Ed Snowdon schreibt „Permanent Record“

Becoming a hero

 

Nach dem Nachrichten-Tsunami von 2013, nach Citizen 4 von Laura Poitras, nach Snowdon von Oliver Stone, nach zahllosen Interviews (zuletzt eine Stunde im DLF) – nach dem ganzen Medienrummel rund um Ed Snowdon: welche Fragen waren danach eigentlich noch offen?

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Was bleibt?

Permanent Record ist eine Autobiografie, zumindest erzählt Ed Snowdon (ES) in diesem Buch sein Leben entlang des Zeitstrahls. Die Einschränkung zumindest will alles andere als abschätzig klingen. Sie zielt vielmehr darauf, dass das Leben als gelebtes (als das eines Subjektes) in diesem Bericht die Nebenrolle spielt und eher als eine Fassade gezeichnet ist. ES weiss das offenbar; in einer Episode aus seiner Kindheit – er soll einen Aufsatz schreiben –, macht er deutlich, dass ihm nichts schwerer fällt, als von s/ich zu sprechen. Wir erfahren durchaus dies und das von und über Edward Snowdon, doch bleibt das formelhaft, wie neutralisiert. Selbst die Adjektive, mit denen er von der Liebe seines Lebens (Lindsay Mills) spricht, klingen amerikanisch, wie Etiketten, wie farblos. Es ist eine ich-lose, vibrationsarme Sprache, sie evoziert Bilder wie aus Bonanza, Dallas oder Denver Clan, von comicartigen Charakteren, die mit den Augen eine Tiefe behaupten, über die der Rest der Person nicht verfügt. Abziehbilder, Personenplatzhalter. Es ist eine Diagnose, kein Vorwurf!

Schon in der Familie, Militärs und Staatsdiener in der x-ten Generation, „die alle die Top-Secret“-Freigabe hatten“, wurde nie über Berufliches gesprochen, berichtet ES. Dass er ebenfalls danach strebt – … wer seine Geschichte nicht verstanden hat … – erscheint in diesem Umfeld nur logisch. Was für eine Hypothek! ES ist knapp über 20, mit einem IQ „über 145“ hat er sich durch die Bibliothek seiner Heimatstadt gefressen und weiss doch über sich selbst mehr oder weniger nichts. Seine eigentliche Ausbildung hat er im Internet erfahren, als Hacker, Nerd; Schule und College haben ihm nur wenig zu bieten, deren Anforderungen entledigt er sich mit minimalem Aufwand. Sein Weltbild vor 9/11 ist das eines Southerners, geboren in Wilmington, Noth Carolina. Der Vater ist Ingenieur bei der Küstenwache, die Mutter arbeitet bei der NSA. Waffenbesitz ist so selbstverständlich, dass ein Nebensatz (über Schiessübungen) genügt; seiner Freundin schenkt er einen Revolver zum Geburtstag. Nach 9/11, so berichtet er beschämt, habe er alle Positionen mit Vehemenz vertreten, die von der Bush-Administration in Umlauf gesetzt worden waren. Seine Erschütterung und Empörung ging soweit, dass er sich direkt zur Armee meldete, um im Irak-Krieg zu kämpfen. Ein Unfall während der Ausbildung beendet diese „Karriere“, bevor sie begonnen hat, hinterlässt aber den brennenden Wunsch, dem Vaterland in der Not beizustehen.

Diese seine eigentliche (erste) Karriere beginnt er studienbegleitend (Informatik) als Wachmann (bei der NSA). Danach geht er „als Talent“ zur CIA. Es scheint, als wüssten wir Hollywood-geschulten Europäer mehr über die CIA als ES damals, aber natürlich kann man auch einen Job bei der CIA funktional betrachten: funktionieren die Dinge wie sie sollen? Werden die Regeln und Prozesse eingehalten? Sind die „Agenten im Feld" sicher? Ziel und Zweck dieser Organisation und ihrer Agenten muss man in so eine Betrachtung nicht unbedingt einbeziehen: sind sie doch von einem unreflektierten Patriotismus und den Angreifern des Terrors hinreichend legitimiert. Als Contractor, nämlich als freelancer, durchläuft und durchblickt er rasch eine Reihe von sehr unterschiedlichen Aufgaben. Sein weit überdurchschnittliches Verständnis vom Zusammenspiel von Hard- und Software, sein durch (für contractors ganz normales) Jobhopping erworbenes transorganisatorisches Wissen qualifiziert ihn rasch für spezielle und seltene Aufgaben. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere gehört er zu den eins, zwei, drei Personen, die die meisten Regierungs- und Geheimdienstsysteme durchdrungen haben, und so gelingt es ihm, sich mit Innvoationen und Einsichten einen einzigartigen Status zu erarbeiten. Er schildert glaubwürdig, dass er streckenweise wohl der Einzige war, der „legitimen“ Zugriff auf fast alle geheimem und sozusagen bis zur Inexistenz geheimen Dokumente hatte – die er überdies in einem News-Reader organisiert, auf den alle Mitglieder der Geheimdienst-Community – in Abhängigkeit von der jeweils persönlichen Freigabe – zugreifen konnten. Unterwegs dieser Arbeiten erlangt er als professioneller Leser sein Wissen.

Bildet das gelebte Leben lediglich die Rahmenhandlung dieses Berufsweges, so spielt der Prozess des coming of age, eines Reifeprozesses, in dem der Autor auf einem schlingerden Pfad zu einer Revision seiner Sozialisation gelangt, sozusagen die Hauptrolle. Im Zentrum dieser Revision steht das System, repräsentiert von einem aus jeder Kontrolle geratenen Regierungsapparat – an dem der junge, naive ES nicht den Hauch eines Zweifels hatte. ES ist von dem Idealismus durchdrungen, in der besten aller Welten (den USA) das Richtige zu tun/tun zu wollen. 

Vermutlich findet sich im Weltverständnis eines links-liberalen Mitteleuropäers dort eine klaffende Lücke, wo es um das Wertesystem eine Southerners geht; aber doch: da ist was. Da finden sich Begriffe von Gerechtigkeit, Freiheit und durchaus, im Rahmen des systemisch gewährten Spektrums, auch liberale Werte: Rechte des Einzelnen und auch der Institutionen – grob gesprochen das Recht auf Privatheit, die Meinungs- und Pressefreiheit (usw). Es fällt in den europäischen und insbesondere deutschen Begrifflichkeiten nicht ganz leicht, Ed Snwodon politisch einzuordnen: er ist ein konservativer, bisweilen auch libertärer, Demokrat; das Treffendste ist vermutlich eine Klassifizierung als Verfassungspatriot. Es muss uns irritieren, aber in dieses aufrechte Verständnis passt – zumindest zeitweise – auch so etwas wie eine zähneknirschende Einsicht, dass es eine dunkle Seite des Staates geben kann, vielleicht sogar geben muss, insbesondere, wenn dieser Staat angegriffen wird. Wo gehobelt wird, … könnte man das launig abhaken, und es ist keine US-amerikanische Besonderheit. Wo „wir“ gegen „die anderen“ stehen, geraten die moralischen und rechtlichen Leitplanken überall auf der Welt ins Wanken. 

So ungefähr müssen wir uns die Konfliktline vorstellen, an der entlang ES Schritt für Schritt verstanden hat, dass sein Staatsapparat sich von den Grundlagen seiner Verfassung, dem Grundverständnis seines Volkes und vor allem von allem getrennt hat, was ein demokratisches Gemeinwesen ermöglicht. Das ist ein shakespear’scher oder Kleist’scher oder Stauffenberg’scher Konflikt: Wie weit geht meine Loyalität? Wo ist der Tipping Point, an dem ich die (Welt-)Einsichten meiner Jugend und Naivität als falsch erkennen und mich von ihnen trennen muss? Hinzu kommt die basale Weisheit, dass es sehr schwer ist, sich von Vorstellungen loszusagen, wenn das Daran-festhalten die Grundvoraussetzung der eigenen Existenz ist. ES war, wenn wir ihm glauben, Täter und kein kleiner Mitläufer.

Der schwerste und wahrhaft heldenhafte Teil dieses Konfliktes aber liegt in der Tatsache, dass er mit niemandem sprechen kann. Tag für Tag erfährt er von neuen und wortwörtlich die ganze Welt betreffenden Verbrechen seiner Regierung, seiner Auftraggeber. Und jeden Tag wird ihm klarer, in welchem Ausmass er selbst dazu beiträgt. Und er kann mit niemandem sprechen. In dieser Situation zu dem Entschluss zur Tat zu gelangen, es allein und nur auf die eigenen Fähigkeiten gestellt durchzuziehen, sozusagen ohne Netz und doppelten Boden, das ist, wenigstens in meiner Bewertung, sein eigentliches Heldentum. Gewiss ist auch die Durchführung der Tat, die systematische und kluge, erfolgreiche Umsetzung, nicht ohne. Ich möchte nicht despektierlich erscheinen, aber in der Tat schwingt auch ein nicht unerheblicher Teil Narzissmus mit: „Ich rette die Welt!“ Das Abenteuer und die mediale Aufmerksamkeit, der Eintrag in der Wikipedia, in der Weltgeschichte sogar …, ich meine, dass der Mut seiner Tat ganz gut abgegolten ist. Der Entschluss selbst aber war einsam und – vorher ist man dümmer – von maximalem Risiko bedroht. 

Die Frage vom Anfang jedoch bleibt: Was bleibt?Ed Snowdon reklamiert einigen Fortschritt im Umgang mit persönlicher Sicherheit und Verschlüsselung und wird nicht müde, darauf hinzuweisen und daran zu arbeiten, dass „die Menschheit“ sich aus den Fesseln der über sie verhängten Unmündigkeit lösen möge. Ich halte diesen Fortschritt für … ein Placebo. Selbstverständlich ist ES dafür nicht verantwortlich; er hat, was er konnte, getan. Aber die Welt hat sich weitergedreht, das Wasserglas vibierte nur ein wenig, das Utah Data Center wurde fertig gestellt.

Das Utah Data Center steht und arbeitet (©-Wikipedia, Parker Higgins)
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Dort, heisst es, werden nicht nur die digitalen Leben aller Menschen dauerhaft gespeichert (–> permanent record) sondern auch daran gearbeitet, jede Verschlüsselung zu brechen. Ich habe keinen Anlass, das zu bezweifeln.

Am Ende einer solchen Fahnenstange bleibt nur (und immer) die Systemfrage: Wodurch eigentlich sind diejenigen, die ihre Gesellschaft/en und die Menschheit elektronisch an die Fussfessel legen, legitimiert? Das ist, meine ich, eine ganz gute Frage für den Jahrestag der deutschen Einheit.