Es gibt keine richtige Korrektheit in der falschen Politik

Robert Pfaller schreibt „Erwachsenensprache“

Kindergebrabbel

 

Gibt es eine Strategie des neo-liberalen Kapitals, durch sprachliche Schaukämpfe von den eigentlichen Problemen abzulenken?

Robert Pfaller fokussiert und diagnostiziert in seinem Buch „Erwachsenensprache“ eine Domestizierung des Bewusstseins, in deren Windschatten das vormals strahlende Licht der Aufklärung zu einer Befunzelung von Bewusstseinstrübungen verkommt.

Gibt es ein neo-liberales Projekt, die Mittelschicht vom Denken abzuhalten?

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„Im selben Moment, in dem die USA und ihre Verbündeten die Welt mit Krieg, dubiosen Revolten und Bürgerkrieg überziehen und den friedlich belassenen Teil mit Austeritätspolitik in Armut treiben, überziehen sie die Welt auch mit einer Ideologie des gesäuberten, verharmlosenden Sprechens. Recht treffend erscheint darum Nancy Frasers Begriff des »progressiven Neoliberalismus« für diese Allianz scheinbar emanzipatorischer, progressiver Anliegen mit verschärfter Weltausbeutung.“ (19)

So und in zahlreichen Variationen formuliert Robert Pfaller das neo-liberale Projekt, in dem er ein virtuelles US-amerikanisches Gesamt-Kapitalsubjekt dabei beobachtet, mit subtiler Mechanik das MindSet des Mainstreams und damit auch die öffentliche Meinung vom tatsächlichen Geschehen auf eine Vielzahl von Nebenkriegsschauplätzen zu verführen. 

„Hatte die westliche und weitere Welt nach dem Zweiten Weltkrieg von den US-Amerikanern noch gelernt, resolut Anspruch auf Wohlstand zu erheben sowie auf allgemeine Liberalität, wenn nicht gar auf Sex and Drugs and Rock’n’Roll, so durfte sie nun staunend erfahren, dass es überall Empfindliche gibt, deretwegen man solche Ansprüche gefälligst zurückzuschrauben habe.“  (20)

Pfallers Analyse rennt bei mir offene Türen ein, habe ich dieses Ablenkungsmanöver, das in seinen wesentlichen Elementen unter dem Kampfbegriff der politischen Korrektheit firmiert, doch an vielen Stellen selbst beklagt. Bedauerlicherweise geschieht im Zuge dieser Aueinandersetzung zweierlei: Du musst Dich vor den falschen Freunden hüten (und ständig abgrenzen, gehört doch das pc-bashing zu den argumentativen Lieblingsfiguren der AfD), und Du läufst Gefahr, gleichsam in der Verlängerung der falschen Auseinandersetzung Deinerseits auf dem Sprachkampfplatz zu verharren, anstatt Dich in die Realitätsschlachten zu stürzen.

Letzteres ist nicht meine einzige Kritik an Robert Pfaller: in dem er die Sprache in das Zentrum seiner länglichen Analyse stellt und alle nur denkbaren Anstrengungen unternimmt, die analytische Verkommenheit des öffentlichen Raumes zu durchleuchten, geraten ihm die „eigentlichen politischen Schauplätze“, das ist meine Sicht, allzu flach und naiv. Wer, eine seiner zentralen Thesen, damit beschäftigt ist, empfindlich, verletzt und benachteiligt zu sein, die wird ihre Kräfte eher auf den eigenen Bauchnabel, als auf das Erreichen von Gleichheit ausrichten. „Warum kämpften die Leute plötzlich nur noch um Anerkennung? Und nicht etwa um Gleichheit?“ (160) Je nun, Gleichheit: was, bitte, soll das wieder sein? 

„Denn selbst wenn Fussgängerampeln in den liberalen, wohlhabenden Innenbezirken mancher Grossstädte nun fröhlich mit Darstellungen homo- oder transsexueller Personen leuchten, so sind andererseits doch gerade minoritäre Gruppen oft am stärksten von den Kürzungen der Sozialbudgets, der steigenden Arbeitslosigkeit und den erhöhten sozialen Spannungen betroffen, welche durch die neoliberale ökonomische Politik solcher scheinbar kulturell progressiver Parteien notwendig verursacht werden.“ (203)

Ich sehe das auch, aber ich sehe es anders. Richtig ist, dass die US-amerikanische Tradition, kulturelle und andere Interessen des Gemeinwohls aus dem Privatvermögen seiner erfolgreichen Mitglieder bestreiten zu lassen, keinem anderen Zweck dient, als die Masslosigkeit und Gier des An-Sich-Reissens ökonomischer Vorteile zu legitimieren. „Dieses Land war so gut zu mir, jetzt will ich etwas davon zurückgeben …“ Das ist nur keine neo-liberale Entwicklung. (Die Grafik rechts zeigt, dass das Spendenaufkommen in den USA plus/minus mit dem Bruttoinlandsprodukt korreliert; man kann also auch nicht etwa behaupten, dass der sprachliche Schaum von einem Nachlassen der „sozialen Verantwortung“ ablenken soll.) 

 

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Ich sehe die Ursachen der- und die Hinwendung zu sprachlichen und politisch korrekten Nebenkriegsschauplätzen vielmehr zunächst in einem grundsätzlichen politischen Orientierungsverlust nach dem Untergang des (real-exitierenden) Sozialismus (dessen „reale“ Ausprägung von der überwiegenden Linken harsch kritisiert wurde) und dem damit einhergehenden Verlust eines alternativen Gesellschaftsmodells (denn der Auslöschung seiner politischen Materialisierung fiel auch die Perspektive eines „besseren Sozialismus“ zum Opfer). Nach dem „Ende der Geschichte“ fehlt es der Linken an einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Zielvorstellung und an die Stelle einer radikalen Gesellschaftskritik treten bei jenen vielen, die (leider nur noch) „irgendwie“ im Dissenz zu den gegebenen Verhältnissen stehen, die zahllosen Einzelfragen von Benachteiligung und Ausgrenzung. Ich sehe in der (da stimme ich Pfaller zu) falschen politischen Granularisierung eine eher hilflose, gleichsam stellvertretende Substitution vormals „zentralistischer“ Gesellschaftskritik.

„Die dritte Macht, die diesen Strömungen Aktualität und Hegemonie verschafft, ist das neoliberale Interesse an der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums aus der Mitte nach ganz oben sowie der dementsprechenden Privatisierung der öffentlichen Güter und Räume. Ihr kommen die postmodernen Bestrebungen, den öffentlichen Raum den Kriterien privater Räume und der dort üblichen Rücksicht auf Empfindlichkeiten zu unterwerfen, äusserst gelegen.“ (61) 

„Benachteiligte aller Missstände behandelt man so, als ob sie keine anderen Sorgen hätten als mit einem speziellen, meist zartbesaiteten Namen bezeichnet zu werden.“ (164)

Schon richtig. In meinen Augen aber sind die Schwächen der "dissidenten" Ersatzhandlungen kein Ergebnis irgendwelcher Dunkelmächte, die in Neo(n)-ThinkTanks kulturelle Gross-Strategien ausgeheckt haben. Nur nebenbei: seitdem es anormal ist, nicht verrückt zu sein, fährt auch der Dissenz in der Mitte der Strasse. Ich halte diese Widerstandswölkchen eher für das Resultat einer funktionsorientierten, partikularistischen, anti-politischen und ich würde sagen „semi“-akademischen Ausbildung (und der Verheerungen des Bologna-Prozess'), als deren Ergebnis breiten Teilen der Ton-angebenden und Trend-machenden jüngeren, in-die-Mittelschicht-strebenden Meinungsinhaber die intellektuellen, politischen und historischen Grundlagen der Gesellschaft weitgehend unbekannt sind. „Abgesehen von diesem Beispiel habe ich nie ganz eingesehen, warum Leuten, die doch politisch zu denken gelernt hatte, gerade ihre Identität so wichtig war.“ (160) Eben nicht! Die Weltbilder heute, meine Analyse, resultieren aus intellektueller Erfahrungsarmut; zugleich aber sind „Identitäten“ heute so vielen zutiefst widersprüchlichen Rollenanforderungen ausgesetzt, dass ihnen der Sinn dafür, ob sie Männlein oder Weiblein sind, ins Wanken gerät.  

„Dies führt zu dem gegenwärtigen Zustand gleichsam »babylonischer Sprachentzweiung«: Teile der Elite und die gehobenen Mittelschichten, die von der neoliberalen Politik entweder profitieren oder dies erhoffen, betreiben ein zunehmend verkrampfteres und elitäreres Saubersprechen; und alle anderen ergehen sich – vielleicht auch trotzig – in immer dumpferem und unflätigerem Gerülpse.“ (203)

Wie bereits bemerkt, hat sich Pfaller mit einem breiten Spektrum sprachlicher Regressionen auseinander gesetzt und die im Ganzen doch etwas grobschlächtige Zusammenfassung hier wird der Analyse in der Breite und der Tiefe nicht gerecht. Das hat – auch – damit zu tun, dass mir das Buch streckenweise lästig wurde, insbesondere in seinen Abschnitten 3 („Weisse Lügen, schwarze Wahrheiten“) und 4 („Wie die anderen zu unseren Bestien werden“), und dass mir dort, wo ich sie kenne, und so, wie er sie einführt, Pfallers intellektuelle Wurzeln (Althusser, Marx, Freud, Lacan, …) ältlich erscheinen. Auch wenn er in vielen Aspketen scharf und klar vor allem kulturelle (im sprachlichen Handeln begründete) Missstände beobachtet, ist er einer, wie ich meine, überkommenen linken Analytik verpflichtet, die den Grundlagen und Perspektiven des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wird. 

Lesenswert, insbesondere die Kapitel 1, 2, 5 bis 7, und kritikwürdig.

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Die neue österreichische Regierung, lese ich, „dreht die Zeit zurück“ („Tagesspiegel“) und verläßt den Weg zum Bevormundestaat: „In der Präambel ihres Programms steht der Satz: ,Wir müssen der staatlichen Bevormundung ein Ende setzen.’ Und vier Sätze später gleich noch einmal: ,Statt Bevormundung von oben herab geht es darum, den Dienst an den Österreicherinnen und Österreichern zu leben.’ Es geht um das Ende der tatsächlichen, empfundenen oder bloß behaupteten Gängelung der Bürger eines Landes durch dessen Obrigkeit, durch den Staat mit seinen Gesetzen, durch Leute in den Großstädten und deren Moralismus, durch ,Gutmenschen’ und die Sprachschöpfungen von Feministen und Gender-Experten. Vor allem die Wähler der FPÖ beklagen das. Und der Regierung geht es darum zu zeigen, daß tatsächlich eine neue Zeit angebrochen ist in Österreich. Kurz vor Weihnachten sprach der neue Verkehrsminister in Interviews davon, über eine Lockerung des Autobahn-Tempolimits von 130 Kilometern pro Stunde nachzudenken.“ Das absolute Rauchverbot in der Gastronomie ist bereits kassiert. ------------------------------------------------------------------------------ Aber nicht nur die WählerInnen (kleiner Scherz!) der FPÖ beklagen das; auch der österreichische Kulturprofessor und Bestsellerautor Robert Pfaller schimpft auf die allwaltende Askese und beklagt den Verlust von „Lust- und Genußpraktiken, die, wie das Tragen von Pelzen, das Autofahren, das Austauschen von Komplimenten, die körperliche Liebe, das Rauchen, das Verschwenden von Zeit oder das Essen von Fleisch, heute für viele Zeitgenossen, sei es aus hygienischen, moralischen, politischen oder ökologischen Gründen etc., nur noch abstoßend sind“; und weil, wichtiger, „pedantische Oberaufseher“, „Oberlehrer“ und „Mimosen“, mithin die Moralisten und Sprachreglerinnen aus den „liberalen, wohlhabenden Innenbezirken“ der Großstädte das so verlangten. ------------------------------------------------------------------------------ „Die Transparenzgesellschaft ist eine lustfeindliche Gesellschaft.“ Byung-Chul Han, 2012 ------------------------------------------------------------------------------ Und zwar, und das ist die Pointe von Pfallers frischem Buch „Erwachsenensprache“, als neoliberale Agenten. Gleichheit sei nämlich ganz und nicht dasselbe wie Diversität, sondern ihr reines Gegenteil: Die unterm neoliberalen Diktat schwindende materielle Gleichheit werde durch eine bloß symbolische ersetzt, in welcher zwar immer mehr Menschen immer weniger haben, dafür aber über einen Reichtum an Empfindlichkeiten und Identitäten verfügen, deren umfängliche Anerkennung lediglich die perfide Kehrseite des Umstands ist, daß die neoliberale Gegenwart vieles anerkennt, den Menschen als Humanum aber ganz gewiß nicht. Korrektheit sei deshalb neoliberale „Propaganda“ und überdies ein Distinktions- und Konkurrenzmittel der linksliberalen Mittelschicht, um „falsche“ Lebensweisen und „das rebellische, vulgäre und ungehörige Sprechen sämtlicher anderer zu diskreditieren“. Tatsächliche, konkrete Gleichheit und „politische Selbstbestimmung“, so Pfallers Schluß, könnten nur da gedeihen, wo es mit der Korrektheit ein Ende habe und wieder das Argument zähle, nicht die Person.
------------------------------------------------------------------------------ Das ist bedenkenswert, einerseits; Verwandtes habe ich selbst schon geschrieben (und später relativiert). Andererseits sind das die Sorgen der FPÖ-Kundschaft und ließe sich umgekehrt argumentieren, daß Rasen und Fressen („Die Spezialität des Hauses kommt in einer Art Blechtrog: ein Meter Österreich mit Schweineschnitzel, Rindsgulasch, Blunzengröstl, Eiernockerln und Würstchen“, „Tagesspiegel“) ja auch bloß konsumistische Sedativa sind und „Genuß“ unterm Kapitalismus nicht das ist, was vielleicht Adorno darunter verstand. (Ein akademisch-moralischer Großstadteinwand wiederum, gewiß; aber warum sind die Menschen jetzt plötzlich freie Genußwesen, wo sie doch sonst Charaktermasken sind?) Die Leute, schreibt Pfaller, würden systematisch zu Jammerlappen gemacht, die wegen jedem Pups zur Diskriminierungsstelle liefen; aber müssen nicht allenthalben die Kinder schon „stark“ werden (wegen Drogen, Markt usw.), und ist der resiliente Sport- und Outdoortypus nicht mindestens genauso zeittypisch wie Pfallers Gendermimose? Und ist das Mittelschichtspublikum, das sich nicht von akademischen Verbotsbeauftragten gängeln lassen will, beim Jammern (nämlich übers „Verbot“, Auto zu fahren und Fleisch zu essen, was ja nun ein Witz ist) nicht vorne mit dabei? Und zutiefst dankbar, daß wer die Schuld an Ausbeutung und Armut ausdrücklich nicht in den klassenspezifischen Konsum- und Ellbogengewohnheiten (als nämlich durchaus moralfernen) erkennt, sondern bei den Eierköpf*innen und dem Ami ablädt, der den PC-Quark aus den üblichen sinistren Motiven angerührt hat?
------------------------------------------------------------------------------ „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Wittgenstein, 1918 ------------------------------------------------------------------------------ Sündengeiß Diversität also. Was aber ist mit der Bewußtseinsindustrie, der täglichen Konsum- und Systempropaganda und jenem „Klassenkampf der Mitte“, geführt von der „großen Koalition der Wohlstandsbewahrer“ (Stephan Lessenich), denen Gleichheit (oder gar Sozialismus) zirka tausendmal weniger wichtig ist als die Möglichkeit, die optimale Schule fürs Kind zu finden und ohne Gewissensnot den Osterferienflug buchen zu können? Hat man sich in der guten alten präneoliberalen und vorkorrekten Zeit wirklich pauschal „erwachsener“ verständigt, wenn man Schauspielerinnen wie Helen Mirren in Talkshows männlicherseits auf ihr Dekolleté ansprach (SZ, 5.1.) oder Spaghettifresser wie Tonio Schiavo in Herne vom Dach schmiß? Gibt's nicht auch queere Facharbeiter auf dem Land, und kriegt etwa die Antifa Systemablehnung und *-Kultur nicht auch zusammen? Und wenn nur das Argument zählt, warum hält es Pfaller dann mit dem 9/11-Verschwörungstheoretiker Daniele Ganser? ------------------------------------------------------------------------------ Das sind so Fragen. Aber sie zu stellen ist ja Teil des produktiven, systemüberwindenden Dissenses, der wieder möglich werden soll. Ich bin dabei.

Ich danke für die ergänzenden Zitate und Hinweise. Der speziell auf Österreich zielende Teil ist mir nicht so vertraut, und ich bin auch nicht ganz sicher ob Du/Sie mir zustimmen oder Pfaller oder mir nicht oder eher Pfaller nicht, jedenfalls finden wir in einem „systemüberwindenden“ Dissens zusammen, solange er nicht von rechts kommt.

Gespeichert von Stefan am

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Ich stimme IHNEN weitgehend zu und glaube, dass Pfaller sich mit 25 Jahren Verspätung in die Lücke zwischen den dogmatischen Sprachregeln der amerikanischen Linken und den stereotypen Obsessionen der kulturfeindlichen Konservativen in den Vereinigten Staaten zu zwängen versucht, in welcher schon Robert Studley Forrest Hughes (1993): "Culture of Complaint: The Fraying of America" (Oxford University Press) und Pascal Bruckner (1997): „Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne“ (Berlin Aufbau) stecken geblieben sind. Worum es heute wirklich geht, hat Dieter Schnaas in der WiWo vom 24. Februar 2018 wesentlich knapper und genauer beschrieben: https://www.wiwo.de/technologie/digitale-welt/tauchsieder-das-gift-der-… ----------------------------------------------------------------------------- Pfaller macht sich über ein lustfeindliches, ideologisch hoch gerüstetes Spießertum lustig, das sich gerne als Opfer geriert und damit das Muster fabriziert, mit Hilfe dessen sich heute auch der neu-alte illiberale, nationalautoritäre sowie kultur- und ethno-essentialistische Primitivismus gegen jegliche Kritik immunisiert. Das Wort Viktimisierung hat sich im Lauf der letzten Jahre bis weit in die Alltagssprache hinein durchgesetzt. Es bezeichnet die Neigung, sich in seiner Opferrolle einzurichten, und wird meist auf Minderheiten angewandt, die für ihre Rechte kämpfen, insbesondere auf die Nachfahren von Sklaven oder Kolonisierten, aber auch auf Feministinnen – letztlich auf alle, die sich wehren und Forderungen stellen. ----------------------------------------------------------------------------- Sich über die „Viktimisierung“ lustig zu machen, ist zu einer Lieblingsbeschäftigung von Essayisten und Journalisten geworden. Sie gestattet es, sich selbst auf eine moralisch vermeintlich höhere Warte zu stellen und das Adjektiv „betroffen“ abfällig zu gebrauchen, was sich im Titel eines Buches oder Artikels immer gut macht. Dem Leser oder der Leserin geht diese Pose jedoch schnell auf die Nerven, ein Verdruss, der noch dadurch gesteigert wird, dass die fraglichen Schriften unweigerlich den Charakter von Rumpelkammern haben: Wenn man nur sucht, lässt sich praktisch jede Situation unter dem Aspekt Opfer/Schuldige beschreiben. Man darf folglich am Wert eines begrifflichen Werkzeugs zweifeln, das es etwa Guillaume Erner erlaubt, Bernard-Henri Lévy und Pierre Bourdieu in einen Topf zu werfen – als zwei Repräsentanten des „Betroffenheitsdenkens“. (S.u.: 1) ----------------------------------------------------------------------------- Wie Guillaume Erner sehen auch Caroline Eliacheff und Daniel Soulez Larivière das Ansehen und die Glaubwürdigkeit, die Opfer neuerdings genießen, als eine Folge der Politik des Spektakels, aber auch als einen Reflex auf das Ende des Kalten Krieges.(2) Es falle leichter, den Opfern welcher Geißel auch immer beizustehen, als sich in einer komplexen Welt politisch zu engagieren, meint das Autorenduo, weil man so „sicher sein kann, sich wenigstens in der Sache nicht zu irren“ – glaube man jedenfalls. Und für Guillaume Erner scheint es so, „als sei die Heiligsprechung der Opfer das, was bleibt, nachdem der Marxismus abgedankt hat“. ----------------------------------------------------------------------------- Dabei trägt er selbst zur Entpolitisierung bei, wenn er so disparate Themen wie die Geschichte von Lady Di, den Tierschutz, die Bilderflut im Fernsehen oder die Sklaverei zwischen zwei Buchdeckel presst und mit ein und demselben Etikett versieht. Oder wenn er diese Methode sogar noch retrospektiv anwendet, so dass unter seiner Feder die hoch politisierte Ära des Mai 1968 zum „Frühlingserwachen der Opfer“ mutiert. ----------------------------------------------------------------------------- Die neuen Essays über die Viktimisierung schreiben eine andere Mode fort, nämlich die Attacken gegen die „politische Korrektheit“ der 1990er-Jahre. Auch sie wurde bereits mit der Zersplitterung der Gesellschaft angesichts tyrannischer Gruppeninteressen assoziiert. Beliebter Topos (in Essays, Filmen und Romanen) waren beispielsweise die Verheerungen, die die Political Correctness an den US-amerikanischen Universitäten angerichtet habe. Dies war ebenso simpel wie unterhaltsam: Authentische Anekdoten wie die über die feministische Professorin, die lieber „Ovulare“ statt „Seminare“ veranstaltete, oder plumpe Scherze wie die Umbenennung „Pippins des Kurzen“ in „Pippin den vertikal Eingeschränkten“ eröffneten den Schöngeistern ein Spielfeld mit schier unbegrenzten Möglichkeiten.(3) ----------------------------------------------------------------------------- Besonders erfolgreich war eine Polemik des Kunstkritikers der Times, Robert Hughes, dessen Buch „Political Correctness oder die Kunst, sich selbst das Denken zu verbieten“ 1995 auf Deutsch erschien.(4) Immerhin argumentiert Hughes um einiges geistreicher und seriöser als seine zahlreichen Nachäffer (zu denen auch Robert Pfaller gehört) diesseits des Atlantiks, denn trotz spitzer Feder bemüht er sich um eine differenzierte Sichtweise. Er erinnert daran, dass das euphemistische Feigenblatt kein Vorrecht der Linken ist, und spießt den Jargon der Armeeführungen – man erinnere sich an die „chirurgischen Schläge“ des ersten Golfkriegs – ebenso auf wie den der Manager, die einen Crash als „Börsenrückgang“ und Massenentlassungen als „industrielle Umstrukturierung“ verharmlosen. ----------------------------------------------------------------------------- Solche Beobachtungen mögen uns heute banal vorkommen, weil die kritische Analyse des neoliberalen Wortschatzes inzwischen gang und gäbe ist, aber damals waren sie ziemlich avanciert. Hughes belächelt die schrillen Rufe der konservativen Rechten, die vor einer marxistischen Übernahme der Universitäten warnen, obgleich sich die Mehrheit der Lehrenden in Berkeley und Los Angeles selbst als konservativ bezeichnet. Obendrein sind die Schlüsselpositionen mit republikanischen Parteigängern besetzt, weshalb der Autor es absurd findet, so zu tun, als sei das ein unpolitisches Thema. ----------------------------------------------------------------------------- Wenn Hughes den Übereifer der akademischen Linken kritisiert, dann weniger, um sie zu diskreditieren, als vielmehr, um zu zeigen, wie sehr sie sich damit selbst schaden. Sein Vorwurf besteht darin, dass sich die Linke „mehr für die Rassen- und Geschlechterfrage interessiert als für die Klassenfrage“ und „viel lieber über Geschlecht und Rasse theoretisiert, als sich mit der gelebten Wirklichkeit auseinanderzusetzen“. Auch fürchtet Hughes, dass die ausschließliche Beschäftigung mit der symbolischen Ebene der Sprache für die Linke zur selbst gestellten Falle werden könnte, die sie unfähig macht, die globalen Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, für die sie sich einsetzt: „Bleibt unterm Strich: Die Dumpfbacken, die früher Homos verprügelten, verkloppen jetzt Schwule.“ ----------------------------------------------------------------------------- Außerdem ist Hughes, der aus Australien in die Vereinigten Staaten einwanderte, ein leidenschaftlicher Verfechter der multikulturellen Gesellschaft. Was er mit Argwohn beäugt, ist folglich nicht, dass sich im westlichen Kulturraum Autoren breitmachen, die die weiße, männlich dominierte und sozial arrivierte Perspektive infrage stellen, vielmehr stören ihn die teils übereilten Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Natürlich hält er es für notwendig, die sozialen und kulturellen Voraussetzungen zu analysieren, die in einem Text am Werk sind. Aber sie zum einzigen Kriterium des Textverständnisses zu machen, wäre in seinen Augen ein grober Fehler. Kaum ein Intellektueller habe mehr dazu beigetragen, solche verborgenen Voraussetzungen zu enthüllen, als Edward Said, der aber auch, wie Hughes erinnert, immer wieder vor monoperspektivischen Urteilen gewarnt hat. (5) Hughes beklagt, dass die Linke zunehmend dazu neige, zu verdächtigen, zu disziplinieren und zu zensieren – als seien bestimmte Werke von einem moralischen Virus befallen, der imstande sei, den Leser anzustecken –, statt zu ergänzen und zu vergleichen: „Wissen ist expansiv, nicht exklusiv.“ ----------------------------------------------------------------------------- Pascal Bruckner, der das Vorwort zur französischen Ausgabe von Hughes’ Buch verfasst hat, setzte in den folgenden Jahren alles daran, dem Thema zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen. In seiner Streitschrift „Ich leide, also bin ich: die Krankheit der Moderne“ (6) vertritt er die zentrale These, dass sich der abendländische Mensch zugleich für ein ewiges Kind und für ein Opfer hält. Bruckner bringt das auf die Formel: „Kindischsein und Klagelied“. Er stellt – häufig aus zweiter Hand stammende oder aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissene – Zitate von drei oder vier radikalen amerikanischen Feministinnen zusammen, jener Menschenfresserinnen also, deren Äußerungen heraufzubeschwören sich jede Edelfeder von Saint-Germain-des-Prés verpflichtet fühlt, um die geneigte Leserschaft erschaudern zu lassen. Vor allem borgt er sich bei Robert Hughes, der sie seinerseits bereits entrüstet zitiert hatte, ein der berühmten US-Feministin Andrea Dworkin zugeschriebenes Zitat, nach der jede Penetration, selbst die einvernehmlich vollzogene, eine Vergewaltigung sei. Dabei ist völlig unerheblich, dass die Autorin diese Auslegung ihrer Schriften stets zurückgewiesen hat. (7) Élisabeth Badinter hat diese Unterstellung 2003 in ihrem Buch „Die Wiederentdeckung der Gleichheit“ wieder aufgegriffen, das sich mit den „Exzessen“ des Feminismus befasst (8) ; gefolgt von Éric Zemmour, dem gallischen Barden bodenständiger Männlichkeit, der diese Sicht der Dinge in „le premier sexe“ („Das erste Geschlecht“) „den“ Feministinnen im Allgemeinen zuschreibt und scharfsinnig hinzufügt: „Das ist ja im Übrigen auch nicht falsch.“ (9) ----------------------------------------------------------------------------- Nachdem er sich von der grundsätzlichen Unvernunft „der“ amerikanischen Feministinnen überzeugt hat, plädiert Bruckner dafür, Frankreich möge doch bitte der Versuchung widerstehen, diesen düsteren Puritanismus zu importieren, und solle sich stattdessen lieber auf seine Kultur der galanten Scherze und der Harmonie der Geschlechter besinnen. Und er beschwört jene vermeintliche Vergangenheit herauf, als der Kavalier und die edle Dame sich in vollendeter Gelassenheit nur den Vergnügungen des Geistes und den Freuden des Fleisches hingaben. Ratlos nimmt der Leser die seitenlangen lyrischen Ergüsse zur Kenntnis, in denen die Dichterin Louise Labé die Pariser Salonkultur, die Libertins und Troubadoure zu neuem Leben erweckt werden – um am Ende offene Türen einzurennen. Schließlich versteht es sich doch von selbst, dass es in den Vereinigten Staaten wie in Frankreich – jenseits der unterschiedlichen kulturellen und sozialen Realität – jede Menge Beispiele für sehr gute und für sehr schlechte Beziehungen zwischen den Geschlechtern gibt. Das Schlechte zu bekämpfen, bedeutet doch nicht, dass man das Bessere nicht kennen würde, so wenig wie die Existenz des guten Beispiels an der des schlechten irgendetwas ändert. Ihre Tyll- und Echenoz-Frage, Herr van Deelen: Was also soll das Ganze? ----------------------------------------------------------------------------- Spätestens hier ahnt man, wohin die Reise mit dem Diskurs über die Viktimisierung gehen soll. Es ist ein Diskurs, dem es nicht um die konstruktive Analyse geht, sondern um die Diskurshoheit und die Setzung eines Themas, das von anderen ablenkt. Dabei wird die Legitimität der jeweiligen Anliegen meist gar nicht direkt bestritten – sei es das der Frauen, der von Rassismus bedrohten Einwanderer, der Homosexuellen oder der Palästinenser. Man stürzt sich vielmehr auf die unmittelbaren Äußerungen der Betroffenen, empört sich über Übertreibungen, die man mal anstößig, mal skandalös findet, bis diese Empörung allmählich alles andere verdrängt. Wo es im Grunde um Herrschaft oder Unterdrückung geht, werden nicht diese zum Gegenstand der allgemeinen Beunruhigung, sondern die tatsächlichen oder vermeintlichen verbalen Entgleisungen derer, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. ----------------------------------------------------------------------------- Von all diesen Übertretungen roter Linien eignet sich die leichtfertige Rede vom Völkermord besonders gut dafür, den eigentlichen Sachverhalt unter den Teppich zu kehren. Dazu, dass die Nachkommen der Sklaven und Kolonisierten nach dem Vorbild der Hinterbliebenen von KZ-Opfern um die Anerkennung ihrer Vergangenheit kämpfen, bemerken Caroline Eliacheff und Daniel Soulez Larivière nur lapidar: „Es verbietet sich, zu vergleichen, was nicht verglichen werden kann.“ Und der Moderator einer Kultursendung erklärte: „Alljährlich werden in Frankreich hundert Frauen Opfer von häuslicher Gewalt. Das ist natürlich schrecklich, aber dass die Aktivisten gleich von Völkermord reden müssen …“ (10) ----------------------------------------------------------------------------- Élisabeth Badinters Buch, das sich von den ersten Seiten an auf Pascal Bruckners „Ich leide, also bin ich“ bezieht, hat zur Verbreitung dieses Gemeinplatzes einiges beigetragen. Sie wurde in einem Interview für „Die Wiederentdeckung der Gleichheit“ gefragt, ob sich das von ihr auf Frauen bezogene Konzept der Viktimisierung auch auf den Umgang der Medien mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt anwenden ließe. Darauf Badinter: „Es stimmt, dass das palästinensische Volk ein Opfervolk ist. (…) Aber ich war doch sehr befremdet, wie eilig die europäischen Medien es hatten, Dschenin zu ‚bringen‘. Alle Welt gefiel sich darin, von einem ‚Massaker‘ zu sprechen.“ (11) Wenn der Finger auf den Mond zeigt, lädt die Neophilosophie dazu ein, den Finger misstrauisch zu beäugen – in der Hoffnung, damit den Mond vergessen zu machen. ----------------------------------------------------------------------------- Im Übrigen scheint die Existenz des Mondes ins Bewusstsein dieser Neophilosophen kaum vorgedrungen zu sein. Verblüffend ist, wie hartnäckig Pascal Bruckner die Realität ausblendet. Dafür werden alle Register gezogen. Unbegründete Behauptungen und gewagte Auslegungen werden in einem Duktus aneinandergereiht, der sich an seiner eigenen Eleganz zu berauschen scheint. So notiert der Autor in seiner Streitschrift „Der Schuldkomplex“ (12) die düsteren Attribute, mit denen Giorgio Agamben oder Enzo Traverso die Abschiebelager in den Flughäfen belegen, und erkennt darin nur ein weiteres Beispiel für den „Masochismus des Westens“; oder er beklagt den Umstand, dass sich die Studenten, die sich 1968 als „intellektuelle Arbeiter“ verstanden, mittlerweile als „Prekariat“ und damit als Opfer definieren. Wissen zu wollen, was ein Abschiebelager tatsächlich ist, und ob das, was dort geschieht, denn vertretbar ist, oder sich über die Veränderungen in der Arbeitswelt seit 1968 Gedanken zu machen, für einen Pascal Bruckner sind das offenbar zu banale Fragen, als dass er sich mit ihnen lange aufhalten würde. ----------------------------------------------------------------------------- Wahrhaft spektakuläre logische Ausweichmanöver vollführt Bruckner, wann immer es um den israelisch-palästinensischen Konflikt geht. Wenn die internationale Öffentlichkeit das israelische Vorgehen kritisiert, liegt das seiner Meinung nach nicht an dem besagten Vorgehen, sondern vielmehr daran, dass den Juden ihr Abweichen vom stereotypen Opferverhalten vorgeworfen werde und Israel „keine Scheu vor Gewaltanwendung“ habe. ----------------------------------------------------------------------------- Bruckner versteht seine Argumentation zu variieren: Wie Pascal Boniface festgestellt hat, könnte man Bruckners Plädoyer zur Verteidigung der Tschetschenen Wort für Wort durch das zur Verteidigung der Palästinenser austauschen. (13) Oder wenn sich Bruckner über die Linken lustig macht, die sich die Palästinenser gern als „die letzten guten Indianer“ zurechtfantasierten, könnte man ihn an das erinnern, was er während des Balkankriegs über Kroaten und Bosnier geschrieben hat: „Warum verlangen wir immer von den Opfern, dass sie ohne Fehl und Tadel sind? (…) Es wäre keinem einzigen Menschen damit geholfen, dass man beim Unterjochten die Unschuld des Lammes suchte.“ ----------------------------------------------------------------------------- Die Verteidiger der Frauen und Minderheiten und die erbitterten Kritiker der „Viktimisierung“ haben sich in einem Dialog der Schwerhörigen eingerichtet. Die Kritiker werfen den Verteidigern vor, sie würden den Universalismus untergraben, und verweisen darauf, dass doch nicht die Herkunft oder das Geschlecht den Wert eines Individuums ausmache – was nicht ohne Ironie ist bei Autoren, die sich, wie Bruckner selbst, immer mehr und in überheblichen und schalen Tönen mit dem Selbstbild des Westens identifizieren. (14) ----------------------------------------------------------------------------- Wenn sich Minderheiten organisieren, dann doch gerade deshalb, weil sie sich gegen den Essenzialismus und gegen Feindseligkeiten wehren wollen, die ihnen aus ihrer Umwelt offen entgegenschlagen. François Cusset, der in seinem Buch „La Decénnie“ die Anfänge dieser Kontroverse nachzuvollziehen versucht, bemerkt, dass beispielsweise die homosexuelle Identität in Zeiten von HIV und Aids „nicht einen Ausgangspunkt darstellt, sondern auf das Zusammentreffen von gleichen Lebenslagen zurückzuführen ist: in diesem Fall denen der Krankheit, der Schwulenfeindlichkeit und der Solidarität“. (15) ----------------------------------------------------------------------------- Um sich überhaupt als Individuum behaupten zu können, muss man sich zunächst einmal aus einem Dickicht von Vorurteilen herauswinden, was umso schwerer fällt, wenn man wenig Geld besitzt. Dieses Handicap sehen unsere Autoren aber nicht, oder sie spielen es konsequent herunter. „Dass heute jeder in London, Amsterdam, Barcelona, Bologna, Krakau, Prag oder Budapest leben und studieren kann, bedeutet eine außergewöhnliche intellektuelle Bereicherung, der gegenüber einem die exklusive Bindung an eine Minderheiten-Identität als armselige Verkümmerung vorkommt“, schreibt Bruckner in „Der Schuldkomplex“ – und vergisst glatt, dass diese Möglichkeit nun doch nicht jedem offen steht. ----------------------------------------------------------------------------- Das Handicap kann auch in mangelndem Selbstvertrauen bestehen, etwa wenn sich Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, von ihrem Partner davon überzeugen lassen, dass sie selbst schuld sind an dem, was ihnen widerfährt. Um etwas anderes als ein Opfer sein zu können, ist es für sie unabdingbar, zunächst einmal als Opfer anerkannt zu werden. (16) ----------------------------------------------------------------------------- Die naive Vorstellung, es gebe die gleichen Ausgangsbedingungen für alle, hält sich hartnäckig. Deswegen sehen unsere Autoren, sobald Frauen oder Minderheiten echte Gleichheit fordern oder die Umsetzung von Rechten, die für sie nur auf dem Papier bestehen, darin eine Form von Despotismus oder einen Anspruch auf ungerechtfertigte Bevorzugung: „Das Kollektiv schuldet mir alles, und ich schulde ihm nichts“, so lautet das Motto, wenn man Eliacheff und Soulez Larivière glauben will, die übrigens die in Spanien und andernorts verabschiedeten Gesetze zum Schutz von Frauen vor Gewalt als „Vorzugsbehandlung“ betrachten. ----------------------------------------------------------------------------- Die Dreistigkeit, mit der den Opfern entgegengehalten wird, sie sollten ihr Schicksal doch selbst in die Hand nehmen – „man muss doch nur seine Individualität entfalten“, „man muss sich doch nur auf den Weg anderswohin machen“, „man muss sich doch nur am Riemen reißen“, und, von Élisabeth Badinter an die Adresse der verprügelten Frauen gerichtet, „man muss doch nur die Koffer packen“ –, verrät eine gehörige Portion sozialer Arroganz. ----------------------------------------------------------------------------- Sie erinnert an die entsprechenden Empfehlungen, die man schon den Arbeitslosen angedeihen ließ: Die sozialen Kämpfe werden als „Viktimisierung“, als Opferdiskurs abgestempelt, so wie man die soziale Absicherung mittlerweile zur „Unterstützung“ umgetauft hat. Nicolas Sarkozy hat die beiden Begriffe gezielt gegeneinandergestellt, als er während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs die Leute attackierte, „die, statt alles dafür zu tun, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, lieber in den Nischen der Geschichte nach einer imaginären Schuld suchen, die Frankreich ihnen gegenüber haben könnte“. (17) ----------------------------------------------------------------------------- Es hat etwas von der Mentalität eines Knecht Ruprecht, der die Zuckertüte in der einen und die Rute in der anderen Hand hat. Frankreich lasse sich – und dies im Herzen Europas, das seinerseits durch „Unsicherheit und Verweichlichung“ gekennzeichnet sei – vom „süßen Schmerz des verwöhnten Kindes“, von der „faulen Verzweiflung“ (Bruckner) überwältigen; ganz im Gegensatz natürlich zum Stolz und der Siegermentalität Amerikas (hier spricht einer der wenigen französischen Anhänger des Einmarschs in den Irak). Gleich sind wir wieder bei der bekannten Leier über ein Land, das „Initiative und Leistung entmutigt“ und sich Reformen verweigert. Eliacheff und Soulez Larivière wiederum beklagen, dass das Projekt einer europäischen Verfassung aufs Spiel gesetzt wurde, und zwar durch wen? Nun, durch die „potenziellen Opfer des polnischen Klempners“. (18) ----------------------------------------------------------------------------- Angesichts der Herablassung, die sich hier offenbart, sollte man der Aneignung von Robert Hughes’ Argument, dass die Betonung der sexuellen oder ethnischen Diskriminierung zulasten der sozialen Frage gehe, wohl mit Vorsicht begegnen: Hughes hat zweifellos recht. Aber diejenigen, die seine Argumentation benutzen, interessieren sich deshalb nicht notwendigerweise für die soziale Frage. Pascal Bruckner entdeckt zwar in Hughes’ Beschreibung der amerikanischen Zustände einen Beweis dafür, dass „das politische Frankreich aus guten Gründen weiterhin in Kategorien der Klassen denkt“. Allerdings hindert ihn das nicht daran, in seinen Büchern gegen die Ultralinken zu wettern, die die „Reichen bestrafen“ möchten: Es sei doch „nichts Schockierendes dabei, wenn Stars oder Millionäre sich einen Teil ihrer Zeit den Armen widmen, was man auch als eine Art Dankbarkeit gegenüber einem wohlmeinenden Schicksal interpretieren könnte“. So viel zum Denken in „Kategorien der Klasse“. ----------------------------------------------------------------------------- Der Diskurs über die „Viktimisierung“ bietet nur eine weitere Gelegenheit, über die „Exzesse“ der Demokratie ins Grübeln zu geraten (wo kämen wir denn hin, wenn auf einmal alle mit am Tisch sitzen wollten?). Als würde man an einer entsetzlichen Verirrung festhalten, wenn einem der Egalitarismus in seiner glanzlosen Mittelmäßigkeit und in seinem, sagen wir es deutlich: versteckten Sowjetgeist lieber ist als die flammende Fackel der „Freiheit“. Rund ein Jahrzehnt, nachdem er damit begann, die Viktimisierung anzuprangern, geißelt Pascal Bruckner heute eine radikale Linke, „die den Kommunismus niemals aufgegeben hat“ und „deren wahre Passion nicht die Freiheit, sondern die Knechtschaft im Namen der Gerechtigkeit ist“. Überraschungen sehen anders aus. ----------------------------------------------------------------------------- Fußnoten:1 Guillaume Erner, „La société des victimes“, Paris (La Découverte) 2006. 2 Caroline Eliacheff und Daniel Soulez Larivière, „Le temps des victimes“, Paris (Albin Michel) 2007. 3 Vgl. Philippe Mangeot, „Petite histoire du politiquement correct“, Vacarme, Nr. 1, Winter 1997: www.vacarme.eu.org/article77.html. 4 Robert Hughes, „Political Correctness oder die Kunst, sich selbst das Denken zu verbieten“, München (Droemer Knaur) 1995. 5 Edward Said, „Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1994. 6 Pascal Bruckner, „Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne“, Berlin (Aufbau) 1997. 7 Vgl. Charles Johnson, „Andrea Dworkin ne croit pas que tout rapport hétéro est un viol“, Chiennesdegarde.org, 10. August 2006: www.chiennesdegarde.org/article.php3?id_article=450. 8 Élisabeth Badinter, „Die Wiederentdeckung der Gleichheit. Schwache Frauen, gefährliche Männer und andere feministische Irrtümer“, Berlin (Ullstein) 2004. 9 Éric Zemmour, „le premier sexe“, Paris (Denoël) 2006. 10 Frédéric Taddeï im Porträt, Libération, 16. Februar 2007. 11 L’Arche, Nr. 549/550, Paris 2003. 12 Pascal Bruckner, „Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa“ (Französisch: „La tyrannie de la pénitence“), München (Panthéon), angekündigt für Januar 2008. 13 Pascal Boniface, „Vers la Quatrième Guerre mondiale?“, Paris (Armand Colin) 2005. 14 Anfang 2007 löste Pascal Bruckner mit einer Polemik gegen Ian Buruma und Timothy Garton Ash eine internationale Multikulturalismusdebatte aus, die nachzulesen ist unter: www.perlentaucher.de/artikel/3642.html. 15 François Cusset, „La Décennie. Le grand cauchemar des années 80“, Paris (La Découverte) 2006. 16 Vgl. Mona Chollet, „Machisme sans frontière (de classe)“, Le Monde diplomatique, Mai 2005. 17 Vgl. Serge Halimi, „Les recettes idéologiques du président Sarkozy“, Le Monde diplomatique, Juni 2007. 18 Für die Befürworter des EU-Verfassungsvertrags hat die Figur des „polnischen Klempners“ entscheidend dazu beigetragen, dass der Vorschlag bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 abgelehnt wurde (laut Bolkestein-Richtlinie hätte „der polnische Klempner“ für den Lohn und zu den sozialen Bedingungen seines Herkunftslandes EU-weit beschäftigt werden können).

Whow!

Ihr Kommentar erweitert meinen Horizont! Nur sehr gelegentlich erscheinen mir Militär-sprachliche Analogien („Jargon der Armeeführungen“) angemessen: Sie eröffnen einen Multi-Fronten-Krieg! Wobei ich schon verstehe, dass es in den Auseinandersetzungen, die Sie reflektieren, wie soll ich sagen, um einen kohärenten Cluster-Fuck geht.

Zunächst bitte ich um Nachsicht, dass ich – mit dem Hinweis, mich eben NICHT auf die Ebene der sprachlichen und PC-Schaukämpfe begeben zu wollen –, die von Ihnen in diesem Kommentar gleichsam eingemeindete Gesamtdebatte nicht kenne; und, ohne falsche Arroganz: nicht kennen will. Ich sehe nach Ihrem Kommentar, dass Pfaller keineswegs ein gesellschaftliches Vakuum befüllt (vielleicht eine „Lücke“), sondern auf einer anhaltenden und facettenreichen Diskussion aufsetzt. OK – interessant, wer alles in dieser „Wörterschlacht bei Minderheiten“ bereits Stellung bezogen hat.

Jetzt aber folgendes: Ihr Überblick beeindruckt mich, wie er mich zugleich auch überfordert. Wenn ich über Gesellschaft (als globales Gesamtsubjekt) oder die Gesellschaft (also dann unsere) nachdenke, so interessiert mich vor allem die Zukunft. Ich sehe ein, sozusagen hilfsweise, dass die Gegenwart stattfindet, und dass ich sie nicht einfach als irrelevant ignorieren kann. Ich sehe aber auch, dass es mich in die falsche Richtung führt, wenn ich den zahllosen Debattensträngen, die Sie beobachten, zu folgen versuchte. Insofern „scanne“ ich den Diskurs, und greife gelegentlich hier hin und mal dorthin; und ebenso insofern wäre es nicht ganz falsch, wenn Sie in meiner Befassung mit Pfaller zufällige oder gar unfällige approximative Beiläufigkeit erkennen. Ihre Hinweise machen deutlich, dass ich einen Ausschnitt für das ganze Bild nahm, und das empfinde ich zunächst einmal als eine Bereicherung.

In einigen Aspekten allerdings verliere ich unter ihrer Schrot-artigen Feuerkraft auch im einzelnen Argument den Überblick und/oder auch die Stossrichtung.

Nicht jeden Satz, den Sie schreiben, durchdringe ich bis hinab zu seiner diskursiven Position und Bedeutung, ich verstehe aber und „registriere“ dies: Es gefällt ihnen nicht, wenn über der Denunziation der verspiesserten Selbst-Viktimisierung das real existierende Leid wegbehauptet wird. Sie bestehen darauf, dass jene, die leiden, nicht nur ein Recht zu klagen haben, sondern auch ein Anrecht auf Abhilfe.

Ich glaube nicht, dass ihre Kritik den Kern der Pfaller’schen Operation trifft: ihm geht es um das falsche Ritual, um einen kommunikativen Missbrauch – aber auch um eine politische Rückung, in der das Einzelne, der Spezialfall, vom Allgemeinen ablenkt (Sie zeigen, dass er damit nicht der erste ist). Ich meine, Pfaller hat Recht, wenn er die Sprache als den Austragungsort der Vor-Verteilung identifiziert und Sie hätten Recht, würden Sie darauf hinweisen, dass das seit Luther der Fall ist (und vermutlich seit Aristoteles). In jedem Fall manifestiert sich im Sprechen ein die Wirklichkeit legitimierender Akt – in dem sich die Sprache jeder Realitätsbehauptung prostituiert – und deswegen ist es richtig, über das Sprechen zu sprechen. Nur kann man sich allein darin verlaufen.

(Nur am Rande: Wann genau die Viktimisierung eingesetzt hat, ist historisch vermutlich noch ungeklärt. Im Krieg stand auf Selbstverletzung/-verstümmelung die Todesstrafe und „Die Krankheit zur Waffe machen“ ist der Titel einer Streitschrift des SPK (Sozialistischen PatientenKollektivs), die ~1970 im Trikont-Verlag erschien, kurz vor oder kurz nachdem das SPK zu einer terroristischen Vereinigung (im Umfeld der RAF) erklärt wurde.)

Gespeichert von Stefan am

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Ja doch, der Absatz ist ein Problem. Mein Rat: kopieren Sie mein Strichelchen (es hat exakt die richtige Länge), lassen Sie nach dem letzten und vor dem nächsten Wort jeweils ein "Space" und setzen es dazwischen, dann haben Sie das Problem elegant gelöst. ----------------------------------------------------------------------------- Und, ja, natürlich: Vorverurteilungen sind Phänomene, die nicht nur in der Sprache zum Ausdruck gelangen, sondern an ihrem Gängelbande vor allem erzeugt werden und sich dann einnisten, weils warm und gemütlich ist. ----------------------------------------------------------------------------- Auch missbillige ich die Pfallersche Polemik keineswegs. Nur kann er es eben nicht so gut wie Thomas Bernhard. ----------------------------------------------------------------------------- Warum schrammt Robert, der Bruder Leichtfuß, am Rande des AfD-Speaks (und -Thinks) entlang, während der böse Thomas erbarmungslos Maulschellen verteilte, ohne jemals in den Ruch des Inhumanen zu gelangen? ----------------------------------------------------------------------------- Sie sehen das alles sehr gut: die weinerliche Selbstgerechtigkeit des einen ist der Siamesische Zwilling des herrenreiterischen Auftrumpfens beim anderen. Und der arme Helmut Lethen durchleidet beides täglich in seiner Greisen Liebesbrust am Frühstücks- und am Abendbrotstisch: http://www.sueddeutsche.de/kultur/rechtspopulismus-politische-zerreissp… ----------------------------------------------------------------------------- Pfaller kommt einfach zu spät. State of the art in Sachen "Kommunikation" ist Donald Trump: http://www.zeit.de/2018/09/donald-trump-buecher-michael-wolff-david-cay… ----------------------------------------------------------------------------- Da können selbst Boris Johnson, Jonathan Meese, Silvio Berlusconi und Beppe Grillo einpacken (Und im Vergleich zu diesen Leuten waren Caligula, Cola di Rienzo und Idi Amin vernunftgläubige Intellektuelle!). ----------------------------------------------------------------------------- Meines Erachtens hat Dieter Schnaas in der WiWo vom 24. Februar 2018 wesentlich knapper und genauer als Pfaller beschrieben, wohin die Reise in Sachen "Gesprächskultur" geht: https://www.wiwo.de/technologie/digitale-welt/tauchsieder-das-gift-der-… ----------------------------------------------------------------------------- Nix "Homo Deus", wie Noah Harari meint. Aberglaube, fiktives Sprechen und kleine Gruppen von Wildbeutern in ihrem "Valley" (vor allem kulturell gesehen), wie auf den ersten hundert Seiten des Vorgängerbuches ("Eine kurze Geschichte der Menschheit") beschrieben, DAS, fürchte ich, ist die Zukunft.

Schnaas war in der Tat eine Überraschung (für mich) - grossen Dank für den Hinweis; ich hatte die WiWo vor Jahrzehnten zur Seite gelegt, und beim Wechsel zu MM offenbar nicht geduldig genug nachgeschaut, ob sich was getan hat.

Da ich von Harari nur Homo Deus kenne, kann ich Ihren Hinweis auf die Wildbeuter nur ahnend interpretieren: Denk-Seilschaften, die Themen/Positionen/Vorteile claimen (weiss aber mit dieser Interpretation nichts genaues anzufangen. Ich habe aus Homo Deus eine möglicherweise andere Sicht gewonnen: Es ist der quasi-"religiöse" Humanismus, der zum Untergang verurteilt ist; ich beschäftige mich u.a. auch damit, was das dann bedeutet.

AfD-Speak&Think. Auch ich sehe an der Stelle eine nur schlecht gestrichelte rote Linie. An anderer Stelle (es ging um Meinungsvielfalt in den Medien) habe ich dazu geschrieben, dass es zu einem gegebenen Thema nur eine begrenzte Zahl von Anschauungen geben kann (und Meinungsbesicherung eben nicht dadurch stattfindet, den gleichen Quark in x-fachen Redundanzen breitzutreten). Im Umkehrschluss bedeutet das aber eben auch, dass Gruppen zum Zwecke ihrer Profilierung Ausschnitte dieses Anschauungsbereiches claimen; was in der Regel nur dann sinnvoll und wirksam ist, wenn in diesen Abschnitten "Wahrheitsfragmente" (der Begriff Wahrheit als Metapher) eingebettet sind. Es kommt also, will ich damit sagen, immer wieder vor, dass in der kritischen Auseinandersetzung "falsche" Freunde beisammen stehen. ----------------------------------------------------------------------------- Dafür weiss ich keine Lösung. Oft genug war ich Zeuge derjenigen Gruppenmechanik, die ihre Mitglieder mit Berechnung, ja Erpressung, zum Konformismus nötigt. "Das darf man ja nicht laut sagen ..." Die Regression/Dekadenz beginnt, wenn der Konformismus die Gruppengrenzen überwindet und in die Gesellschaft hinaustritt, wenn also eine kritische Position unsagbar wird. ----------------------------------------------------------------------------- Ich denke, wir stimmen überein, dass Pfaller durch die Einbettung seiner Kritik in eine (wenn auch überkommene) linke Tradition deutlich macht, dass sein Denken nicht gleichsam kontaminiert ist. Und, das hatte ich schon gesagt, ich sehe eher in dem ältlichen Framing das Problem. Ich selbst bin auf der Suche nach einem Standpunkt, der der Auflösung und Unbrauchbarkeit des traditionellen links-rechts-Antagonimus gerecht wird.

Sie kennen ja das Münchhausen-Trilemma:

auf der Suche nach rationalen Fundamenten bzw. letzten Gründen, gerät (auch) die (soziologische) Vernunft (a) in einen infiniten Regress (das ist unser Problem, denn es hört niemand mehr zu), (b) verfängt sich in Zirkelschlüssen (das ist die Lösung der Dummheit) oder (c) behilft sich mit dezisionistischen Konstrukten (das ist die Stimme der Gewalt).

Das Grundsätzliche dieses Sachverhalts erläutert unübertroffen Thomas Nagel: "Der Blick von nirgendwo". Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992.

Näher dran an Ihrer Fragestellung ist Andreas Reckwitz in der vorletzten Zeit (Nr. 9/2018, 22. Februar 2018, Seite 43f.): http://www.zeit.de/2018/09/sozialdemokratie-deutschland-europa-mittelschicht-umbruch

Wichtig auch: http://www.zeit.de/2017/41/mittelschicht-kultur-individualisierung-andreas-reckwitz/komplettansicht

Reckwitz behauptet, bei der Suche "nach einem Standpunkt, der der Auflösung und Unbrauchbarkeit des traditionellen links-rechts-Antagonimus gerecht wird", in der richtigen Richtung unterwegs zu sein.

Ich halte das für eine Illusion, aber für eine instruktive. Der junge Viadrina-Professor traut sich was. Das Lob des produktiven Voranirrens stammt ja von Goethe: "Man geht nie weiter, als wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht."

Da Sie Reckwitzens "Die Gesellschaft der Singularitäten" ohnehin studieren wollten, empfehle ich Ihnen als Parallellektüre die (bisher) acht exzellenten Besprechungen hier: https://soziopolis.de/beobachten/kultur/artikel/reckwitz-buchforum-8-die-gesellschaft-der-singularitaeten/

Halten Sie sich unbedingt an die Chronologie und beginnen mit dem Kommentar von Wolfgang Knöbl (von unten nach oben in der rechten Spalte auf dieser Site durchnummeriert).

Gespeichert von Stefan am

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Mal ein konkretes Detail zum Thema:

Erst anschauen, dann weiterlesen:

VIDEO:

Slomka und Dorothee Bär: „Groß denken“

https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/videos/dorothee-baer-gross-denken-100.html

TEXT:

Digital First Lady

Die neue Staatsministerin für Digitalisierung überschlägt sich, spricht von Visionen – und fordert Tablets für alle Schulkinder. Hat sie gehört, wie es um das Lesen, Schreiben und Rechnen an deutschen Schulen steht?

Von Jürgen Kaube

Dorothee Bär (CSU), die neue Staatsministerin für Digitalisierung, überschlägt sich. Sie will in der Champions League Weltmeister werden. Deswegen ist sie gegen Klein-Klein-Szenarien, mit denen man keinen Blumentopf gewinnen kann. Ihre Aufgabe bestehe darin, Visionen aufzuzeigen. Beispielsweise ist es für sie eine wichtige Frage, ob man hierzulüfte bald die Möglichkeit hat, mit einem Flug-Taxi autonom „durch die Gegend zu können“. In Deutschland, fordert sie, müsse jemand, den man um drei Uhr früh aufwecke, als Erstes „Digitalisierung!“ sagen, weil das nämlich die Top-Geschichte, das Top-Thema Nummer eins und das Allerspannendste sei und nicht nur, wie bisher, das Zweitwichtigste.

Darum ist Bär gegen den bestehenden Datenschutz, der sei nämlich einer „wie im achtzehnten Jahrhundert“. Darum ist sie dafür, dass alle deutschen Schulkinder ein „Tablet“ bekommen. Schon weil die Schulbücher im Ranzen so schwer sind. Darum findet sie Programmieren im Unterricht genauso wichtig wie Lesen und Schreiben. Wie gut Bär programmieren kann, wissen wir nicht. Und wie erklärt sie sich, dass fast alles aus Plastik ist, aber fast niemand sich in Petrochemie auskennt? Was sie über das achtzehnte Jahrhundert weiß, bleibt offen. Visionen wie Kenntnisse können schließlich auf Hörensagen oder auf Lektüre beruhen und sind dann unterschiedlich interessant.

Ob Bär einmal – Rechnen ist auch eine wichtige Kulturtechnik – überschlagen hat, was die Komplettversorgung der 40.000 deutschen Schulen und 7,9 Millionen Schüler mit dem Elektroschrott von morgen (Abschreibungszeitraum fünf Jahre) kosten würde? Oder nachgelesen hat, dass dafür selbst bei aberwitzig gering angesetztem Wartungsaufwand ein Bedarf an 2,8 Milliarden Euro jährlich – ohne Berufsschulen! – ausgerechnet wurde? Also vierzehn Milliarden in fünf Jahren, nicht fünf, wie in ihrem Koalitionsvertrag? Ob sie ahnt, dass das Programmieren mit „Tablets“ schwer werden wird? Dass die Dinger, die den Ranzen leichter machen würden, eBooks heißen, aber leider ebenfalls empfindlicher und teurer sind als Bücher? Hat sie gehört oder gelesen, wie es um das Lesen (immer weniger ganze Texte), Schreiben (zuletzt gern nach Gehör) und Rechnen (Dividieren mancherorts erst ganz am Ende der Grundschule) an deutschen Schulen steht?

Man kann die Fragen leicht vermehren, die man der Digitalministerin und ihresgleichen gern stellen würde. Gleich früh um drei, wenn sie aus ihren Visionen oder dem genauso überflüssigen Albtraum aufgewacht ist, Deutschland verpasse den Anschluss woran auch immer, wenn es nicht dem Motto folgt „Digital First, Denken später“. Die Zukunft wird nicht unbedingt denen gehören, die am meisten die Backen aufblasen.

FAZ, 7. März 2018

URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/tablets-im-unterricht-digital-first-lady-15480853.html