Europas Interessen im Ukraine-Konflikt

Europe is The Battlefield

Mehr Initiative, wenn ich bitten darf

24-01-2022
 

Jeder weiss, dass man in Krisen wie dieser der Nachrichtenlage nur bedingt trauen kann: im politischen Poker um die Durchsetzung von Positionen und Interessen wird mit harten Bandagen informiert, und was ich im Photoshop hinkriege, das können die geheimen Dienste schon lange.

Schau mir in die Augen, Kleiner

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I. Die Lage ist ernst

Sigmar Gabriel will den Frieden mit Härte verteidigen, auch Frau Baerbock favorisiert das Zusammenspiel von „Dialog und Härte“. Zusammen mit ihrem Kollegen Antony Blinken demonstriert sie Geschlossenheit. „Gravierende Konsequenzen“ werden zu einer noch nicht detaillierten Drohkulisse in den Raum gestellt. Von Experten gestützt, diagnostiziert das Redaktionsnetzwerk Deutschland einen Cäsarenwahn bei Vladimir Putin, eine Ferndiagnose. Ein Vizeadmiral muss seinen Hut nehmen, weil er fahrlässig die Krim für verloren, und damit eine „abweichende Meinung“ erklärt hat (in den Kommentarspalten der ZEIT trägt ihm das beachtliche Wellen an Zustimmung ein). Das britische Aussenministerium verbreitet (sich über) einen von Moskau geplanten Staatsstreich in der Ukraine. Der Deutschlandfunk fragt, ob es einen neuen Krieg gibt, das ZDF legt noch eine Schippe drauf: „Droht durch die Ukraine-Krise ein Dritter Weltkrieg?“ Das Treffen in Genf, Lavrov und Blinken, sagt Florian Neuhann im ZDF, habe eine Atempause gebracht, aber keine Entwarnung. Im Nachgang dazu lassen die USA die Botschaftsfamilien aus der Ukraine ausfliegen. Man kommt mit dem Aktualisieren gar nicht mehr nach, jetzt werden NATO-Truppen verlegt … ob diese Überlegungen überhaupt der Dynamik standhalten (offenbar ist die Bundesregierung insgesamt weit weniger bestimmt als Frau Baerbock es aussehen liess ...)? In jedem Fall:

Soviel Gerassel und Geschepper war länger nicht. Die herrschende Qualitätsmeinung spielt empört, „Was erlauben Russland!“, doch wer in die Stellungnahmen hineinhorcht, hat möglicherweise auch dieses unbestimmte Gefühl, als würde uns all das nicht wirklich etwas angehen, frei nach Goethe: „Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen … “ Mir dagegen geht das unter die Haut, und zwar sowohl mit der Vorstellung eines möglichen Krieges, wie auch mit dem Blick auf die strategische, allgemeinpolitische Gemengelage. Tatsächlich ist Letztere in meinen Augen das Beunruhigendste.

Das fängt schon damit an, dass im Ukraine-Konflikt multiple Interessen und Konstellationen munter verquirlt werden – subtil, mit politischem Vorsatz, wie ich glaube.
Zunächst haben die Hauptkontrahenten, die USA und Russland aktuell eine je eigene, ziemlich gefährliche Binnenlage zu managen: die Spaltung des Landes, Gefahren für die Demokratie, die wirtschaftliche Lage und oppositionelles Aufbegehren. Corona als Pesthauch über allem. Bidens und Putins Zustimmungswerte sinken dramatisch – eine geradezu klassische Ausgangslage für den Versuch, auf internationalem Parkett für Ablenkung zu sorgen und damit im eigenen Land die Mäuler zu stopfen und die Reihen zu schliessen.

Die in der Substanz bilaterale Konstellation unterfüttern die USA gern mit den Obliegenschaften der NATO: einem Verteidigungsbündnis, wir erinnern uns, das die USA im Irak-Krieg schon mal hinter die Fichte führen wollten ("Excuse me, I'm not convinced.“ beschied Joschka Fischer dem Herrn Rumsfeld auf offener Bühne). Seit 1997 sind mit der sogenannten Osterweiterung in Summe 13 Staaten der NATO beigetreten, auf Einladung des Westens in freier Selbstbestimmung, und Georgien und die Ukraine streben das ebenfalls an.

Ich habe hier schon einmal recht ausführliche Überlegungen dazu angestellt; deren Tenor, in einem Satz: ob Putin ein Autokrat ist oder nicht, Russland hat, wie die USA, geo-strategische Interessen und wie die USA, die ganz Europa dazu missbrauchen, wünscht sich auch Putin eine Art Cordon sanitaire, in dem ihm die NATO nicht bis auf den elf-Meter-Punkt auf die Pelle rückt. Wir erinnern doch bitte auch die Frontstadt Berlin: Als sich der Grenzverlauf noch genau spiegelbildlich darstellte und der Warschauer Pakt die NATO bis ans Brandenburger Tor belästigte, erwuchs daraus ein Jahrzehnte währender Kalter Krieg! Das ist – heute wie damals – nicht im Interesse Europas und kann es nicht sein. Richtig, damit blubbern auch noch die bunt gewürfelten europäischen Interessen mit in der Suppe, vorneweg vor allem Energie-politische.

In dieser hochgefährlichen Situation verursachen mir die ersten Schritte der Frau Baerbock auf diplomatischem Parkett ein gewisses Stirnrunzeln: Was genau macht sie da – mit Blinken, Lavrov, Selenskyj? Gibt sie den transatlantischen Falken, irgendeine Mischung aus Madeleine Albright und Henry Kissinger? Über den – in der Entschiedenheit doch überraschenden – Schulterschluss mit dem US-Aussenminister musste ich eine Weile nachdenken. Was wohl sind ihre Motive, persönlich, politisch, strategisch?

II. Der Rookie

Gehörte sie ins Lager der CDU, der SPD oder der FDP, könnte man möglicherweise Loyalität in Betracht ziehen. Staatstragende Politiker lassen sich gern mit pro-atlantischen Parolen zitieren. Allerdings ist es mit der Loyalität immer so eine Sache, zweischneidig. Natürlich will man sich auf seine Leute verlassen können, sei es als Ratgeber, die offen ihre Meinung sagen, sei es als Kombattanten, die zu ihren Verpflichtungen stehen, oder als Freunde, die da sind, wenn es Not tut. Als Downside, so hab ich es in der Schule gelernt, droht stets der Kadavergehorsam, und seien es mildere Formen davon. Wenn Loyalität jedes kritische Urteil unterdrückt, ist das ähnlich Risiko-behaftet wie der Verrat. Also: wer steht zu wem? In Bündnissen, und dann erst recht in Konflikten, sind Fragen der Loyalität entscheidend. Beispiel Frankreich: nachdem die USA den lukrativen U-Boot-Vertrag mit Australien so Generalstabs-mässig hinter… hintertrieben haben, sollte man in der kurz- und mittelfristigen Perspektive auf eine etwa geforderte französische Loyalität keine Wetten abschliessen. Und eigentlich – also in Baerbocks politischer Heimat, den Grünen, ist auch eher ein solider, bestenfalls differenzierter Anti-Amerikanismus zuhause; war es lange. Mit Loyalität jedenfalls wäre dieser Schulterschluss nicht zu erklären. Gleichwohl sind die Motive der Handelnden für die Interpretation des Geschehens von einiger Bedeutung!

Die persönlichen, sozusagen privat-geschichtlichen Beweggründe von Frau Baerbock sind naturgemäss schwer zu ergründen. Im Schüleraustausch verbrachte sie ein Jahr in Orlando, Florida; im Interview klingt es nicht so, als habe sie dabei den Geist des amerikanischen Traums eingeatmet; immerhin, so eine Erfahrung prägt für's Leben. Politisch? … das ist jetzt eine von Demokraten geführte US-Regierung; aber bitte, es macht sich doch niemand falsche Vorstellungen von den Motiven irgendeiner US-Regierung? Amerika first gilt, ob es jetzt auf der Fahne steht oder nur in der hidden agenda. Immerhin … lässt sich Nordstream II – aus Sicht des grünen Klimaprogramms – ganz gut instrumentalisieren: Flösse kein Gas durch die Pipeline, und würde das demnach in der Energiebilanz fehlen, hülfe das womöglich, die angestrebten Massnahmen zur Energiewende zu beschleunigen. Die letzte Frage ist aber doch immer, ob das auch strategisch Sinn macht. Soo schnell werden die erneuerbaren Energien ihren Weg von den Wipfeln und Dächern herunter in die Stromleitungen nicht finden, nicht in der notwendigen Grössenordnung. Die Diskussion über einen neuen Ansatz bei Atomkraftwerken köchelt bereits auf mittlerer Flamme, die EU hat ein weitreichendes Greenwashing durchgesetzt. Wenn dann die Nacht dunkel ist und der Winter kalt, und einen Tod musst Du sterben, werden sich die entsprechenden Argumente schon finden … Persönlich, politisch und strategisch – die erste Durchsicht ergibt Anhaltspunkte mit Argumentationslücken.

Eine naheliegende These: Frau Baerbock musste beweisen, dass sie bei den Erwachsenen mitspielen kann. Um als Politiker:in unter ihres Gleichen etwas zu gelten, muss sie schon Blut an den Händen haben, oder wenigstens Kerben annähernd vergleichbarer Qualität. Das ist zwar zynisch, aber auch wahr; Konsequenz-lose Leerformeln oder irgendwelches Rumgeeiere wird niemand ernst nehmen, nicht Leute vom Kaliber Lavrov. Den ruhig-kühlen, vorbereiteten und konziliant-bissigen Ton haben Herr Lavrov, die internationale Politik und die Presse jetzt zur Kenntnis genommen, und das war nötig, damit Russland das Gesprächsangebot (Normandie Format) überhaupt in Erwägung zieht. Stimmt, darauf kann man nichts geben: Lavrov ist 71 und seit 20 Jahren im Dienst; viel abgebrühter als er kann man kaum sein. Um ein greifbares Ergebnis ging es aber auch gar nicht: dass Frau Baerbock nach der Pressekonferenz nicht, wie der Herr Borrell, im Hemdchen dasteht – das war die Frage: Noch steckt ihr Revolver im Halfter, aber Frau Baerbock hat deutlich gemacht, dass sie bereit ist, zu ziehen. Das war die Antwort.

Selbstbehauptung – damit kennen wir ihr vermutlich erstes, nämlich das persönliche Motiv. Auch für die sachgebundenen Fragen brauchen wir eine bessere Antwort: In der politischen Perspektive ist es schon mal lebensklug, nur das zu fordern, was man auch durchsetzen kann. Hier liegt, meine ich, denn auch der eigentliche Schlüssel für den transatlantischen Schulterschluss. Frau Baerbock hätte, statt in der Reihenfolge Washington, Kiew und Moskau zu besuchen, auch zunächst einmal die Runde in Europa machen können, um unter den – sagen wir „massgeblichen“ – europäischen Partnern eine eigene Position zu arrondieren. Sie war in Paris und Brüssel, ok, und sie hat auch mit Josep Borrell gesprochen. Doch das waren Antrittsbesuche, man tauscht die Telefonnummern, usw.. Zudem sind die zwei, drei Gesprächspartner noch nicht das ganze Europa und vor allem nicht genug für eine gemeinsame Aussenposition. Andererseits, bei allem grünen Idealismus: Frau Baerbock hat Europa gewogen und für zu leicht befunden. Die Sicherheits-politisch vorherrschende Meinung formulierte Bruno Kahl, Präsident des BND, einmal so:

  • „Es geht hier also um die Frage, welcher Faktor als Grundlage der Sicherheit unseres Kontinents bezeichnet werden kann. Die Antwort ist einfach: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellen die USA dieses Fundament dar.“

In ihrer neuen Rolle verfügt Frau Baerbock weder über Erfahrungen noch über ein Netzwerk, deswegen fühlt sie sich gut beraten, vorerst die Erwartungen „nur“ zu erfüllen und die herrschende Meinung zu vertreten. Das Normandie Format ist doch allenfalls ein diplomatisch nützliches Feigenblatt, keine europäische Initiative. (Und nebenbei: auch ein „Wasserstoff-Büro“ in Kiew ist mehr eine ABM als nennenswerte grüne Aussenpolitik.) 

Die tiefer eingebettete Nachricht vom Schulterschluss ist daher, dass die Grünen ihre Ambitionen und ihren Idealismus sozusagen erstmal im Dorf lassen, wenn es um die Aussenpolitik geht – und für die übrige Bundesregierung gilt das gleich sowieso. Hier soll dann, muss, leider, der Realismus obwalten, und der eben besagt, dass die USA und ihre NATO den Kurs der westlichen Politik vorgeben. Schliesslich zeugt es aber auch von politischer Klarsicht, wenn man nicht zu viele Fässer auf einmal aufmacht.

Damit könnte man also das politische Kalkül unter Pragmatismus, Demut und Selbsterkenntnis buchen: Erst holt sie sich ihr Briefing in Washington ab, und dann zeigt sie in Kiew und Moskau, dass sie sich dran hält. Darüber hinaus, ich spekuliere, wird auch Olaf Scholz ihr einen entsprechenden Kommentar mit auf den Weg gegeben haben.

Dieser zweite Blick auf die Motivlage ist insofern nachvollziehbar; but („You never geht a second chance, to make a first Impression.“) ich frage mich schon lange, ob das resultierende Handeln auch strategisch klug ist? Wie wollte sie auf dem so eingeschlagenen Camino transatlantico jemals in Richtung Europa abbiegen?

III. Empowerment

Ich hatte vor der Wahl behauptet (hier, ~Min 33), dass die Aussenpolitik zum zentralen Erfolgsfaktor dieser Regierung wird: Mir ging es seinerzeit vor allem um den Klimawandel, der auf nationaler Ebene kaum zu begrenzen ist; ich war und bin der Meinung, dass es dafür mehrere, wenigstens aber zwei Ministerien braucht. Jetzt zeigt sich, dass ein Ministerium auch dann zu wenig ist, wenn es international „nur“ um das business as usual geht. Um eine wirksame, irgendwie Einfluss formulierende und als Machtfaktor zu berücksichtigende Position zu behaupten, reicht die Reisetätigkeit nur einer Aussenministerin nicht aus; jetzt wäre der Moment für eine parallele, intensive europäische Kreiseldiplomatie. Warum?

Erstens: die bestehenden (!) und angedrohten Sanktionen (siehe hier und hier) schaden Russland – klar, aber gleich danach zu 92% Europa und zu 38% Deutschland (so steht es im Handelsblatt). Paraphrasiert: Es kosten die aus dem Schulterschluss mit den USA resultierenden Sanktionen russisches, europäisches und deutsches Geld. Das folgt den Mechanismen der traditionellen US-Aussenpolitik, etwaige Schäden möglichst outzusourcen (der einzige Europäer, der das verstanden hat, ist Emmanuel Macron; grad muss er für die Erkenntnis neuerlich bezahlen). Wenn aber Frau Baerbock gerade beschäftigt ist, die transatlantische Post auszutragen, kann sie nicht gleichzeitig eine europäische Strategie in Paris und Europa ausbaldowern, das kostet Zeit – und in der Krise ist Zeit noch knapper! Genau das aber wäre souveränes Handeln!

Gerade jetzt, wo innenpolitische Nöte in Russland und Amerika einen Hang zum militärischen Abenteuer begünstigen, müsste Europa zu allererst seine eigenen Interessen wahren, zumindest einmal formulieren. Ein Krieg in Europa jedenfalls gehört nicht dazu, auch dann nicht, wenn er sich auf Ost-Europa beschränken liesse (was die USA, um auch die NATO "abzuholen", im Übrigen zu verhindern wüssten).

Und da liegt denn auch die Schwäche in Baerbocks Ansatz: Wo, bitte, endet, was mit „grossen Kosten“ für Russland einhergehen würde? Wir wissen bereits erstens: Es endet in europäischen Energieproblemen und namhaften Handelsausfällen. Und was käme, zweitens, nach den „harten Sanktionen“? Säbelrasseln? Mit einer bedingt einsatzbereiten Bundeswehr? Mit einem Hühnerhaufen an europäischen Nationen, von denen im Ernstfall jede in eine andere Richtung laufen (wollen) würde? Mit einer Eskalation, die kaum unter der Atomschwelle zu halten wäre? Nicht nur hätte Deutschland in einer militärischen Auseinandersetzung bestenfalls den US-Generälen die Aktentaschen zu tragen, ganz Europa, Ostsee und Mittelmeer inklusive, würde zum Austragungsort einer Konfrontation zwischen Putin und Biden. Es gibt solche Spekulationen, und sie stammen nicht von dubiosen Verschwörungstheoretikern.

Europa kann sich einen Konflikt mit Russland gar nicht leisten. Deswegen ist Baerbocks Position kurzsichtig: „Dialog und Härte“ macht sie „nur“ zum Adlatus US-amerikanischer Interessen. Und das meint nicht, dass ihre Parole grundsätzlich in die falsche Richtung ginge, sondern dass sie derzeit unter falscher Flagge segelt. Umgekehrt sollten Deutschlands und Europas Ziele – und damit Baerbocks Agieren – mit Dialog und Härte auf eine neue geopolitische Ordnung ausgerichtet sein.
Und was soll das wohl sein?!
Das ist doch eine Leerstelle!

Zweitens: Eben, q.e.d.! Ein geopolitischer Relauch, eine grand strategy ist überfällig. Dabei ist die Frage nicht, wie es stets durch die deutsche Qualitätsmeinung geistert, ob eine solche Position „realistisch“ wäre. Politik ist zu allererst Kommunikation – und politischer Realismus entsteht in der Formulierung! Unrealistisch ist deswegen nicht die politische Option eines (militärisch) geeinten Europas, sie müsste „allerdings nur“ von mehr Stakeholder formuliert werden, als nur von Macron. Mit dem blossen Formulieren wäre sie auch noch nicht durchgesetzt, aber – erst wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Der unrealistische Part ist nicht die politische Zielsetzung, sondern ein durch und durch umsouveräner Umgang des politischen mit dem diskursiven Umfeld. Eine politische Position durchzusetzen heisst nämlich, sie gegen die transatlantischen Bedenkenträger, vor allem in der deutschen Öffentlichkeit, durchzusetzen. Es sind diese Bruderschaften des Staatsjournalismus – ob Springer oder FAZ, ob Holtzbrinck-, Ippen- oder Funke-Redaktionen, ob Madsack- oder WAZ-Mediengruppe –, die, wie in einer Freimaurer- oder Illuminaten-Verschwörung, allesamt das Hohe Lied der deutsch-amerikanischen Freundschaft singen.
Selbst gegen die eigenen Interessen.
Sie alle folgen der Doktrin vom nuklearen Schutzschirm und ignorieren oder verdrängen die einschlägigen US-Planungen, in denen Hattenbach, das Fulda-Gap und das "integrierte Schlachtfeld Osthessen" die Hauptrollen spiel(t?)en:

  • "Am 15. Juni 1981 sendet der amerikanische Fernsehsender Columbia Broadcasting System (CBS) den zweiten Teil der fünfteiligen Dokumentationsserie „The Defense of the United States“ unter dem Titel „The Nuclear Battlefield“. Der Sendebeitrag erläutert ausführlich den Einsatz des sogenannten Zebra Pakets, das im Falle eines Angriffs der Streitkräfte des Warschauer Pakts im „Fulda Gap“ den Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen festgelegte Zielpunkte vorsieht. Das in der Form eines „nuklearen Sperrfeuers“ geplante „Zebra Package“ soll innerhalb 90 Minuten insgesamt 114 Objekte im „Fulda Gap“ (darunter – flächendeckend – allein rund 50 Ziele im Dreieck Bad Hersfeld – Alsfeld – Fulda) und weitere 27 im Kinzigtal treffen"

1981; das ist aber lange her! Stimmt. Die Pläne sind längst überholt? Vielleicht. Inwieweit sich diese Planung nunmehr mit der Osterweiterung verschoben haben, konnte ich nicht herausfinden …, aber könnte das mein Argument – Europa als nuclear battlefield – tatsächlich schwächen? Und was in einem militärischen Konflikt geplant ist, und was dann tatsächlich geschieht, sind ohnehin zwei paar Schuh.

Das Europa ökonomische Interessen jenseits solch dramatischer Szenarien hat, habe ich bereits erwähnt. Mit einem Blick in den Diercke Schulatlas ist leicht zu erkennen, wo Europa liegt, wo Russland und wo die USA. Es bedarf schon einer massiven optischen Eintrübung, wollte man Europas geopolitische Interessen in den USA zu suchen (umgekehrt sieht das, wie gesagt, ganz anders aus). Derlei kollektive Eintrübungen sind historisch nichts Ungewöhnliches: früher war die Welt flach, die Sonne kreiste um die Erde, die vier Körpersäfte regelten ein Menschenleben, und die Kirche sorgte sich um ihre Kinder, besonders. Die bei der Befreiung vom Faschismus beteiligten Siegermächte bestehen aus den USA und sitzen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Punkt.

Jetzt räume ich ein, dass ich möglicherweise einen klassischen Fall von „alle anderen sind verrückt“ vortrage; halte nur dagegen, dass ich für die Logik des europäischen Interesses spreche und nicht gegen den Mainstream (der mir wurscht ist). Und so ganz und gar allein bin ich gar nicht: Der Historiker und Politologe Bernd Greiner etwa schreibt in seinem jüngsten Buch „Made in Washington“:

  • „Die USA sind ein rabiater Hegemon, der zur Durchsetzung seiner Interessen auf nichts und niemanden ausser sich selbst Rücksicht nimmt und dabei über Berge von Leichen geht.“

(Zitiert nach dlf.de; übrigens befand der Rezensent des Buches, er hätte dieser Formulierung am Ende des Buches wenig entgegenzusetzen). Auch Michael Brzoska konstatiert in der jüngsten Ausgabe der Blaetter die grundsätzliche pazifische Ausrichtung der US-Interessen – eine gut abgehangene Einsicht, immerhin reiste Richard Nixon 1972 nach China – und diskutiert die daraus folgende Notwendigkeit einer neuen „deutsch-europäischen Sicherheitspolitik“, und wer sich ein wenig umschaut, wird noch ein paar weitere Versprengte finden, die aus dem transatlantischen Konsens herausgefallen sind.

IV. Werte, Moral und die politische Logik

Natürlich fällt es schwer, Geopolitik mit Kalibern von der Sorte Putin oder Xi zu denken. Der Verdacht, dass die Russland- oder Chinaversteher sich schon beim Zuschauen die Hände schmutzig machen, ist ja kaum von der Hand zu weisen. Doch bei aller menschlichen und politischen Verachtung, zu der ich in der Lage bin, ich halte eine Werte-gebundene Aussenpolitik, und stünde sie „nur“ auf den Fundamenten der Menschenrechte, gleichwohl für falsch.

Das ist eine schwierige Position, sie speist sich aber aus zwei, in meinen Augen gewichtigen Argumenten. Zunächst habe ich aus dem Kolonialismus und der Eurozentrismus-Debatte doch mindestens diese eine Lehre gezogen: Wer bin ich, einem „fremden Kulturkreis“ meine Moral zu predigen? Schweinefleisch? Feminismus? Abtreibung? Das Second Amendment? Ich werbe für meine Werte, selbstverständlich! Aber in der Aussenpolitik ist das – in meinen Augen – übergriffig. Die Umkehrung macht das deutlich: Wie käme ich dazu, mir – sagen wir mal: vom Iran oder von Saudi-Arabien – die Scharia oktroyieren zu lassen?

Und das gilt auch, wenn ich damit Unrecht akzeptiere! Dann nämlich kommt mein zweites Argument zum Zuge: Wenn es etwas zu ändern, gar zu „revolutionieren“ gibt, dann muss das der fremde Kulturkreis schon mit sich selbst ausmachen. Frei nach Bert Brecht: „es kann die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein.“ All die fehlgeschlagenen state building-Versuche der Geschichte belegen das. Und es kommt ein weiterer, ausgreifender Punkt hinzu. Unserem Zeitalter ist überhaupt nur eine globale/lokale Politik angemessen; nationale „Aussenpolitik“, wie ich sie hier diskutiere, ist insofern ein staubiges Idiom von Gestern.

Aber: Wenn es denn so ist, wie es ist, und solange es so ist, ist und bleibt Aussenpolitik Interessenpolitik. Das ist die Leerstelle, das strategische Defizit in Europa. Statt unsere Interessen zu formulieren und zu sichern, lassen wir uns von moralischen Wadenwickeln für fremde Interessen einspannen.

Ich denke natürlich, das kann ja anders nicht sein, dass ich recht habe. Aber selbst wenn meine Vorstellung, grob zusammengefasst, von einem „europäischen Militärbündnis EUTO“ fehlerhaft, unrealistisch oder falsch, oder gar absurd wäre, so bleibt doch meine Klage darüber bestehen, dass die Diskussion dieser Frage/n in einem intellektuell bedauernswürdigen Format vor sich hin dümpelt.

Als wäre es bereits erschöpfend, Optionen einer Ablösung der transatlantischen zugunsten einer europäischen Ausrichtung auch nur entfernt anzudeuten oder überhaupt zu denken, sind die wenigen existenten Ansätze weitgehend frei von irgendwelchen Überlegungen, wie das zu bewerkstelligen wäre. Das ist umso erstaunlicher, als die USA seit Jahren darum betteln, Europa möge sich gefälligst mal auf eigene Füsse stellen. Jetzt sollte man tunlichst nicht der Naivität anheim fallen, die USA würden dankbar in die Hände klatschen, wenn es denn käme, wie sie es fordern; im Gegenteil würden sie Zeter und Mordio schreien und mit Sanktionen wedeln, wollte das Mündel sich aufschwingen, um Vormund zu sein. Insofern wir uns aber, wie es sich andeutet, einer neuerlichen Trump-Präsidentschaft entgegenstolpern, sollten längst alle Think Tanks der Republik an entsprechenden Szenarien arbeiten; sollten längst alle Spin-Doctors der Regierungsparteien über Land reisen und in den Chefredaktionen des Landes den absehbar notwendigen Meinungswandel einleiten; sollten längst europäische Gesprächsformate initiiert werden, den letztlich unausweichlichen europäischen Verbund zu sondieren (und sei es als Kern-Europa); und sollten längst die Agenden der immerhin laufenden Europa-Reform zumindest soweit voran getrieben werden, dass es zu Mehrheits-Entscheidungen kommen kann; und schliesslich sollten auch ein paar hundert Diplomaten nach London reisen, um auszuloten, wie dieser schreckliche Brexit aus der Historie gestrichen werden könnte.

HimmelHerrJe, etwas mehr Initiative!
Ist das denn zuviel verlangt?