Zunächst gingen Reperaturtrupps und Pflegedienste ans Werk. Wohl in Anerkennung ihrer Nützlichkeit und grosser Traditionen, wurden das Verständnis von „links“ wie „rechts“ ergänzt, adaptiert, reduziert oder geweitet, umgedeutet, ver- oder entschärft, implizit oder explizit. Darüber ist die Bestimmung dessen, was was ist, unklarer geworden, pastoser, verschwommener und Beliebigkeit, Entropie und Zielverluste sind in die Begriffe eingesickert. Richtig? Nicht ganz, denn: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und so spiegelt das Wortgemauschel letztendlich ein wachsendes Durcheinander der Sachverhalte. Links oder Rechts, als Platzhalter und Vektoren politischer Programmatik, wurden ihres Bedeutungskernes beraubt, als die damit konnotierten Handlungsräume, Adressaten und Zielvorstellungen von kulturellen, ökonomischen und insbesondere technologisch induzierten Entwicklungen gründlich verquirlt, ausgehöhlt oder gar vernichtet worden sind. Ein Versuch, die Koordinaten neu zu kalibrieren, um – dann – daraus handlungsführende Distinktionen abzuleiten, erscheint insofern dringend geboten. Wo beginnen?
„Die In-ter-na-tio-nale erkämpft das Menschenrecht!“
Ja, denkste. (Nicht nur) Die europäische Linke hat über die letzten einhundert Jahre die Vorstellung gepflegt, bestimmte Begriffe wären Repräsentanten (international) einheitlicher Vorstellungen. Dass die Kultur- und Sprachräume der Nationen sehr unterschiedliche sozio-demografische Strukturen aufweisen, dass nationale Diskurse und Traditionen (auch in Ab- oder Unabhängigkeit von imperialen Einflusssphären) weit auseinanderliegen, dass Gesellschaften als ganze auch nach ihren ökonomischen, klimatischen oder Infrastrukturbedingungen oder (in aller Regel als Folge davon) nach ihrer Position „auf dem Zeitstrahl zivilisatorischer Entwicklungen“ differierende Reife- und Aufklärungsgrade aufweisen und insofern von gleichen Begriffen einen sehr unterschiedlichen, und zuweilen gar widersprüchlichen Gebrauch machen – all das liegt doch auf der Hand. Und nur der Vollständigkeit halber: das ist auf der Rechten kaum anders.
Doch warum in die Ferne schweifen, … Noch in einem gegebenen Kulturraum gibt es Streitigkeiten. Gruppen, Institutionen, Parteien, die einen Begriff oder eine Definition reklamieren (resp. deren impliziten moralischen oder politischen Gehalt), wird die Legitimität, das zu tun, sogar von den eigenen Leuten abgesprochen – von der jeweiligen Opposition sowieso, bisweilen aber auch, wie wir das gegenwärtig bei den US-Republikanern oder der CSU erleben, von den eigenen Parteigängern. Was also „links“ ist, oder „rechts“, das ist demnach sowohl regional wie auch historisch und überdies auch in einer gegebenen Situation in Definition und Anwendung verschieden[qtip:(1)|Ein Beispiel: Als sich die deutsche Linke in den 80er Jahren in den Grünen wiederfand und damit in eine Phase technologischer Abstinez wechselte, war die Linke in Frankreich technizistisch-modernistisch eingestellt]. Oder ungenau besser gesagt: „Irgendwie“ scheint es klar, aber wie genau, ist im Einzelfall – nämlich wenn es gilt, es als Sachverhalt zu benennen oder abzugrenzen – eher ungewiss, flottierend (Baudrillard) und oft sehr verschieden.
Eine Annäherung:
Die politische Landschaft rührt aus der Sitzverteilung der ersten französischen Nationalversammlung von 1789: dort sassen links die Revolutionäre, allesamt Republikaner, derweil rechts, solang der Kopf noch auf den Schultern sass, das Establishment Platz nahm, Monarchisten, die Generalstände. Seither wurden „la gauche et la droit“ mit einem Kanon von Attributen in Verbindung gebracht, die das Verständnis bis heute eingrenzen.
- Dem linken Spektrum hinzu gesellen sich Begriffe wie „jung/strebend, progressiv, internationalistisch, egalitär; Solidarität, Emanzipation, Selbstverwirklichung, Menschenrechte, Toleranz und Änderung/Wechsel“. Nach älteren Auffassungen gehören in diesen Kanon allerdings auch ein starker, zentralistischer Staat sowie die (bisweilen auch repressive) Dominanz des Kollektivs über das Individuum. Und bevor uns Romantik aufkommt: Jakobiner, Stalinisten, die RAF (und Art-verwandte Gruppierungen) zahlten auf dieses Konto.
- Das rechte Spektrum dagegen verbinden wir mit „etabliert, konservativ, patriotisch bis nationalistisch, elitär; Ordnung, Wettbewerb, Hierarchie, Patriarchat, Heimat, Familie und Bestand/Besicherung“; oder, siehe Giddens, "Autorität, Loyalität und Tradition" als "die" drei Grundpfeiler. Und natürlich bilden sozialdarwinistische bis menschenverachtende Attribute und die Schlächter und Folterer des Faschismus (von den Freicorps bis zur Lagerverwaltung) den Rand dieses Definitionsraumes.
In der Zusammenfassung aber: Progressiv versus konservativ – so die wohl gängigste Unterscheidungen; was für sich schon, und zwar auf beiden Seiten, Etikettenschwindel war.
Konservativ war an der Rechten nur der durchaus auch gewalttätige Wunsch, die überkommenen Rollen und Besitzstände beizubehalten. Ansonsten brach die Rechte gern und ausgiebig mit jedem bewahrenswerten Gesellschaftsbestand, solange ihr Supremat und der damit verschränkte innere (z.B. katholische, patriarchalische …) Wertekern nicht angetastet wurde.
Der Fortschritt der Linken demgegenüber bestand zunächst einmal darin, das Establishment, die Platzhirsche, die Besitzende Klasse aus eben jenen Sesseln zu schubsen; oft ein Generationen-, zuweilen auch ein Bildungskonflikt. Das Ziel dieses Fort-Schreitens vom Bestehenden lag in der Umverteilung, sei es der Macht, sei es dessen, was mit ihr zu bewegen war. Historisch erschien das legitim: Waren dunkle Zeiten und was damals Arbeit hiess, würden wir heute zwischen Folter und Sklaverei ansiedeln. Ich sag nur: Dieser Fortschritt hatte zwei Gesichter, und nicht selten legitimierte das, was mit der Fahne der Befreiung daherkam, lediglich einen unfriendly take over, die Übernahme von Macht.
Der aus heutiger Sicht wichtigste Bedeutungsraum jedoch verbindet den „Fortschritt“ mit der Entwicklung von Technologie, ein wiederkehrender, gleichsam „archimedischer“ Hebel: mit Technologie liessen sich ganze Gesellschaften aus den Angeln heben. Und keineswegs alle Stakeholder waren davon erfreut! Was Marx und Engels für gut befanden UND als humanistische Chance anerkannten, die den Menschen aus der Fron erlösen sollte, wurde den davon „Abgehängten“ – als solche eigentlich Subjekte der linken Fürsorge und damit die engere Zielgruppe – zum Verlust ihrer Perspektiven. Die Maschinenstürmer, die Weberaufstände, sie liefen Sturm gegen den Strukturwandel: die Maschinen nahmen ihnen das elende Leben (daheim, in der Heimat), nur um sie, wenn nicht in den Hungertod, in ein noch elenderes, würdelos fremdbestimmtes Leben (in der Fabrik, in der Stadt, in Amerika ...) zu zwingen. Analogien zu heutigen Verhältnissen wären kein Zufall.
Die Linke hat die technologische Frage gern teleologisch beschieden: „Wer hat wen? Hast Du die Technik oder hat die Technik Dich?“; und leitete daraus ihren Anspruch auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ab. Für die Rechte dagegen war Technik von jeher kein (oder kaum ein) politisches Thema – ... nur ökonomisches Mittel: machen, nicht lang schnacken. Solange es „ihre“ Technik, „ihre“ Maschinen waren (eine Folge der Kapitalintensität), trugen diese zur Mehrung des (in aller Regel rechten) Reichtums bei; mehr gab es dazu nicht zu bedenken.[qtip:(2)|Analog den zwei Seiten jeder technischen Anwendung zeigt sich auch jede Technologie ihrem politischen Wesen nach indifferent - und ist damit instrumentalisierbar. Ihre Ambivalenz und Doppelzüngigkeit lässt sich an Marinetti und seinem Krach-, Tempo- und Maschinen-verliebten Futurismus recht anschaulich demonstrieren: zunächst mit allen Attributen linken Politikverständnisses aufgetreten (gegen Monarchie und Kirche, für die Vergesellschaftung von Gossgrundbesitz und -vermögen, für Emanzipation, Pressefreiheit …) war Marinetti der italienischen KP (unter Gramsci) ebenso willkommen wie dem italienischen Faschismus (unter Mussolini, wo er nach einigem Lavieren schliesslich auch verblieb).]
Schon historisch ging es drunter und drüber
Inzwischen haben sich viele tradierte Verhältnisse verkehrt. Vom Fortschrittglauben der Linken blieb mit den Grünen wenig bis nichts mehr übrig. Mit der Atomkraft, mit dem Waldsterben und der Umweltverschmutzung, mit dem Klimawandel schliesslich befand sie die Technik „als solche“ von übel. Seither kokettiert es sich schick, davon „nix zu verstonn“[qtip:(3)|„Ich jonn su unwahrscheinlich jähn met dir en der Waschsalon, weil, do häss Ahnung vun dä Technik, vun der ich nix verstonn.“ Zeile aus einem Song von Wolfgang Niedecken, BAP, 1981; Gründung Grüne: 1980 – über die „repräsentativen“ Bande zwischen BAP und der Linken lesen wir hier - http://www.zeit.de/2011/18/KS-BAP/seite-2.] – und so kam es auch, dass aus jenen, denen die intellektuell hochnäsige Abstinenz nicht unmittelbar einleuchten wollte, Geeks, Nerds und Freaks werden konnten, die damit auch ihre angestammte politische Heimat verloren.
Die ehemals ideologisch und pathetisch überhöhte Technik wurde von der Linken nun zunehmend ignoriert. Nicht zuletzt aus mangelndem Verständnis, hatte doch die Linke überwiegend bis ausschliesslich geisteswissenschaftliche Qualifikationen erworben, grossenteils aber auch aus einer Art kultur-politischen Desinteresses, das in dem Masse wuchs, wie sich Technik, jetzt nämlich als Technologie, vom Mittel (Dampfmaschine) gleichsam „zum autonomen Objekt“ (Fliessband), wenn nicht gar zum Subjekt (Computer) „aufschwang“ – und damit auch den Händen der Zielgruppe, der Arbeiterklasse, entglitt[qtip:(4)|Dass es sich bei dieser „Zielgruppe“ um ein grob geträumtes Missverständnis handelte, steht auf einem anderen Blatt!] .
Der Fortschritt (I.) als solcher zählt damit wohl zu den markantesten Verlusten der Linken; dem Wesen nach desertiert der herrenlos gewordene Begriff nach seinem Relaunch als „Innovation“ in die verschiedenen „liberalen“ Lager und kaperte unterwegs auch den zugehörigen Revolutionsbegriff (II.). Schon im Verlauf dieses Prozesses wurde die herkömmliche „links-rechts“-Dichotomie brüchig, wackelig, inkonsistent.
Doch wie gesagt: Das Sein überstimmt das Bewusstsein. Mit dem Verlust einhergehend regredierte auch der politische Horizont der Linken. In Whyl, im Wendland, im Vogelsberg, und schliesslich auch in der Uckermark überwucherte Heimat (Edgar Reitz hatte das –vielleicht – anders gemeint) den linken Internationalismus (III.), der nun als „Globalisierung“ sich ebenfalls in’s „andere“ Lager schlug.
Und noch ein letzter Verlust spielt eine nicht unerhebliche Rolle bei der Umgestaltung der politischen Begriffe: der Verlust der Jugend (IV.), wie wir sehen werden, sogar in einem doppelten Sinn. Wenngleich mental, musikalisch und charakterlich auf eine ewig andauernde Jugendlichkeit programmiert[qtip:(5)|was, weniger polemisch gesprochen, auch die sich sprunghaft verlängernde Lebenserwartung reflektiert …], wurden auch die Babyboomer älter, padauz! – wenigstens betraf dieses „historisch einmalige“ Phänomen alle politischen Lager und zwar dramatisch[qtip:(6)|Das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder liegt bei CDU/SPD/CSU/Linken (sic!) zwischen 59 und 60 Jahren, bei der FDP bei 54 und bei den Grünen bei 50 Jahren (Quellen: Statista, bpb). Zum Vergleich: bei Accenture, mit knapp 400.000 Mitarbeitern eine der weltweit grössten Unternehmensberatungen, liegt das Durchschnittsalter bei 27 Jahren]. Die presenile Alterstruktur der deutschen Parteienlandschaft hat zwei sozio-politisch relevante Erscheinungsformen:
- Einerseits repräsentieren die politischen Parteien mehrheitlich bis überwiegend die älteren 30 - 35 Mio Bundesbürger (in den Alterskohorten 45-80 Jahre). Für die Feststellung, dass diese Überalterung sich in der Dynamik und Programmatik niederschlägt, braucht es vermutlich nur wenig Argumente: Bekanntlich wächst mit dem Alter das Bestandssicherungsdenken; sicher aber ist: die „wilden Jahre“ bewohnen jenseits der 50 in aller Regel das Fotoalbum.
- Andererseits: Lässt man Kinder (die ihre Interessen nicht vertreten können) aussen vor, so sind 25 - 30 Mio jüngere Bundesbürger (in den Alterskohorten 15-45 Jahre) nicht, kaum oder zumindest stark unterrepräsentiert[qtip:(7)|Die Statistiken machen nebenbei auch pausibel, warum die politische Umpositionerung der CDU alternativlos war und keine versponnene Grille der Kanzlerin: sie war Ergebnis einer demografisch-soziologischen Analyse. Die grosse Koalition ist schlicht die angemessene Vertretung der Babyboomer; je älter sie werden, desto näher rücken ihre vitalen Interessen zusammen. In dem die von SPD/Linken und CDU/CSU zu vertretenden Kohorten nahezu identisch sind, vermittelt sich auch das programmatische Spektrum. Und was, und sei es aus Trotz, von den „alten“ und nicht vom Leben gleichsam „zur Mitte erodierten“ politischen Dispositionen übrig ist, so sind dafür die Linke und, je nach regionaler Verfügbarkeit, die CSU/AfD zuständig]. Und so kam den Babyboomern die Jugend abhanden, die eigene UND die nachwachsende, zu denen ihnen nicht zuletzt, in Ermangelung eigener Bindungen, der persönliche Bezug fehlte.
Von den vormals zentralen politischen Attributen sind der Linken allenfalls noch ein paar wohlmeinende, bauchlastige, wachsweiche, bisweilen exotische und auch dumme Allgemeinplätze übrig geblieben (voran die political correctness, dicht gefolgt von Gendertoiletten und Gelbbauchunken). Und so erweisen sich die Vertreter des linken Lagers heute, von den Linken über die Sozialdemokraten bis hin zu den Grünen, als die „eigentlichen“ Konservativen. Die ehemals linken Attribute jedoch, der Fortschritt, die Revolution, der Internationalismus und die Jugend, sind in das Lager einer (ausserparteilichen, ausserparlamentarischen) liberalen, technologisch-dynamischen rechten Mitte konvertiert.
Technologie und ÖkonomieDas ist noch nicht alles. Dass von den linken, progressiven und rechten, konservativen Katechsimen nur noch Pappwände stehen, hat natürlich (auch) ökonomische Gründe. Die Grafik zeigt die Entwicklung des BIP seit 1950.