Der Abwärtsstrudel, in dem sich die SPD befindet, ist, wie das seit Einstein immer so ist, mit den bisher bekannten und angewandten (personellen und programmatischen) Mitteln, nicht still zu stellen – schon gar nicht umzudrehen. Die Partei wankt ihrer Bedeutungslosigkeit, vielleicht sogar ihrem Untergang entgegen. Irgendetwas wie Schadenfreude liegt in der Luft.
Wer braucht die SPD?
Wer fällt, der soll gestossen sein!
Warum nicht gleich beerdigen?
Die Rolle der SPD
Treibender Faktor dieses Untergangs ist nicht oder weniger die parteiliche Arbeit. Zu einem gewissen Teil ist es das eigene Marketing, vor allem aber „die öffentliche Meinung“, die aus dem besteht, was tagtäglich in den tradtionellen und in den sozialen Medien verhandelt wird. Was dort geschieht und für das die SPD lediglich ein willkommener oder zumindest billigend in Kauf genommener Anlass ist, erfordert eine gesonderte Betrachtung.
Exkurs: Öffentlichkeit
Wer fällt, der soll gestossen werden; das ist eine alte journalistische Parole – im Bild-Jargon ist bei der Gelegenheit vom Fahrstuhl die Rede. Die Haltung kennzeichnet eigentlich eher den Boulevard, doch haben sich vergleichbare Haltungen in die qualitative Mitte, in den Mainstream ausgebreitet. Ich habe schon öfter beklagt, dass der Herdentrieb des (deutschen) Journalismus, ein fehlgeleitetes, überhöhtes Selbstverständnis und die zunehmende Mittelmässigkeit der als Durchschnitt zu Tage tretenden intellektuellen Befähigung im Umfeld der traditionellen Medien wesentlich zu dem Befund beitragen.
Soweit ich es in meiner Lebenszeit beobachtet habe und erinnern kann, gab es den journalistischen Sau-durch’s-Dorf-Mainstream „immer schon“ – allerdings war dessen Schadpotential eingehegt von der Zugkraft und der Reichweite von „Grossdenkern“, die sozusagen von oben, ja, nicht selten vom Olymp herab, das geistige Klima der Republik prägten. Ein paar davon fallen den meisten politisch Interessierten sofort ein, beispielhaft und unvollständig nenne ich Hans Magnus Enzensberger, Hannah Arendt, Jürgen Habermas, Hans Maier, Kurt Sontheimer, Ralf Dahrendorf, Marion Gräfin Dönhoff, Karl-Heinz Bohrer oder (wenn auch nicht in seinem Schreiben, so doch in seinem Wirken) Frank Schirrmacher. Einen grossen und ebenfalls in diesem Sinne disziplinierenden Einfluss auf den öffentlichen Raum hatten darüber hinaus zahlreiche internationale Leuchttürme wie Susan Sonntag, „die Franzosen“ (von Sartre und Simone de Beauvoir über Glucksmann und Bernard Henri Levy bis zu Baudrillard, Foucault und Deleuze/Guattari), Richard Sennet, Anthony Giddens, György Konrád, … usw., die Namen sollen lediglich die Evidenz des Argumentes belegen, wonach der öffentliche Raum vormals von Intellektuellen geprägt wurde. Ich will mich nicht auf ein Jahr festlegen, aber so etwa bis zum Ende des alten Jahrtausends funktionierte Öffentlichkeit als eine Art Glockgeläut der grossen Denkkirchen einerseits, die angaben, was die Stunde geschlagen hatte, und dem hechelnden Versuch aller anderen, das alles zu hören und den so geöffneten Raum zu verstehen.
Das ist jetzt anders. Auch heute gibt es eine nenneswerte Zahl von Leuchttürmen (und um der falschen Diskussion auszuweichen, nenne ich hier keine). Nur arbeitet sich der Mainstream nicht mehr an ihnen ab; das Publikum schon gleich gar nicht. Sie sind da, gelegentlich gelingt ihnen mit einem Bestseller auch Reichweite bis ins Regal, doch mangelt es ihnen an Einfluss und Durchsetzungskraft. Sie prägen den Diskurs nicht, seien wir optimistisch: kaum – Rezo hat 15 Millionen Klicks! Das nun (nur) auf die sozialen Medien zurückzuführen, ist naheliegend und weitgehend richtig, es braucht aber doch auch noch den Hinweis, dass der journalistische Mainstream eben überwiegend AUCH auf dem Niveau des Gebrabbels stattfindet.
Im Kern beobachten wir im öffentlichen Raum eine Zerrüttung der Urteilsschärfe, der argumentativen Durchdringung, der Dialektik. Dumpfe Personalisierung, Identitäts-Gehube, politisch korrekte Rituale und vor allem Copy/Paste schaffen ein Umfeld, in dem platte Parolen sich die jüngsten Wahrheiten vom Tage ausgeben.
Darunter, Ende Exkurs, leidet die SPD.
Sie leidet besonders, weil die SPD eine höchst widersprüchliche Gemengelage repräsentiert, und ... uneindeutige Sachverhalte sauber zu zergliedern ist … anstrengend; Personaldebatten dagegen werden gern geführt, gern auch mit dem so süffisanten wie bigotten Hinweis, dass die SPD offenbar aus den Personaldebatten nicht heraus käme. Nur der Vollständigkeit halber: Darunter leiden alle anderen Parteien auch. Während die SPD im Fahrstuhl nach unten .. fällt, erreichen die Grünen mittlerweile das 27. Stockwerk. Ich will nur mal zum Beispiel sagen, dass die positive Wahrnehmung der Grünen AUCH der fehlenden Kritikfähigkeit des Mainstreams geschuldet ist (die Ressentiments und Platitüden eines Tichy fallen in meinen Augen nicht unter „kritische Auseinandersetzung“ …). Aber es geht jetzt und hier um die SPD.
Dabei ist die Figur der „Personaldebatte“ für sich bereits Ausweis mangelhafter Durchdringung oder einer intellektuellen Unredlichkeit, denn NATÜRLICH verbinden sich politische Positionen und Sachverhalte mit eben jenen, die versuchen, sie durchzusetzen. Ja, was denn sonst? Unredlich daran ist, nicht die Sachverhalten und Positionen zu diskutieren, sondern die Personen und ihre Ämter. Unredlich und anmassend ist es darüber hinaus, in der Diskussion über Personen sogar Rücktrittsforderungen zu propagieren, wie in der Sendung „Was nun, Herr Seehofer“ nach der Bayernwahl durch Frau Schausten und Herrn Frey geschehen. Als wären sie, die Journalisten, die berufenen Inquisitoren UND Vollstrecker des Wählerwillens. Aber gut, es geht ja um die SPD.
Deswegen nehmen wir uns einmal den Rücktritt der Frau Nahles vor: sogleich werden frauenfeindliche Motive in den Vordergrund geschoben (beispielhaft nur hier der Verweis auf den Herrn von Altenbockum); oder es wird der krude persönliche Stil beklagt usw.. Eine Analyse dessen, was Frau Nahles versucht hat, woran sie gescheitert ist, welche Fehler genau sie gemacht hat, welche Defizite ihr Wirken aufwies: Fehlanzeige. Ihre unbedachte Zustimmung zu Seehofers Maaßen-Manövern ist alles, was den Kommentatoren einfällt, weil: Personaldebatte – das ist einfach. Dass die SPD mit ihren Sozialstaatsprogrammen strukturell und kommunikativ auf einem stillgelegten Güterbahnhof rangiert, dass die Herzen ihrer Klientel längst in einem anderen Rhytmus pulsieren: diese sozi-odemographischen und kulturellen Blindstellen der Partei zu analysieren: Fehlanzeige. Die Auseinandersetzung mit einem zukunftsfähigen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell: Fehlanzeige. Und eine kritische Diskussion des Double-Bind von Industriepolitik und Klimapolitik findet günstigstenfalls in Fussnoten statt.
Es mag schon sein, dass auch „frauenfeindliche Ressentiments“ in den Umgang mit Frau Nahles hereingespielt haben, mit Hinweis auf die subtile Paradoxie könnte man sogar mutmassen, ob nicht sogar ihre Wahl zur Partei- und Fraktionschefin eine frauenfeindliche Volte war – etwa in dem Sinne: „Sie wird es nicht lang machen!“, und dann wäre diese unselige Frauenfrage erstmal vom Tapet. Ich bin zu weit weg, um den Wahrscheinlichkeitsgehalt solcher Spekulationen zu bewerten, worin ich aber einigermassen sicher bin ist, dass Frau Nahles nicht geleistet hat, was notwendig war. Und, was schlimmer ist, das war absehbar. Davon hören und sehen wir nichts, wenig.
In der Debatte nebenan steht Herr Kühnert, der inzwischen sogar zum Königinnen-Mörder stilisiert wird (was ein Unfug: er redet grad so wie Frau Nahles selbst zu Zeiten, als sie die Jusos geführt hat). Im Mittelpunkt steht hier ein Interview mit der Zeit zu Kühnerts Vorstellungen von einem radikalen Wandel: Kaum nimmt er das Wort „Vergemeinschaftung der Gewinne“ in den Mund (die CDU-geführte Bundesregierung ist bei der Commerzbank umstandslos einen Schritt weiter gegangen), kommen die Kalten Krieger aus ihren Löchern und schwingen die Kommunismus-Keule. Allerdings ist auch das Interview selbst ein gutes Beispiel für die intellektuelle Beschränkung des herrschenden Journalismus: Jochen Bittner und Tina Hildebrandt sind mehr daran interessiert, Herrn Kühnert vorzuführen oder in Widersprüche zu verwickeln, als dass ihnen an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den von Kühnert vorgetragenen Positionen liegt. Es ist ein Nebenschauplatz dieses Dramas, dass diese Form der rituellen Befragung als „kritischer Journalismus“ klassifiziert wird. Tatsächlich ist sie denkfaul und am politischen Gegenstand, der Verfassung oder Gestaltung des Landes, gänzlich desinteressiert.
Eine inhaltliche Position müsste sich nämlich mit den Voraussetzungen, Grundlagen und Rationalitäten von Kühnerts Vorstellungen befassen: so vielleicht mit der Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit die vom ihm favorisierte demokratisch entschiedene Umverteilung gesamt-gesellschaftlich wünschenswerte Ergebnisse hervorbringen würde (derzeit tendiert die demokratische Willensbildung zum Brexit und zu Michael Farage, zur PiS und zu Viktor Orban, zu Salvini, LePen, Trump … oder und damit das seine Kreise zieht, wenn wir ein anderes Thema betrachten – Windenergietrassen –, zum St. Florian-Prinzip). Und dabei geht es auch, aber nicht allein um die populäre Kurzsichtigkeit im Angesicht von unmittelbaren Vorteilversprechen oder Nachteilsdrohungen. Yuval Noah Harari zitiert Richard Dawking, der die Überzeugung vertreten hat, er selbst, Dawking, verfüge für eine Entscheidung wie den Brexit nicht – wie fast alle übrigen Briten auch nicht – über die nötige Sachkompetenz. Unberücksichtigt dabei darüber hinaus die Sprunghaftigkeit von Gruppenüberzeugungen … Diskutieren könnte man auch, wenn Herr Kühnert sich gegen das chinesische Modell wendet, weil ihm an den „individuellen Freiheiten“ gelegen ist. Dass es aber eben genau die Summe dieser Freiheiten ist, die den Globus in die Bedrouille bringen, diese unangenehme kleine Einsicht steht ihm offenbar nicht zur Verfügung – und der Mitte des deutschen Journalismus auch nicht.
Es gäbe tatsächlich viel zu diskutieren, darunter die Frage, ob Frau Nahles und Herr Kühnert über die politische Reife und intellektuelle Schärfe verfügen, die ihre politischen Positionen ihnen abfordern. Ein Bätschi in die Fresse, da hab ich meine Zweifel.
Historische Verdienste und politische Heimat
Um die Bedeutung der SPD für die bundesdeutsche Politik zu umreissen, ist es mit einer kritischen Würdigung von Andrea Nahles oder Kevin Kühnert nicht getan. Die SPD ist mehr –, historisch zunächst, und diese Historie hat ein ziemliches Gewicht –, aber auch als Repräsentation von rund 10 Millionen, unter günstigen Umständen vielleicht sogar 15 Millionen Wählerstimmen. In ihrer inhaltlichen Spreizung und mehr noch in ihren Lücken repräsentieren Sozialdemokraten einen bedeutenden Teil der herrschenden Probleme: sozusagen ein ebenso überzeugtes wie verkapptes Wollen, das nicht wirklich genau weiss, was und noch weniger, wie.
Hier liegt das eigentliche Problem der SPD, hier liegt aber auch das eigentliche Problem der Gesellschaft. Dass westliche Gesellschaften vor einem radikalen Wandel stehen, diese Erkenntnis – wenn auch nicht bis ins Detail ausformuliert – hat sich mittlerweile durchgesetzt. Wie aber die Gesellschaft zu organisieren sei, und wie der Wandel schmerzarm vonstatten gehen soll, davon fehlen die allermeisten Vorstellungen. Oder?
Parlamentarische Hürdenträger
Schauen wir in die parlamentarische Runde und fragen, ob denn irgendwo glaubwürdige Konzepte existieren? Für eine erfolgversprechende und angemessene Behandlung dieser Probleme stellen die Grünen, immerhin, ein schmales Angebot. Schmal – weil es in der Breite der Partei kein der Breite der Probleme angemessenes Personal gibt und weil auch das inhaltliche Angebot nicht die Funktionsanforderungen der Gesellschaft abbildet. Die Grünen sind, wenn es gut geht, Teil der Lösung. Von der übrigen Opposition sind keine Beiträge zu erwarten, im Gegenteil, schon aus Gründen der Profilierung ist es wahrscheinlicher, dass sie denkbaren Lösungen bestmöglich im Weg stehen würden.
In dieser politischen Situation, und die Kommentatoren schiessen sich bereits auf diese Konstellation ein, erscheint eine schwarz-grüne oder gar grün-schwarze Regierung denkbar, und sogar wahltechnisch aussichtsreich. Jetzt schauen wir uns alle einmal tief in die Augen und beantworten folgende Frage: Ist es zu erwarten, dass die CDU, und, was schlimmer ist, die CSU sich zu solchen gesellschaftlichen Änderungen verstehen, wie sie nötig erscheinen? Da können die Grünen sich auf den Kopf stellen und mit den Füssen wackeln: der erforderliche radikale Wandel ist mit dieser wirtschaftsliberalen Union nicht zu machen; da kann Rezo noch drei Videos produzieren, das wird nix.
Wer dieser Analyse insoweit folgt, wird, vielleicht, wie ich auch einen neuen, anderen Blick auf die Sozialdemokraten werfen wollen – und bitte: ich schaue auf die Partei aus der Position einer stabilen, wohlproportinierten Gegnerschaft, wenn nicht sogar der Feindschaft – etwa, wenn ich an Gustav Noske denke. Nun, was könnte mich bewegen, meinen Abscheu zu überwinden, um die SPD, sagen wir, wenigstens als Partner zu akzeptieren?
In dieser „Suchbewegung“ besinne ich mich auf die historische Rolle der SPD, die, anders als die Kommunisten, für die die Arbeiterschaft lediglich das Agens der eigenen Machtansprüche darstellte, ihre Aufgabe in der Durchsetzung von lebenswerten Verhältnissen für diese Arbeiterschaft gesehen hat. Es waren Sozial//demokraten, die den Manchester-Kapitalismus gezähmt haben. Es waren Sozial//demokraten, deren Kämpfe den Sozialstaat heutiger Prägung ermöglicht haben. Und das ist jetzt aber der entscheidende Punkt: diese Kämpfe sind vorbei! Sie sind so sehr vorbei, dass sich die Schilderträger der Gewerkschaften nicht einmal mehr die Mühe machen, ihre Positionen zu formulieren, zu skandieren: ihnen genügt die Trillerpfeife. Hier herrscht keine existentielle Not! Hier vertreten Anspruchsinhaber Anspruchsoptimierungsinteressen; was legitim ist, aber politisch unbedeutend.
Thema verfehlt
Die SPD muss endlich ihr Thema erkennen, genauer gesagt: sie muss verstehen, dass sie sich thematisch neu erfinden muss. Dabei wäre es wieder ein Ergebnis mangelhafter intellektueller Schärfe, wenn sie nun im Wählerpotential der Grünen zu fischen anfinge. Die Aufgabe der SPD ist die Verbesserung der Lebensbedingungen jener gequälten Mehrheiten, die das selbst nicht können. Und das ist, in Zukunft, nicht mehr (oder nur noch begleitend) eine Frage der Sozialgesetzgebung, sondern der Sinnstiftung. Harari lesen: Schlimmer als ausgebeutet zu werden ist, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Hier schliesst sich der Kreis, auch die SPD selbst ist von der Diagnose betroffen! Wenn für die SPD ein grosses Thema auf der Strasse liegt, so ist es die Gestaltung des digitalen Wandels. Sollen die Grünen die Ökonomie zähmen! Aber, dass das Land, der Kontinent nicht an den Zumutungen der Ökologie und der Digitalisierung zerbricht, dafür braucht es den Pragmatismus einer neuen SPD.
Und übrigens auch für eine Neuordnung der Umverteilung; da, immerhin, ist Kevin Kühnert auf der richtigen Spur. Gewiss ginge es dabei auch um Konzerngewinne und deren Verteilung, doch eigentlich sind das Peanuts! Vor allem anderen geht es dabei um die radikale Neuordnung der Finanzindustrie. Die volkswirtschaftlichen Schäden, die in diesem von aller Welt abgehobenen Umfeld tagtäglich produziert werden, gefährden die globale Ökonomie und sollten rasch, klug und mit brachialer Durchsetzungskraft unterbunden werden – und zwar möglichst, ohne dass sich der Souverän oder die Medien einmischen.
Sehr geehrter Herr van Deelen
Sehr geehrter Herr van Deelen,
eine Anregung und eine Gratulation.
Die Anregung: Wie wäre es, wenn Sie Ihre Beiträge künftig mit Datum versehen(Tag des Postings, Tag der letzten Änderung)? Das würde kommenden Historikern die Arbeit erleichtern.
Die Gratulation:
Ich bin, was Entscheidungen betrifft, eher unlustig und nur ausnahmsweise in der Lage, ohne weiteres eine Präferenz zu äußern: Beim Zahnarzt lieber mit Betäubung, lieber einkehren als weiterwandern, diese Liga. Müsste ich’s aber wissen, wäre ich lieber Wulf Schmiese (ZDF) als Claus Kleber (ebenfalls ZDF), denn erstens ist Schmiese ungleich besser angezogen, und zweitens steht er, als Redaktionsleiter des Heute-Journals, nur ausnahmsweise im Fernsehen herum, nämlich dann, wenn es einen Kommentar aufzusagen gibt. Dann steht Wulf Schmiese erst etwas unabgeholt am Nachrichtendesk, bis Claus Kleber sagt, dass jetzt Wulf Schmiese etwas kommentiert, und dann ist Wulf Schmiese richtig im Fernsehen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre ich lieber ein Tagesthemen-Kommentator als Wulf Schmiese, weil die nicht so linkisch am Desk stehen müssen, bis sie dran sind, aber Tagesthemen-Kommentator will ich natürlich auf keinen Fall sein, und Wulf Schmiese ja auch nur dann, wenn ich andernfalls Claus Kleber sein müsste.
Wulf Schmiese hat sich jetzt bei Andrea Nahles bedankt, die uns nämlich die Große Koalition beschert habe, als es anders nicht weitergegangen wäre, und dass es weiter- und immer weitergeht, dafür steht Wulf Schmiese ja ein, auch wenn ihm vermutlich nie wer dafür dankt. Aber für ein Dankeschön kann man sich ja auch nicht viel kaufen, nicht wahr: „Dank half der SPD selten. Seit 100 Jahren ist sie immer wieder als Helfer in der Not eingesprungen, hat Vaterland vor Partei gestellt und musste dafür stets schwerste innerste Kämpfe aushalten. Nahles ging es da nicht besser als zig ihrer Vorgänger seit Friedrich Ebert.“ (Vgl.: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/kommentar-von-wulf-schmiese-zum-rueckzug-von-andrea-nahles-100.html) Wulf Schmiese ist klug, sonst wäre er nicht Redaktionsleiter beim ZDF, und also hat er gesagt: Seit 100 Jahren, und nicht etwa: Seit 105 Jahren, auch wenn die SPD da erstmals im ganz großen Rahmen Vaterland vor Partei gestellt hat. Aber vor 100 Jahren tat sie’s so, dass Wulf Schmiese und wir ohne weiteres dafür dankbar sein können, hätten wir doch ohne den Einsatz Friedrich Eberts den Bolschewismus bekommen und dann diese VEB-Anzüge anhaben müssen, wie sie Claus Kleber bis heute bevorzugt.
So klug ist Wulf Schmiese aber dann wieder nicht, darauf zu kommen, dass dieses ständige Vaterland-vor-Partei am Ende der Grund ist, weshalb die SPD ihrem Ende ins Gesicht sehen muss, denn eine sozialdemokratische Partei müsste ja die kleinen Leute vor dem Vaterland in Schutz nehmen, welches eine Veranstaltung und Erfindung der Bourgeoisie ist. Das aber hat die SPD nun wirklich in nahezu bewunderungswürdiger Sturheit falsch und im engen Sinn verkehrt gemacht: Kriegskredite, Ebert, Radikalenerlass, Nachrüstung, Jugoslawien, Hartz – wenn’s drauf ankam, ging es ums Vaterland und nicht um die, um derentwillen die SPD doch eigentlich auf der Welt war. Soviel sieht Wulf Schmiese richtig: Die SPD war immer da, wenn das Vaterland sie rief, und jetzt ist es aber so, dass das Vaterland die SPD nicht mehr recht benötigt, denn Bergleute gibt es bald nicht mehr, und die Interessen der anderen zu aggregieren gibt es genügend andere Angebote. Wäre Wulf Schmiese nicht Redaktionsleiter beim ZDF und bestünden also seine Kommentare nicht notwendig aus „Jetzt muss …“-Appellen, hätte er sagen (oder wenigstens nachsagen) können, dass das sozialdemokratische Zeitalter zu Ende ist, weil der Kapitalismus nichts mehr von jenem Bolschewismus zu fürchten hat, den Ebert aufhalten zu müssen glaubte, obwohl’s da gar nichts aufzuhalten gab.
Nennen wir’s Ironie der Geschichte; oder List der Vernunft.
Das Datum finden Sie in der
Das Datum finden Sie in der Navigation, sozusagen eine Ebene höher. Die Gratulation habe ich nicht verstanden. Lehnt sich Ihr Kommentar bloss an mein Thema an, oder haben Sie irgendwo zu mir Bezug genommenen - und ich hab’s nur nicht gemerkt?
Sehr geehrter Herr van Deelen
Sehr geehrter Herr van Deelen,
bezüglich IHRER „Suchbewegung“ habe ICH mich auf die historische Rolle der SPD besonnen, die keineswegs vollkommen anders als die Kommunisten, für welche "die Arbeiterschaft" lediglich das Instrument (die ideologische Kostümierung) der eigenen Machtansprüche darstellte, ihre Aufgabe allein in der Durchsetzung von lebenswerten Verhältnissen für diese Arbeiterschaft gesehen hat. Das war vielleicht an verträumten Nachmittagen nach ausgiebigem Sex mit einer seiner Sekretärinnen beim Rauchringe blasenden Willy Brandt der Fall, aber bestimmt nicht bei Kurt Schumacher, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Egon Bahr oder Gerhard Schröder.
Die SPD "als Repräsentation von rund 10 Millionen, unter günstigen Umständen vielleicht sogar 15 Millionen Wählerstimmen"? Wie kommen Sie darauf? Wo sind denn diese Millionenheere?
"Hier liegt das eigentliche Problem der SPD, hier liegt aber auch das eigentliche Problem der Gesellschaft", Hier liegt aber auch Ihr Problem, Herr van Deelen: Dass westliche Gesellschaften vor einem radikalen Wandel stehen, diese Erkenntnis – wenn auch nicht bis ins Detail ausformuliert – hat sich mittlerweile durchgesetzt. Wie aber die Gesellschaft zu organisieren sei, und wie der Wandel schmerzarm vonstatten gehen soll, davon fehlen die allermeisten Vorstellungen. -- Ihnen auch, oder? Jedenfalls nennen Sie keine.
"Die Funktionsanforderungen der Gesellschaft"? Was ist damit konkret gemeint?
"Nun, was könnte Sie bewegen, Ihre Abscheu zu überwinden, um die SPD, sagen wir, wenigstens als Partner zu akzeptieren?"
"Die SPD muss endlich ihr Thema erkennen, genauer gesagt: sie muss verstehen, dass sie sich thematisch neu erfinden muss."
Wer gehört denn zu "jenen gequälten Mehrheiten", für welche die SPD "die Lebensbedingungen verbessern" soll? Hatten Sie nicht eine Sekunde zuvor noch "mit intellektueller Schärfe" konstatiert: "Hier herrscht keine existentielle Not! Hier vertreten Anspruchsinhaber Anspruchsoptimierungsinteressen"?
Und: "Harari lesen: Schlimmer als ausgebeutet zu werden, ist, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken"? Sprechen wir hier über das typische SPD- oder das typische AfD-Klientel?
"Wenn für die SPD ein großes Thema auf der Straße liegt, so ist es die Gestaltung des digitalen Wandels. Sollen die Grünen die Ökonomie zähmen! Aber, dass das Land, der Kontinent nicht an den Zumutungen der Ökologie und der Digitalisierung zerbricht, dafür braucht es den Pragmatismus einer neuen SPD." Wirklich? Die "Zumutungen der Ökologie und der Digitalisierung" erkennen, korrekt beschreiben und angemessene Steuerungsmaßnahmen empfehlen bzw. ergreifen, setzt umfassende und nüchterne wissenschaftliche Expertise voraus. Was veranlasst Sie zu glauben, dass sich dieses Fachwissen gerade bei den Sozialdemokraten konzentrieren wird?
Die "die radikale Neuordnung der Finanzindustrie. Die volkswirtschaftlichen Schäden (...) sollten rasch, klug und mit brachialer Durchsetzungskraft unterbunden werden – und zwar möglichst, ohne dass sich der Souverän oder die Medien einmischen." Radikale Neuordnung mit brachialer Durchsetzungskraft, ohne dass sich der Souverän einmischt? Klingt für mich mehr nach Pol Pot als nach Olaf Scholz.
Oder geht es doch nur um ein neues "Narrativ"? Ist alles bloß eine Frage des richtigen Marketing?
Sagen Sie damit nicht, dass Trump gerechtfertigt ist, da er die effizienteren Agenturen mit den skrupelloseren Methoden bezahlen kann?
Übrigens heißt der von Ihnen erwähnte britische Zoologe, theoretische Biologe, Evolutionsbiologe und Autor populärwissenschaftlicher Literatur Clinton Richard Dawkins - nicht Dawking.
Wenigstens habe ich Sie jetzt
Wenigstens habe ich Sie jetzt verstanden – und bedanke mich für den Kommentar. Gruss IvD
Darf ich noch mit Antworten
Darf ich noch mit Antworten rechnen?
Oder halten Sie's einfach mit Franz Müntefering? "Opposition [hier: Entgegnen] ist Mist. Lasst das die anderen machen - wir wollen regieren [hier: Recht behalten]." - in seiner Bewerbungsrede für den Vorsitz der SPD auf dem SPD-Sonderparteitag am 21. März 2004.
Ja, ich antworte gern.
Ja, ich antworte gern. Detaillerter morgen aber kurz vor dem Essen: ich bevorzuge ein „regierte“ Gesellschaft- und, insofern ich darauf Einfluss hätte, eine, die die bestehenden Probleme erkennt und adressiert.
Unsere Zeit ist eine Zeit der
Unsere Zeit ist eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken und es umzugestalten. Es kommt nach meiner Einsicht alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen. Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze ist aber nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.
»Phänomenologie des Geistes«. [1807] Hier: Theorie Werkausgabe, Bd. 3. Herausgegeben von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, p. 24
» (...) N’étant pas une puissance, la philosophie ne peut pas engager de bataille avec les puissances, elle mène en revanche une guerre sans bataille, une guérilla contre elles. Et elle ne peut pas parler avec elles, elle n’a rien à leur dire, rien à communiquer, et mène seulement des pourparlers. Comme les puissances ne se contentent pas d’être extérieures, mais aussi passent en chacun de nous, c’est chacun de nous qui se trouve sans cesse en pourparlers et en guérilla avec lui-même, grâce à la philosophie.«
Gilles Deleuze, »Pourparlers, Avant-propos«. Paris, Les Éditions de Minuit, 1990 / 2003, p. 7
Ich empfehle ergänzend zu
Ich empfehle ergänzend zu Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" (2009 auf Französisch und 2016 in der Übersetzung von Tobias Haberkorn auf Deutsch in der edition suhrkamp erschienen):
Lutz Raphael: "Jenseits von Kohle und Stahl - Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom"
Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2018 Mit zahlreichen Abbildungen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
Gebunden, 525 Seiten, 32,00 €
Waschzettel:
Die Vorgeschichte unserer postindustriellen Gegenwart
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele Staaten Westeuropas von einem beispiellosen Strukturwandel erfasst: Die Fabriken der alten Industrien verschwanden, Millionen von Arbeitsplätzen gingen verloren, vormals boomende Städte gerieten in die Krise und neue soziale Fragen bestimmten die politische Agenda. Was aber ist aus dem stolzen Industriebürger geworden – aus seinen Arbeitsplätzen, Karrierewegen und Wohnquartieren? Wie haben sich soziale Rechte und politische Teilhabe von Arbeiterinnen verändert, als der Wettbewerb global, das Management schlank und der Finanzkapitalismus dominant wurde? Welche Ideen und Ideologien begleiteten den Wandel?
Am Beispiel der Industriearbeit in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik erzählt Lutz Raphael die außerordentlich vielschichtige und spannende Geschichte der westeuropäischen Deindustrialisierung. Sie dauerte drei Jahrzehnte, ging mit einer Steigerung der Produktivität und des Lebensstandards einher, brachte aber auch Niedriglöhne, wachsende Ungleichheiten und eine Krise der demokratischen Repräsentation. Und vielleicht das Entscheidende: Sie wirkt bis heute fort – als Vorgeschichte unserer postindustriellen Gegenwart. Dieses Buch hilft, sie zu verstehen.
Lutz Raphael (* 12. September 1955 in Essen) ist seit 1996 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier
Leseprobe: https://www.suhrkamp.de/download/Blickinsbuch/9783518587355.pdf
Spiegel-Gespräch: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/lutz-raphael-im-interview-ueber-den-niedergang-der-spd-a-1270809.html
Bundestagswahl 2017
Bundestagswahl 2017
CDU
Erststimmen: 14.030.751 in Prozent: 30,2;
Zweitstimmen: 12.447.656 in Prozent: 26,8
SPD
Erststimmen: 11.429.231 in Prozent: 24,6;
Zweitstimmen: 9.539.381 in Prozent: 20,5
Natürlich könnte man nun dagegen halten, dass die SPD bei der Europawahl deutlich unter diesen 10 Millionen geblieben ist, das ändert aber nichts daran, dass ihre Klientel „eigentlich“ vorhanden ist, sich nur abgewandt hat, fern geblieben ist, mit einer fremdgegangenen Stimme protestiert hat. Wenn ich also davon rede, wen die SPD repräsentiert, so habe ich das Wählerpotential im Kopf, sei es nun in der Wahl realisiert oder nicht.
Wenn es um die gesellschaftlichen Vorstellungen geht, so versuche ich mich daran „immer wieder“, etwa in den „stupid“-Videos, aber auch an vielen anderen Baustellen der Gesellschaft. Nicht immer passt alles in EINEN Text; in diesem Fall war es mir darum zu tun, darauf hinzuweisen, dass die SPD noch gebraucht wird, EGAL, wie kritisch man zu ihr steht.
Ihre Fragen, Herr Gärtner, machen es sich etwas einfach, in dem Sie meine Aussagen als Fragen „umdrehen“. Etwa in dem Wort „Funktionsanforderungen“ steckt ja drin, was es meint: eine Gesellschaft muss funktionieren. Das erfordert ein Rahmengerüst mit SEHR widersprüchlichen Parametern. Wirtschaftliches Handeln ist, damit es Ergebnisse bringt, in der Regel kaum oder gar nicht am Gemeinwohl interessiert. Gerechtigkeitsforderungen dagegen kümmern sich wenig darum, ob die geforderten Massnahmen an anderer Stelle die Voraussetzungen (etwa Gewinne) untergraben, die es braucht, um eben die geforderte Gerechtigkeit zu realisieren. Politik, wie ich sie verstehe, ist das Management widersprüchlicher Interessen – und bei speziell dieser Anforderung erscheint mir die SPD historisch und intellektuell eher geeignet als eine (beispielhaft) CDU, die sich bereits in ihrem Selbstverständnis auf eine Seite geschlagen hat.
Wer nun die „gequälten Mehrheiten“ wären, hätte wenig mit der parteilichen Orientierung zu tun, sondern mit der gesellschaftlichen Position: Jene, die mit der Digitalisierung Schritt für Schritt aus dem Erwerbsprozess ausgesteuert werden (Sibylle Berg lesen: GRM; das macht ja vor akademischen Karrieren nicht Halt) und ins „Nicht-mehr-gebraucht-werden abrutschen. Das kann man bei Harari gut nachlesen, muss man dann aber auch tun.
Und wenn Sie Pol Pot ansprechen: der hat die Intellektuellen seiner Gesellschaft ausgelöscht, ein SEHR anderes Konzept. Mir geht es darum, eine grobe, parasitäre, unnütze Industrie zu regulieren, die 11 oder 12 Mal soviel Geld bewegt, wie die Realwirtschaft benötigt. Und dabei „Gewinne“ einbehält und Verluste sozialisiert. Und darüber hinaus mit dem Hazard, den sie betreibt, breite Gesellschaftskreise gefährdet, wenn nicht gar ganze Gesellschaften (wie wir das in 2008 gezeigt bekommen haben). Und diese Regulierung wünsche ich mir radikal – und nicht kleingesägt von einem Diskurs der Vorwände, der Ablenkung, der Falschaussagen, des Lobbyismus, der Umkehrung.
Wie ich zu Trump stehe, ... können Sie ja nachlesen.
Hegel, Otto Berg: Danke für
Hegel, Otto Berg: Danke für die Hinweise