandersetzung mit der Sowjetunion auf europäischem Boden stattfindet. Nichts anderes, jetzt aber im Interesse vor allem der der Deutschen (und anderer), sind die steten Bemühungen der NATO-Osterweiterung (und auch der aktive Russland-Nichtversteher muss einräumen, dass diese andauernde Linienverschiebung aus Sicht Russlands beunruhigend erscheinen muss). Unterdessen, und schon unter Obama, hat sich jedoch das US-Interesse, dem mit China ein anderer, „näherer“ globaler Antagonist erwachsen ist, massiv verschoben. Das nicht zu sehen, geht nur mit Vorsatz.
Unter der Prämisse höchst vermeintlicher, nein, längst (und eigentlich immer) schon fiktiver Sicherheitsgarantien ist die FDP bereit, die strukturelle Übergriffigkeit der USA, den Datenimperialismus und schliesslich auch die andauernden Souveränitätsverzichte weiter zu akzeptieren und gar zu fördern. Diese Position ist unhaltbar.
Auch abseits jedweden Anti-Amerikanismus ist eine europäische Einigung aus psychologischer Sicht nur über einen „europäischen Patriotismus“ zu gewinnen. In diesem Narrativ und ganz besonders in dem ausladenden ersten, zweiten, dritten Pendelschwung, der zur Installation eines solchen Patriotismus nötig sein wird, ist der Double Bind zu den USA unhaltbar, nein, kontra-indiziert. Ich glaube, dass Christian Lindner in diesem Punkt eine klaffende Verständnislücke pflegt – und seine flammende Fürsprache in der TTIP-Frage verweist auf die Ursachen.
Transfers
Ebenfalls im Widerspruch zum europäischen Bekenntnis steht die geforderte Stärkung der Nicht-Beistandsklausel (die, simpel gesprochen, besagt, dass jedes Land selbst für seine Schulden aufkommen muss). Im Wechselspiel mit der Forderung nach staatlichen Insolvenzverfahren, Euro-Austrittsmöglichkeiten und weiteren internationalen Regularien entsteht hier insgesamt der Eindruck, dass das gemeinte Europa der FDP eines der Zahlungsfähigen ist. Ich würde dem sachlich vielleicht/wahrscheinlich sogar zustimmen … wollen; nicht aber zustimmen können. Die europäische Einigung ist ein Prozess von filigraner Komplexität und ich kann realistisch nicht davon ausgehen, dass sich die einzelnen Einigungsmodule friktionslos an- und abschalten lassen, ohne die körperliche Substanz zu gefährden. Wie beim Länderfinanzausgleich kann ich auch nicht davon ausgehen, dass die ökonomischen Entwicklungen auf dem Kontinent im Gleichschritt vonstatten gehen; Transferzahlungen, so oder so, erscheinen mir unvermeidlich. Insofern empfinde ich das gesamteuropäische Pathos als einen gewissen Etikettenschwindel.
Regelrecht ins Knie schiesst sich das Programm in einigen wirtschaftlichen Fragen, so, wenn es zunächst den Abbau von Alt-Schulden einfordert und mahnend den Finger hebt: „Denn sollte eines Tages das Zinsniveau wieder ansteigen, dann bricht uns der hohe Schuldenberg möglicherweise finanziell das Genick.“ und nur wenige Seiten später selbst fordert: „Aus Sicht der Freien Demokraten muss die Niedrigzinspolitik so schnell wie möglich zurückgeführt werden.“
Finanzierung
Grundsätzlich schliesslich wird sich (auch) dieses Programm fragen lassen müssen, wie denn wohl die Investitionen, Ausweitungen von Leistungen und Einnahmenkürzungen – bei gleichzeitigem! Schuldenabbau – ins haushalterische Gleichgewicht kommen sollen. Es werden ja keine volkswirtschaftlichen Rechnungen angeboten, aber dem „Erstleser“ drängt sich der Eindruck auf, dass mehr vom Guten und weniger vom Schlechten insgesamt zu einem mehr beim Bezahlen sich aufsummieren.
Kein Thought Leadership
Als letzten grossen Schwachpunkt lässt Lindner das Thema Ökologie schlichtweg auf dem Tisch liegen. Es kommen an verschiedenen Stellen ein paar schwachbrüstige Hinweise, der ineffizienten und ineffektiven Energiewende werden alle Federn gerupft, doch die historische Schwäche der Grünen als strategische Chance eines (technologisch gestützten) Take Over zu aktivieren, auf diese Idee kommt die Partei erst gar nicht. Auch das reiht sich ein ins alte Bild von der FDP: die (unbestrittene) Vernunft reicht immer gerade soweit, wie ein vorteilhafter Windfall-Profit entsteht. Ich meine, dass Christian Lindner eine wohl einmalige Chance verpasst hat, die FDP als wirklich smarte und zukunftsorientierte Partei zu positionieren. Sowohl in Fragen der Digitalisierng wie auch in der Position zu den USA hätten ihm weitergehende, kritische? nicht mal: aufgeklärte Aussagen besser zu Gesicht gestanden. Die Bereitschaft zu einer echten Verantwortungsübernahme zeigt all das nicht, politisch praktisch nicht und schon gar nicht im Sinne eines gesellschaftlichen Thought Leadership.
Ich werd’se wohl wählen, aber aus der Hoffnung ist ein kleineres Übel geworden.