Ein anderer Aspekt, ganz andere Baustelle, gehört aber hierher, ist das Vorurteil. Seine Basis und Grundvoraussetzung ist die radikale Kleinkenntnis, sozusagen, ein paar frei herum purzelnde Schlagworte, die aber nicht hindern, dass irgendein Sachverhalt in einen präzisen, gerne auch wortreichen Meinungskäfig eingesperrt wird.
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Sebastian Haffner ist ein Intellektueller des vergangenen Jahrhunderts, heute kaum noch historisch interessierten oder kleineren akademischen Zirkeln rand-bekannt. Über lange Jahre war er mit einer Kolumne im „stern“ vertreten, gibt’s den noch? Es war eine der regel-un-mässigen Zeitschriften in meinem Elternhaus, die ich überhaupt nur der Bilder wegen zur Kenntnis nahm. Seine „Überlegungen eines Wechselwählers“ von 1980, ich glaube, der „stern“ machte gross mit einer Titelgeschichte dazu auf, habe ich aus Prinzip ignoriert, roch es doch schon von weitem nach FDP und Opportunismus. Ich kannte Haffner also eher gar nicht, gut genug, im Leben keinerlei Interesse für ihn entwickelt zu haben. Bestärkt wurde meine Ignoranz durch dessen näselnd quengelige Stimme und, ich stamme ja aus Norddeutschland, sein verwischtes „scht“, lebensweltenentfernt von Schmidts „sPPPitzen SsssTeinen“: Haffner wurde zum Interview gern genommen; mir war die Person suspekt. Damals.
Nun habe ich bekanntlich von meinen Eltern eine schweisstreibende Bibliothek geerbt (geschätzte 100 Regalmeter; einpacken, runterschleppen, hochschleppen, auspacken … wieder einpacken: ich kann Bücher einfach nicht wegwerfen, obwohl die Durchsicht schon ein sehr vermischtes Bild ergab: Der Buchclub war gut vertreten.) Immerhin, am oberen Ende dieser Durchsicht versammelten sich drei- oder vierhundert Bücher, die ich „in den Bestand übernehmen“ oder jedenfalls nicht unbesehen würde zurück in den Karton schubsen wollen [qtip:(1)| frag nicht, was mit dem Rest geschah; der Versuch, sinnstiftende Gebinde an den Nachwuchs zu verschenken, scheiterte an dessen Desinteresse], und so eröffnete ich in einer stillen Ecke eine Unterbibliothek, in die ich von Zeit zu Zeit reingreife. Um Überraschungen zu erleben, sone und solche.
Zu einer kleinen Sensation wurde mir – nach dieser Vorrede kaum anders zu erwarten – Sebastian Haffner, und zwar mit seiner „Geschichte eines Deutschen – Die Erinnerungen 1914-1933“. Die Tristesse des Titels hatte meine Erwartungen gegen Null geführt. Von den aktuell 10 Auswahlbüchern auf dem Nachttisch hatte ich bereits viere nach 30 oder 70 Seiten wegen Schwererträglichkeit oder anderen Schwächen fortgelegt, und Herr Haffner hatte gute Chancen, das fünfte in der Reihe zu werden. Lediglich ob der Entstehung erschien das Buch um eine Nuance interessanter: Haffner schrieb es 1938 im Londoner Exil, und es war verschollen bis zu seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2000. Der Umschlag (siehe Abb rechts), ebenfalls aus 2000, zitiert namhafte Begeisterung „fulminant, hellsichtig, faszinierend“. Also gut, versuchen wir es.
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1938 gab es über den Charakter des Naziregimes, wenn überhaupt je, keine Zweifel mehr; Leid, Terror und Tod hatten jedoch bis dahin „nur“ jene „Minderheiten“ erreicht, von denen Martin Niemöller gesprochen hatte: „Als die Nazis die Kommunisten holten …“. Haffner gehörte dazu nicht, im Gegenteil. Der Vater, sagt Wikipedia, war Reformpädagoge und Regierungsdirektor in der preussischen Schulverwaltung; in Haffners Erinnerungen bleibt er als „Beamter“ blass und unbestimmt, wenn auch ein "heimlicher Literat". Haffner, Jg. 1907, wuchs im Geiste dieses Beamtentums auf, wie soll ich das nennen, ein zeitgeistig normal-national-rechter, aber doch auch irgendwie humanistischer Mainstreamer, der seine kindlichen Anschauungen naiv und unbedarft der offiziellen Kriegsberichterstattung an den Litfasssäulen verdankte, die er täglich wie Sportergebnisse verfolgte; überhaupt setzt sein Leben sozusagen mit dem Kriegsausbruch ein, da war er 7: „Es war das erste und das letzte Mal, dass ich ein Stück vom Kriege als Wirklichkeit erlebte, mit dem natürlichen Schmerz des Menschen, dem etwas genommen und zerstört wird.“ [17] Nämlich acht Tage Resturlaub in Hinterpommern, wo das Kind die Wälder und Wiesen durchstreifte, und die nun wg. Abreise ausfielen; immerhin: „Schon unterwegs wurde alles anders, aufregender, abenteuerlicher – festlicher.“ [17] Aber mehr Krieg wurde nicht, nicht in Berlin! „Es gab keine Fliegerangriffe und keine Bomben. Verwundete gab es, aber nur von fern, mit malerischen Verbänden.“ [19]
Seite 19, hhm, soo spannend ist das bisher nicht, und da hilft es, dass mir der Autor Motiv und Ziel seines Buches erläutert, seinen Antrieb: „Vielleicht findet man es nicht der Mühe wert, daß ich die offensichtlich unadäquaten Reaktionen eines Kindes auf den Weltkrieg so ausführlich darstelle. Gewiß wäre es nicht der Mühe wert, wenn es sich dabei um einen Einzelfall handelte. Es ist aber kein Einzelfall. So oder so ähnlich hat eine ganze deutsche Generation in ihrer Kindheit oder frühen Jugend den Krieg erlebt - und zwar sehr bezeichnenderweise die Generation, die heute seine Wiederholung vorbereitet.“ [21] „Vieles hat dem Nazismus später geholfen und sein Wesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzel: nicht etwa im »Fronterlebnis«, sondern im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen. Die Frontgeneration hat ja im ganzen wenig echte Nazis geliefert und liefert heute noch im wesentlichen die »Nörgler und Meckerer«; …“ [22]
Haffner gelingt es, mit genügend Distanz auf das eigene Leben zu blicken und in seinem (eigenen, damaligen) Mittelmass das Mustergültige, Allgemeine zu beschreiben: welche Anlagen und Vorbedingungen in einem durchschnittlichen Leben angelegt waren, welche Motive und politischen Anschauungen woraus entstanden sind, wie sich diese Anlagen und Motive differenzierten, um dann mehrheitlich den Nazis in den Schoss zu fallen [qtip:(2)| naja: noch 1933 stimmten zersplitterte 56% gegen die Nazis; aber eine uneinige Opposition ist eben keine] oder minderheitlich in die Emigration oder ins KZ zu führen.
Aus dieser Perspektive erzählt Haffner: die politische Sozialisation der Centennials, hier Generation 1900 ff, die vor allem in den Jahren nach dem Krieg geprägt wurde, denn jetzt erst, wenn auch noch grün hinter den Ohren, nehmen sie bewussten, und genauer noch: ungeschützten Anteil. Der Krieg, nach all den heldenhaften Frontberichten, war verloren worden! Die nachfolgende Revolution war ein Desaster: „Alle ihre Krisen, Streiks, Schießereien, Putsche, Demonstrationszüge blieben widerspruchsvoll und verwirrend. Nie wurde es recht klar, um was es eigentlich ging. Man konnte sich nicht begeistern. Man konnte nicht einmal verstehen.“ [33] Die Niederschlagung der Revolution durch die Freicorps, „die in Wirklichkeit bereits gute Nazis waren, nur ohne den Namen,“ [41], der Kapp-Putsch und die Rolle der Sozialdemokratie unter Reichswehrminister Gustav Noske waren ein noch grösseres Desaster. Über ein Jahrzehnt, von 1914 bis 1923 war Politik ein mit den Leben und den Hoffnungen des Volkes spielendes Versagen, vor allem auf der Linken. Denn die Rechte versagte im eigentlichen Sinne nicht: sie war bereits zunehmend faschistisch, faschistoid und blieb dann dabei. „Wenn ich es recht bedenke, muß ich sagen, daß auch die Hitlerjugend damals schon fast fertig dastand. In unserer Klasse zum Beispiel hatten wir damals einen Club gebildet, der sich »Rennbund Altpreußen« nannte und das Motto führte: Anti-Spartakus, Sport und Politik! Die Politik bestand darin, daß wir einige Unglückliche, die erklärten, sie seien für die Revolution, gelegentlich auf dem Schulweg verprügelten.“ [38]
Haffner ist „wir“, er gehörte dazu, hatte natürlich keine Flausen im Kopf. Das macht seine Erzählung so aufregend und erkenntnisreich, dass er aus der, sagen wir: halb-beteiligten Mitte, einer nicht eben meinungsführenden, aber mitschwimmenden Reflektionsarmut, man könnte auch sagen: Bewusstlosigkeit, heraus schildert, was um ihn herum geschieht. Später studiert er Jura, paukt mit seinen Kommilitonen in einem politisch diversen Arbeitskreis. Dort diskutiert man – von rechts aussen bis Mitte rechts, zaghaft: Mitte links – wie vom Feldherrenhügel herab, von einem exterritorialen Turm herunter, was da unten herumgeistert und wimmelt. Inzwischen ekelt ihn, Haffner, das politische Geschehen, stösst ihn ab, er ist ästhetisch beleidigt und konstatiert, wie ihn ein wachsender Schrecken ankommt, aber doch eigentlich nichts angeht. Man hat eine Meinung, bis zu einer Haltung reicht es nicht. „Das läßt immer noch die Frage offen, warum nicht ganz spontan hier und da und dort, ein Einzelner aufstand und sich wehrte - wenn nicht gegen das Ganze, so doch vielleicht gegen irgendein spezielles Unrecht, irgendeine besondere Schandtat, die gerade in seiner Reichweite geschah? (Ich übersehe nicht, daß die Frage auch einen Vorwurf gegen mich selbst einschließt.)“ [134] Es ist keine Heldenerzählung, doch genau das macht es ihm möglich, den Geist des Geschehens persönlich kennenzulernen, den einschleichenden Zynismus, das sich regelrecht verzettelnde Misstrauen gegenüber allen Parteien, die stumpfe, unmenschliche Brutalität der Nazis: von-der-erste-Stunde-an!, und das grusel-gänsehäutige Versagen einer kompletten politischen Elite. „Der Verrat war durchgehend, allgemein und ausnahmslos, von links bis rechts. Daß die Kommunisten, hinter einer prahlerischen Fassade von »Bereitschaft« und Bürgerkriegsvorbereitung, in Wahrheit nur die rechtzeitige Flucht ihrer höheren Funktionäre ins Ausland vorbereiteten, habe ich schon erzählt.
Was die sozialdemokratische Führung betrifft, so hatte ihr Verrat an ihrer treuen und blind-loyalen Millionengefolgschaft von anständigen kleinen Leuten bereits am 20. Juli 1932 begonnen, als Severing und Grzesinski »der Gewalt wichen«. Den Wahlkampf von 1933 führten die Sozialdemokraten bereits auf eine entsetzlich demütigende Weise, indem sie hinter den Parolen der Nazis herliefen und ihr »Auch-national-sein« betonten. Am 4. März, einen Tag vor der Wahl, fuhr ihr »starker Mann«, der preußische Ministerpräsident Otto Braun, im Auto über die Schweizer Grenze; er hatte sich vorsorglich im Tessin ein Häuschen gekauft.“ [126/7]
Es hatte überhaupt, 10 Jahre zuvor, von diesem Versagen nur eine Ausnahme gegeben: Walther Rathenau; Sebastian Haffner beschreibt ihn als eine Art Lichtgestalt. „Nie vorher und nie nachher hat die deutsche Republik einen Politiker hervorgebracht, der so auf die Phantasie der Massen und der Jugend wirkte. Stresemann und Brüning, …, hatten niemals als Personen dieselbe Magie.“ [47] Diese Magie ist eine Projektion, kann es nur sein, natürlich, aber ohne Radio,TV und ohne Social Media fällt es uns schwer, uns ihr Zustandekommen zu erklären. „Rathenau wurde Wiederaufbauminister, dann Aussenminister – und auf einmal fühlte man, dass Politik wieder stattfand.“ [48] „Man las seine Reden und man spürte, jenseits des Inhaltes, einen unüberhörbaren Ton, in dem Anklage, Forderung und Verheissung war: einen Prophetenton.“ [49]
So kamen die Kräfte zusammen, die Hitler möglich gemacht haben: erst der Krieg, und die „Überraschung“ – : Wie bitte?! – der Niederlage. Dann die Revolution als komplett inkompetentes, richtungs- und regieloses Laienschauspiel. Gefolgt von der Konterrevolution als Terror und Bürgerkriegsgeschmack. Endlich: Rathenau, der Erlöser, aber auch Projektionsfläche des rechten Hasses: „Das Schwein muss gekillt werden.“ [51 – so zitiert Haffner eine Parole der Rechten] Nach nur einem halben Jahr Amtszeit war Rathenau von Mitglieder des rechtsradikalen Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes auf offener Strasse ermordet worden. „Nicht die Erschießung der tausend Arbeiter in Lichtenberg 1919 hatte die Massen so aufgebracht wie jetzt die Ermordung dieses einen Mannes, der eigentlich sogar ein Kapitalist gewesen war. Ein paar Tage über den Tod hinaus hielt der Persönlichkeitszauber noch an; es herrschte, einige Tage, etwas, was ich später nie mehr erlebt habe: echte Revolutionsstimmung. Zur Bestattung fanden sich, ohne Zwang und ohne Drohung, ein paar hundertausend Menschen ein. Und nachher gingen sie nicht auseinander, sondern zogen stundenlang durch die Straßen, in nicht endenden Zügen, schweigend, grimmig, fordernd. Man spürte: Hätte man diese Massen an diesem Tage aufgefordert, Schluß zu machen mit denen, die damals noch »Reaktionäre« hießen und in Wahrheit bereits die Nazis waren, sie hätten es ohne weiteres getan, rasch, durchgreifend und gründlich.“ [52]
Beeindruckend finde ich zweierlei: Zunächst „die Massen“. Diese Figur gab es noch in den 1968er Jahren; sie ist gleichermassen „stark“, ein Machtfaktor, aber eben auch instrumentalisierbar, manipulierbar – und ein hirnloser Haufen, wenn niemand vorneweg läuft. Heute, divide et impera, im Fahrwasser identitärer Kleingruppenbestimmungen, erscheint sogar die Existenz von Massen, geschweige denn: politischen, geradezu unmöglich. Der andere Aspekt: eine andere Geschichte war möglich. Es war aber – kein Zufall – niemand da, der den Anstoss gab: Denn zu welchem Ziel? Unter welchem Narrativ? In einem Video zum Green New Deal zitiert Naomi Klein eine Bemerkung von Milton Friedman, mit dem sie ansonsten wenig verbindet: „When that crisis occurs, the actions that are taken depend on the ideas that are lying around.“ Es gab keine Ideen, die „herumlagen“, im Gegenteil: Krieg, Revolution und Konterrevolution hatten alle damals virulenten Ideen kompromittiert.
Und dann kam 1923. „Dieses phantastische Jahr ist es wahrscheinlich, was in den heutigen Deutschen jene Züge hinterlassen hat, die der gesamten übrigen Menschheit unverständlich und unheimlich und die auch dem normalen »deutschen Volkscharakter« fremd sind: jene hemmungslos zynische Phantastik, jene nihilistische Freude am »Unmöglichen« … Die Jahre vorher waren eine gute Vorschule des Nihilismus. Im Jahre 1923 aber wurden seine höheren Weihen ausgeteilt. Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen »1923«-Erlebnis entspricht. … Das Jahr 1923 machte Deutschland fertig - nicht speziell zum Nazimus, aber zu jedem phantastischen Abenteuer. … damals entstand das, was ihm heute seinen Wahnsinnszug gibt: die kalte Tollheit die hochfahrend hemmungslose, blinde Entschlossenheit zum Unmöglichen; das »Recht ist, was uns nutzt« und »das Wort unmöglich gibt es nicht«. [53/4] Mit einer gewissen (wenn auch etwas abenteuerlichen) historischen Logik folgen den Verlusten allen Glaubens in diesem Jahr die Verluste des Habens. Die Inflation frass jede Zukunft mit dem Augenblick, dionysische Exzesse im Gepäck. „Junge Paare wirbelten durch die Strassen der Vergnügungsviertel, wie in einem Film über die oberen Zehntausend. Überall war jeder mit der Liebe beschäftigt mit Hast und Lust.“ [57] Die Dekadenz übernahm das Bewusstsein, ich konnte diese Seiten nicht lesen, ohne an Liza Minellis Fingernägel zu denken.
„Ganz abgesehen davon, daß ein Sechzehnjähriger zwischen Herbst und Frühling zur Lebensmüdigkeit, Langeweile, und Trübsinn neigt, hatten wir nicht genug hinter uns - ich und meinesgleichen - um uns das Recht zu geben, das Leben mit müden skeptischen, blasierten, leicht höhnischen Augen anzusehen, und in uns selbst etwas von Thomas Buddenbrook und Tonio Kröger zu finden?
Wir hatten das große Kriegsspiel hinter uns, und den Schock des Ausgangs; einen sehr desillusionierenden politischen Lehrgang in Revolution, und jetzt das tägliche Schaustück des Zusammenbruchs aller Lebensregeln und des Bankrotts von Alter und Erfahrung. Wir hatten schon eine ganze Reihe widersprüchlicher Glauben durchgemacht.
Zunächst waren wir eine Weile Pazifisten gewesen, dann Nationalisten, später hatte uns die marxistische Aufklärung unterworfen…“ [59/60]
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Vollständigkeit ist nicht mein Ziel: ich will Sebastian Haffner nicht mit einer abschliessend würdigenden Rezension für die Schublade abfertigen: ich möchte um Leser für ihn werben. Haffners Buch hat 240 Seiten. Ich hätte noch 32 Zitate zu verarbeiten, um mit dieser Rezension zu seinem Ende zu kommen. Das Buch läuft über von prägnanten und erhellenden Formulierungen! Andererseits habe natürlich auch ich die Lektion ClickBaiting gelernt und werde daher den Teufel tun, hier alles zu verpulvern.
Ich empfehle es!
Wem die Parallelen nicht ins Auge springen (und natürlich die Differenzen, die interessant sind, mir aber weniger wichtig erscheinen), dem werde ich auch die Faszination nicht erklären können, die die Lektüre bei mir auslöste. Haffner wusste von unseren Nöten heute nichts. Er schreibt 1938, es ist sein erstes Buch, an kein Publikum: das deutsche war ihm verloren gegangen, das britische hatte eigene Sorgen, ein verlorenes Buch. Zur Veröffentlichung im Jahr 2000 ist man höflich begeistert, weil man mit Haffner versteht, „wie Hitler möglich wurde“ (Franziska Augstein in der FAZ, siehe Abb. rechts). Jetzt, 20 Jahre später, lesen wir aber ein anderes Buch: schon auch eine historische Lektion, aber eben auch einen Kommentar zur Lage. Wer heute zur Nacht Haffners Erinnerungen liest und morgens die NYTimes, die Washington Post, den Atlantik oder den New Yorker, dem gruselt ob der Möglichkeit, dass sich Geschichte wiederholt. Anderwärts.
Anderwärts?
„Wir wußten, daß die Dummen überwältigend in der Überzahl waren. Aber solange Stresemann da war, empfanden wir eine gewisse Sicherheit, daß sie in Schach gehalten waren. Wir bewegten uns unter ihnen mit der Sorglosigkeit, mit der die Menschen in einem modernen, käfiglosen Zoo zwischen den Raubtieren herumgehen, im Vertrauen darauf, daß die Gräben und Hecken alle gerade richtig berechnet sind. Die Raubtiere ihrerseits mochten ein entsprechendes Gefühl haben: Mit tiefem Haß prägten sie für die unsichtbare Ordnung, die sie bei aller Freiheit in Schranken hielt, ein vielsagendes Wort: »Das System«. Aber sie blieben in ihren Schranken.“ [82]