"Never" buchstabiert E-s-k-a-l-a-t-i-o-n

Ken Follett schreibt "Never"

literarisch und inhaltlich mittel, aber überzeugend

 

Nicht zuletzt ob des unvorstellbaren Erfolges geht es mir wie jenen Bildzeitungslesern, die, wenn sie erwischt werden, versuchen, sich mit „soziologischen Erklärungen“ herauszureden – und dann irgendwas von „der Stimme des Volkes“ oder Ähnliches filusofieren. Ken Follett zu empfehlen geht nicht ohne Vorwarnung.
Aktuelle Ergänzungen, die zunächst hier als p.s. standen, habe ich in den Blog überführt.

Schau mir in die Augen, Kleiner

Average: 5 (1 Bewertung)

Wer über ein literarisch vorbelastetes Verantwortungsgefühl verfügt, wird sich schwer tun, Ken Follet zu empfehlen. Wikipedia will wissen, dass er mehr als 160 Mio Bücher verkauft hat – bereits das spricht nicht wirklich für sein Werk. Er arbeitet, heisst es dort auch, mit einem 20-köpfigen Team; mit dem einsamen Dichter in seiner Klause hat das nichts zu tun, eher mit Arbeitsteilung und Prozessen, vermutlich auch Meetings und Deadlines. Follett ist mehr ein Player in der Medienindustrie als ein gemeiner Schriftsteller. Ein Intellektueller, der auf sich hält, würde sich damit nicht befassen.

Lesen, so richtig mit Hand am Buch, könnte ich Ken Follet also nicht! Da stört schon das Gewicht, die Anspannung, so einen voluminösen Schmöker überhaupt offen zu halten … zu anstrengend, viel zu langwierig, aber vor allem zu platt. Die Profiltiefe der monochromen, erfahrungsaversen Charaktere, die eins ums andere Mal dem Bösewicht auf den gleichen Leim gehen, ginge mir schon nach nur wenigen der meist über eintausend und manchmal gar über 1300 Seiten auf den Keks. Als literarischer Autor hat Follet nichts, was mich reizen, und noch weniger, was mich bei der Stange halten würde.

Und wenn dann doch?

Storyteller

Das jedoch ist mit dem Zuhören ganz anders –  für die Hörbücher gibt es, meine ich, einen wirklich exzellenten UseCase. Ich kenne nicht alle, aber doch einige seiner Bücher, die Jahrhundertsaga, die Kingsbridge-Reihe – und das liegt vor allem daran, dass er in der Regel einen eingängigen, gut geeigneten Erzählteppich ausrollt, wenn es darum geht, andauernde, anstrengende oder langweilige Arbeiten durchzuführen: wie zum Beispiel tausend Kilometer Autobahn hinter sich zu lassen oder zwei, drei Klafter Holz zu spalten, diese Richtung. Musak nennt man das in der Musik, eine Kulisse, die nicht stört. Die Qualitäten dieses Autors liegen weder in seiner etwaigen sprachlichen Finesse noch in einer intellektuellen Sophistication; er ist ein anspruchsarmer Geschichtenerzähler; aber genau das ist der Vorteil.

Denn bei den meisten der angedeuteten Tätigkeiten - oder, sagen wir, während eines Dachausbaus – geht es darum, dass der ermüdende, langwierige Teil immer mal wieder von kurzen Phasen der Konzentration unterbrochen werden muss, um nicht etwa in die Stromleitung zu bohren oder um die richtige Reihenfolge bei repetitiven Tätigkeiten ein- und durchzuhalten. Für derlei Arbeiten bietet Ken Follett nicht nur eine echte Alternative zum unerträglichen Dudel- und Brabbelfunk. Denn die weiten Bögen seiner Geschichten, die sich über 30 oder gar 40 Stunden Erzählzeit spannen, tragen sozusagen voran und durch die Ermüdungserscheinungen, die die körperlichen Anstrengungen mit sich bringen; sogar mehr als das: ich kann sagen, dass Folletts Geschichten (andere natürlich auch), weil sie meinen Kopf ablenken, dabei helfen, die körperlichen oder geistigen Schwächephasen, die bei langwierigen Tätigkeiten unvermeidlich sind, zu überwinden. Und es schad’ auch nix, wenn man mal 5 Minuten nicht richtig zugehört hat.

Mir reicht das! Ich wüsste nicht wirklich zu rekapitulieren, was denn in „Die Säulen der Erde“ im einzelnen erzählt wurde und warum; da bleibt nur wenig hängen: ging es nicht um Gut und Böse und den Bau von Kathedralen … oder so? Ich habe bei diesen Geschichten null intellektuellen Anspruch.

Never

Die Einleitung hat natürlich einen aktuellen Anlass: das jüngste Werk des Autors, „Never“, hat mich über fast eine Woche bei einer weiteren handwerklichen Aufgabe begleitet. Die Eindrücke sind noch frisch: etwas ist hängen geblieben.

Und zu meiner eigenen Überraschung empfehle ich dieses Buch – mit Nachdruck. Ich habe bis hierher genügend Einschränkungen aufgelistet: auch hier ist das Personal sehr holzschnittartig angelegt, die Handlungsstränge sind vorhersehbar, die erzählerische Tiefenschärfe bleibt übersichtlich. Andererseits höre ich das Buch sozusagen als Parallelaktion zum aktuellen Ukraine-Konflikt – und das hat mich dann doch beeindruckt. Über den Verlauf der Erzählung will ich nicht mehr preisgeben, als es der Waschzettel auf Amazon auch tut: Da gibt es Terroristen in Afrika, die von Geheimdienstagenten ausgespäht werden; da gibt es einen wahnsinnigen Potentaten in Nord-Korea, der sich an der Macht halten will  (turns out: es gibt derer sogar zwei!); da gibt es eine Politiker-Kaste in China, die von ihren schimmeligen Ideologien nicht lassen kann und da gibt es eine gebeutelte US-Präsidentin, die alles richtig machen will. Sie bemüht sich redlich. Jeder kann sich an fünf Fingern ausrechnen, was bei diesen Gängen als Menue herauskommt.

Für dieses Buch spricht jedoch, dass es auf eine bedrückende Weise ausbuchstabiert, wie eine internationale Krise eskaliert, wenn einmal die Spirale in Gang gesetzt wurde. Wie scheinbar unzusammenhängende Ereignisse aber doch an nur wenigen Netzknoten zusammenkommen und bei dem dort agierenden „Aufsichtspersonal“ sozusagen kaskadierende Schaltprozesse auslösen. Wie das Politische privat wird und das Private politisch. Wie Menschen, aber vor allem Gruppen!, Entscheidungen fällen. Mit wohlgespitzten Lippen könnte man jetzt dem Gang der Handlung jede Menge kluge Einzelheiten in den Weg werfen, Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeiten befragen, Handlungsoptionen und Faktenchecks anbieten; für die entscheidende Message des Buches aber kommt es nicht auf die Differenzierung, historische Vergleiche oder saubere Recherche an – die ich dem Buch gar nicht pauschal abspreche, allenfalls in diesem Punkt oder jener Szene: diese (mich) beeindruckende Nachricht ist, dass an einer Eskalation nur eines berechenbar ist, nämlich, dass sie eskaliert. Denn auch das ist ein Plus der Erzählung: die Handlung ist hinreichend komplex ausgestaltet, dass es im benachbarten Realitätsvergleich im Einzelnen durchaus Einzelne geben kann, die alles daran setzen, die Eskalation nicht eskalieren zu lassen … es sind aber (international) so viele Motive, Verstrickungen und Kausalketten im Spiel – und vor allem so überzeugende einzelne Double Binds, dass Murphy‘s Law schier unvermeidbar wird.

Den kalten Kriegern ist ganz warm ums Herz

Man muss nur die bisweilen hirnverbrannte Kommentarlage zur Ukraine-Krise mit den im Buch vorgestellten Argumentationsketten vergleichen – Vertrauenskrise, Glaubwürdigkeitskrise, Angemessenheit, Propaganda, Fake und Vorwand … –, um die Evidenz der Erzählung zu erkennen.

Hier, in unserer Realität, sind die Schlafwandler (–> Christopher Clark) sozusagen in Bataillionsstärke unterwegs, die kollektiv meinen, alles über München 38 zu wissen. Die mit entsprechendem Brustton „Nie wieder!“ skandieren, ohne zu bemerken, dass die Ausgangslage in einer Konfrontation Russland-NATO substantiell verschieden ist von den geopolitischen Realitäten 1938. Eine Eskalation heute wäre nicht der dritte Weltkrieg, sondern die erste Weltauslöschung.

Gut – auch das könnte man positiv wenden: Viele der aktuellen Probleme, Klimakrise, Digitalisierung, Migration … wären vorerst beigelegt. Mir war ganz aschig zumute: es ist das Buch zur Krise.