„Samstag-Morgen war gekommen und ein heller, frischer, fröhlicher Sommermorgen war's. …
Anti-Amerikanismus
Eine Verlorene Liebe
Suits – und die Folgen
SUITS – 3D-Floor-Plan © – DRAWBOTICS.COM
… Jubel erfüllte jegliches Herz und wenn die Herzen jung waren, so brach er sich durch die Lippen Bahn. Fröhlichkeit thronte auf jedem Gesicht, jeder Schritt war elastisch. Die Akazien standen in voller Blüte und erfüllten die Lüfte mit ihren Düften. Der das Dorf beherrschende Cardiff-Hill erglänzte in frischem Grün, und die Entfernung war eben groß genug, um ihn den Blicken als ein ersehntes, ergötzliches, einladendes Land voll träumerischer Ruhe erscheinen zu lassen.
Auf einem Nebenpfade erschien Tom mit einem Kübel voll Tünche und einem langgestielten Pinsel. Er überschaute den Zaun; alle Fröhlichkeit verließ ihn, und tiefe Melancholie bemeisterte sich seiner.“
Mark Twain[qtip:(1)| zit. n. projekt-gutenberg.org], Tom Sawyers Abenteuer
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Hollywood
Die zweite Welle geht auf das Konto der Studios, doch am Anfang war das Wort: Mark Twain, J.F. Cooper, Jack London. Mit ihnen schlenderte ich durch Old St. Petersburg, angelte an den Ufern des Mississippi, streifte durch Otsego County, und am Klondike folgte ich dem Ruf der Wildnis. Meine Freunde waren Trapper und Indianer, Kanada und der wilde Westen bewohnten mein wildes Herz. Dass ich „Ameeerikah“ liebte, bevor ich es auf dem Globus zeigen konnte, … na, ist schon lange her. Honestly: diese erste Liebe war wie der Wunsch, Feuerwehrmann oder Lokomotivführer zu werden; sagen wir: sie war vorläufig.
Das Brandeisen der Stars and Stripes führte erst Hollywood.
These: Mit dem Wort „Hollywood“ verbinden 107% der Weltbevölkerung den Schriftzug in den Hügeln über Los Angeles… plus: die Filmindustrie! Über das Branding müssen wir nicht weiter reden, zur Filmindustrie dagegen lohnt eine Vorbemerkung. Mit der Filmindustrie verhält es sich wie mit den „Tarifpartnern“, naja, ähnlich. Wie es bei derlei „Partnern“ nicht um Gemeinsamkeit geht, sondern um knallharte Interessenkonflikte, geht es bei der Filmindustrie nicht um Glanz und Glamour, Aschenputtel-Karrieren oder die Unterhaltungsbranche, sondern um eine hocheffektive und beinahe nebenbei auch profitable Propagandamaschine.
„Ich mag Marshall Mc Luhans Definition des Films als einer ,Geisterstadt, bevölkert von Truggestalten‘. Die letztlich banale Idee von Täuschung, Vorspiegelung falscher Tatsachen und Propaganda entfaltet sich im Hell-Dunkel des Films mit so viel Poesie und Treffsicherheit. , dass sich hinter den ,Truggestalten‘ auf filigrane Weise zu erkennen gibt, worum es eigentlich geht: um Ideologie natürlich."
Ignacio Ramonet, „Liebesgrüße aus Hollywood - Die versteckten Botschaften der bewegten Bilder“
Die Erkenntnis ist nicht mehr ganz frisch; in Österreich hat sie es bereits bis ins Unterrichtsmaterial der 9. Schulstufe geschafft. Auch waren nicht nur die Amis auf den Gedanken gekommen, mit bewegten Bildern Staatspropaganda oder Ideologie zu exportieren; manche Ideen liegen einfach in der Luft. Leni Rieffenstahl dreht Filme wie den „Triumph des Willens“ mit Hilfe üppig bereitgestellter Mittel aus dem Reichspropagandaministeriums und nach den persönlichen Wünschen des Führers[qtip:(2)| so jedenfalls legt es eine Spielfilm-Biografie "Der schmale Grat der Wahrheit" über Luis Trenker nahe]. Es war damals noch die platteste Form der Propaganda: diejenige mit explizitem Auftrag. Geschickt war daran allenfalls das klug und tricky initiierte Missverständnis, die „Traumfabrik“ sei eine gleichsam mythologische Branche, in der es Menschen „aus dem Nichts“ zu Weltruhm bringen können.
Wer ein Schiff bauen will, lehre die Sehnsucht
Ich erlag der Propaganda-Maschine zu Füssen von Liz Taylor und Marilyn Monroe, James Dean war auch nicht übel, Marlon Brando …, eine lange, lange Liste von Göttinnen und Helden, unabgeschlossen. Zwar waren die filmischen Mittel damals eher noch unerschlossen: Film war wie Theater – nur mit ökonomisch attraktiven Skaleneffekten. Mir war das egal. Ich war, unschuldig promisk und folgenlos, dauerverliebt in Lauren, Myrna oder Audrey, und noch Giganten oder Casablanca buchte ich unter Amühsemang. Meinen zuweilen brennenden Blicken entging der inzwischen subtilere Ansatz, nämlich der Trick, das Priming über Identifikationsangebote zu transportieren; Lebenswelten statt ausbuchstabierter Nachrichten, ein wenig Sex (naja) und Brückenköpfe in der Phantasie.
Ab der ausklingenden Mitte meiner Pubertät verfing das nicht mehr. Seit Easy Rider sah und verstand ich mehr, als auf der Oberfläche zu sehen war; oder war es die Reifeprüfung oder Alice’s Restaurant? Kubricks 2001 war es nicht, soviel ist sicher, obwohl gerade die Odyssee auf mich lebensgeschichtlich den nachhaltigsten Eindruck machte; nur eben nicht als politische Gegenwartsbeschreibung.
Oder … doch; und das charakterisiert jetzt eine dritte, neuerlich modernere Form des Staatsmarketings: 2001 verankerte in mir eine Vision, ein Begreifen von „Zukunft“, und eben die war nun unauflöslich mit „Amerika“ verschränkt – wenn auch nicht mehr so pathetisch. Den Studios – eigentlich einer Reihe grosser Regisseure – und dann doch wieder den Studios, die diese ermöglichten …, jedenfalls gelang es Hollywood, mich mit Hilfe einer kontra-intuitiven Mechanik zu ködern: im Kino erschien das Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch als Garant radikaler Aufklärung, rücksichtsloser Selbstkritik, analytischer Schärfe! Es waren Manifestationen eines kulturellen Mutes und Abstands, den nur nachfühlen kann, wenn miterlitten hat, wie etwa das populäre deutsche Kino zur gleichen Zeit das Wirken der Lümmel von der ersten Bank untersuchte, … Noch in Zur Sache, Schätzchen war eher anarchischer Klamauk am Werk; erst nachdem Uschi Glas sich ausgezogen und aller damit einhergehende Aufruhr sich wieder gelegt hatte – sozusagen in der zweiten Ableitung –, war so etwas wie eine politische Idee zu erkennen; eine trübe allemal, die Muff, Abscheu und Langeweile in sarkastische Bilder bettete.
Coole, pathetische, beissende oder bittere Filme, irgendwas, das auf Konto das Hoffnung einzahlte, das konnten nur die Amis. Was immer die US-Propaganda an Werten und Lebensvorstellungen kolportierte, sie spielte in der Champions League. Technicolor! Panavision! Noch heute ist das europäische Kino unfähig, das Land so zu filmen, wie Stanley Kubrick es konnte. Wenn es nun aber in diesen Landschaften gar nicht um Unterhaltung ging, sondern um Ideologie und Propaganda, so sollten wir die Frage stellen: Welche? Welche Werte? Welche Ziele? Warum? Warum diese?
Du kannst es schaffen!
Während im deutschen Nachkriegskino irgendein Märchenprinz irgendein Aschenputtel zu sich emporhob, war es im US-Kino der Einzelkämpfer, der allen Erfolg nur sich selbst verdankte. Ob im Business oder im politischen System, alle Ziele und Zwecke sind an den Einzelnen gebunden; und wenn es zwei sind oder eine Gruppe, ändert das gar nichts. Hier ist alle Macht persönlich, autokratisch; logisch, ohne Gewaltmonopol kann es keinen Obrigkeitsstaat geben.
Mit dem Einzelnen obsiegt im US-Kino immer die Hoffnung: Du kannst es schaffen. Diese Klappe erschlägt zwei Fliegen: Indem sie das Schicksal vereinzelt, privatisiert, kann sie Gerechtigkeit behaupten – als Ergebnis von Anstrengung, und indem sie das Streben des Einzelnen stützt und feiert, belässt sie das System unangetastet. Das wirkt wie Koks, Prosec und Valium in einem – und, mein Gott, wenn tatsächlich mal zwei, drei Underdogs duchkommen, so what! Das frischt das Blut auf. Du kansst es schaffen! Das – ist die Exportbotschaft des American Dreams.
Die Welt und ich, wir wollten das glauben und: es hat gewirkt. Fukuyama hatte Recht! Heute ist der amerikanische Traum das Desiderat der Welt, mal mit einem chinesischen, einem brasilianischen oder einem indischen Akzent! Die Details sind nicht so wichtig.
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Suits – und die Folgen
Tja. Nun ist aber am Horizont ein Wölkchen aufgetaucht.
Von Zeit zu Zeit setze ich mich einem Selbstversuch aus, um ein aktuelles Phänomen zu verstehen; in einem Fall hab ich schon einmal – (verjährt!) – einen Joint geraucht. Oder – auch lange her – zwei Tage am Stück Tetris gespielt (nie wieder!). Jüngst ging es um „Binge-Watching“. Ich habe also alle 134 Folgen der Serie Suits angesehen, in Summe 96 Stunden, ab und an von ein paar Stunden Schlaf und anderen Überlebensfragen unterbrochen. Als „Erlebnis“ kann ich das jetzt abhaken: wiederkehrende Muster, ausbleibende Lernkurven, es zerrüttete mein Nervenkostüm und liess mich, je länger es dauerte, an der Qualität der Autoren zweifeln; sogar die ausgesuchte Attraktivität der SchauspielerInnen verschwimmt, empirisch nach fünf oder sechs Episoden in Folge. Ab Mitte Staffel 5 etwa bekämpfte ich die in der abfallenden Spannungskurve aufkommende Langeweile mit dem Nachdenken über mögliche subkutane Botschaften.
Ein paar einordnende Hinweise vorweg: Suits ist eine Serie des USA Network KabelTV und hat es auf 9 Staffeln gebracht. Wie mir wurde es auch anderen Zuschauern mit der Zeit zäh: von Ø 4,24m in der ersten blieben noch Ø 1,02m in der letzten Staffel. Zum Vergleich – mit der Serie Breaking Bad verhielt es sich gerade umgekehrt: hier wuchs die Zahl der afficionados von Ø 1,23m auf Ø 4,32m, und in der allerletzten Folge fieberten sogar über 10m Zuschauer vor den Bildschirmen. Beachtlich, andererseits, dass Suits in der netflix/Deutschland-Statistik noch immer auf Platz 10 der meistgestreamten Serien steht (August 2020) – und nach einer annähernd repräsentativen Umfrage (n=7) in der GenZ so beliebt ist, wie der Tatort unter den Boomern.
Suits behandelt Hochglanz-Fragen des Lebens und Überlebens sowie alle Facetten der HighEnd-, Arschloch- und Gauner-Jurisprudenz, denn die main characters der Serie sind die führenden Anwälte einer Kanzlei – und deren MultiMillionen$-Klienten. Die verhaltensauffälligen Merkmale (Gemeinheit, Hysterie, Intriganz, Selbstblindheit, Kolerik usw.) sind auf die gezeigten CharakterInnen überwiegend pc verteilt, wie auch die Rollen einigermassen divers besetzt sind: Männer, Frauen, Schwarze, Weisse, Goldlöffelchen und Underdogs – sie alle funktionieren in und nach dem gleichen System. Da sind vor allem Spitzenanwalt Harvey, er favorisiert den kalten Bluff, und sein Protegé, der Nachwuchs-Anwalt Mike, in ihm verbindet sich eine Ausnahmeintelligenz mit Empathie. Chefin Jessica gibt die königliche Sphinx, Kollege Luis den Emopathen und Donna, erst Sekretärin, dann COO, verfügt über eine Art Hochbegabung in strategisch-emotionaler Urteilskraft. Rachel schliesslich kämpft gegen sich selbst in der Rolle des Mädchens, das Mühe damit hat, sich zu emanzipieren. Gelegentlich werden Charaktere ausgetauscht und es gibt Nebenrollen für dies und das.
Die Serie fliesst durch eine alltäglich/gemächliche Flusslandschaft aus Karriere-, Kriegs- und Liebesgeschichten (man schreitet, stolziert, trottet, wackelt oder catwalked durch Bürofluchten, gelaufen wird selten), in die in serien-typischer Abfolge Amplituden rechtlicher, persönlicher und sozialdarwinistischer Probleme und Katastrophen einschlagen, die das handelnde Personal mit den (überwiegend) intellektuellen Werkzeugen der jeweiligen Charakterhülse zu überwinden versucht. In 7 von 10 Fällen steht die Lösung auf einem gefalteten Blatt Papier, gelegentlich braucht es einen schmalen Schnellhefter. Für Männer endet der Arbeitstag abends bis nachts mit einem Tumbler in der Hand, das zartere Personal trinkt Wein.
Viele dieser Serien folgen dem gleichen Erfolgsrezept: Vorgeführt werden paradigmatische Sprechhandlungen, wie auf dem Theater: sagt er zu ihr, sagt sie zu ihm, Gang nach links, Gang nach rechts; 2 bis 5sec-Schwenks durch das Stadtpanorama markieren die Position der Werbeblöcke. Als Qualität setzt sich durch, wenn es gelingt, im Setting wie im Movens stilisierte Feuilletons zur Entwicklung der US-Gesellschaft abzubilden: in welcher Welt leben … „wir“, wir – hier die New Yorker Upperclass, die über einen Fahrer verfügt. … Der feuilletonistische Aspekt fand mein zunehmendes Interesse.
Im Verlauf der Serie – ursprünglich ausgestrahlt 2011 bis 2019 – durchlaufen die Charaktere … Entwicklungen, körperlich: sie werden älter, in der Persönlichkeit und auch in den Beziehungen zueinander. Abgearbeitet wird das an wiederkehrenden Fragen: wie in jedem Hinterhof eine US-Fahne flattert, erfahren wir Zuschauer in jeder Folge drei bis fünfmal, „Ich bin …[je nach dem] Senior Partner, Namenspartner, geschäftsführender Partner“, für den Fall, dass irgendwer das in den letzten 5 Minuten vergessen hätte. Zumeist verbindet sich damit die Nachricht „oben sticht unten“, die ist eigentlich keine, nur wird das hier jeden Tag neu verhandelt. Im Übrigen kreisen die Themen darum, wer wen liebt oder respektiert, belügt oder verrät (überwiegend: in Tateinheit), wer wen über den Tisch zieht, in die Pfanne haut oder – bevorzugt – ein für alle Mal vernichtet, ob es Rachel gelingen wird, einen ihre Intelligenz stützenden Machismo zu entwickeln und schliesslich, ob es für Harvey neben Donna jemals eine andere Frau geben kann, was, spoiler alert, nicht der Fall ist.
(Nicht nur) In europäischen Ohren klingt es einigermassen exotisch, dass nahezu alle Dialoge entweder im Format Martial Arts [qtip:(3)| „Yet when it comes to shows that push the limits of what a basic cable show can get away with, Suits is far and away the boldest, with characters now dropping the f-bomb regularly when the moment calls for it.“] oder als Pointenfights ausgetragen werden. Während letztere den Schmuzelfaktor beisteuern, schlagen, boxen und kicken erstere die „Handlung“ voran, die in Gänsefüsschen steht, weil, wie bereits angedeutet, diese zwischen wechselnden Meetingräumen auf der Stelle tippelt. Während uns die Kamera durch exklusive Stahl-, Glas-, Bauhaus- und Mahagonie-Environments führt, nicht immer passt das mit den Trophäen, Lebensgeschichtsgalerien oder Kunstdrucken zusammen, erscheinen die battles wie Direktimporte aus Detroit – eine Verachtungs- und Vernichtungssprache, in der die Beteiligten offenbar nachweisen oder daran erinnern wollen, dass sie es von ganz unten geschafft haben. Das schafft eine negative Attraktivität, die sich aus der Frage speist: wie gross und gewaltig, gerissen, brutal, doppelzüngig, hinterhältig und falsch kann ein menschliches Arschloch wohl sein.
Meritokratie
Jetzt zeigt sich die dunkle Seite der meritokratischen Medaille: Du kannst es schaffen … macht es unvermeidlich, alle anderen zu schlagen, zu vernichten, auszubooten: Survival of the fittest, meanest, most sly and devious. Dieses Thema zieht sich durch alle Folgen; später, – in den Tiefen und Längen des Seriengeschehens und um für etwas Abwechslung zu sorgen –, werden auch menschliche Charakterzüge ausgeleuchtet. Die Rollen werden milder, eine Welle pro bono-Fälle schwappt durch die Serie: Da wird schon mal der Überstundenlohn für Putzfrauen erstritten, die Unschuld unschuldiger Mörder bewiesen, die Scheidung des Bruders moderiert oder bleivergiftete Kinder werden entschädigt. Zu unserer Überraschung ist Harvey doch „ein guter Mensch“: und zwar zu welchen Bedingungen und Zielen und mit welchen Mitteln.
Durch die Brüche wird das Plakat zum Sittengemälde.
In der Gegenüberstellung der Brutalitäten und Verletzlichkeiten werden die Werte und Moralen einer Klasse, Generation, Lebenswelt erkennbar – grob gesprochen das Selbstverständnis und die Fundamente der metropolitanen Eliten der USA. Gewiss, die Realität ist breiter und vielschichtiger, und platte Generalisierungen (Deutsch = Lederhosen + Sauerkraut) funktionieren auch hier nicht. Andererseits liegt es nahe, dass die beliebten Reality-Soaps Realität zugleich abbilden UND ausbilden: eine Art Feedback-Loop entsteht.
Während sich in den 80er Jahren Serien stets um „die Kinder“ drehten – sowie die dazu nötige Rahmenhandlung, haben sie in unseren Metropolen heute nichts zu suchen – es gibt sie, aber nur als ausgewachsene Exemplare (eine und noch eine Ausnahme bestätigen die Regel). In einem (vermeintlichen) Kündigungsschreiben sagt Louis, dass die Kanzlei sein Zuhause sei, seine Familie, Harvey und Jessica wie seine Eltern, die jungen Anwälte wie seine Kinder; …bald dominiert die Familienmetapher die ganze Serie. Wie auch anders: Die 16- bis 36-Stundenschichten, die nicht etwa gelegentlich verhandelt, sondern ständig beinhart eingefordert werden, ver- oder wenigstens behindern einen anderen Lebensentwurf. (Und, übrigens, am Ende der Serie fehlt mir die Familie sogar. Ein wenig.)
Das schlägt durch auf die Wertewelt. Geht es beispielsweise um Hilfsbereitschaft, so unterliegen sie, die Werte, der gnadenlosen Buchführung des quid pro quo, einerseits, andererseits aber, etwa in Sachen Respekt, Loyalität oder Vertrauen, entscheiden Tagesform und Interessenlage. Auf Stundenbasis werden Wörter gegeben und gebrochen. An Vormittagen werden Grenzen übertreten oder Gürtellinien von unten attackiert; kein Wunder, dass jede Lüge die nächste gebiert. Nachmittags dann gilt es, Abbitte zu leisten, sich zu entschuldigen, Fehler einzuräumen, denn „es ist leichter, um Entschuldigung zu bitten, als …“ – … ach was! Lip Services. Man entschuldigt sich vielleicht, aber man bittet nicht darum. Zudem braucht es wöchentlich zweimal einen Psychiater, der erklärt, wo man falsch gelegen haben könnte: über sich selbst wissen diese Menschen nichts; ihre Vergangenheiten sind in Schuld, blaming und Verdrängung verbarrikadiert, so etwas wie eine gereifte Persönlichkeit gibt es nicht.
usw. In Suits steht jeder Dialog wie in Stahlgewittern, ein Wortgefecht auf Leben und Tod. Anfangs ist man versucht, z.B. Harvey so etwas wie ein funktionierendes Wertesystem zu unterstellen: immer wieder lehnt er Schweinereien ab, die an ihn herangetragen werden. Erst später verstehen wir, dass da keine tiefsitzende Moral obsiegt, sondern nur eine messerscharfe Risikoabwägungen greift: wo Gefängnis droht, lässt er die Finger von. Ansonsten ist er für jede Rechtsbeugung zu haben, solange sie seinen Zwecken dient; die, möglich ist alles!, gelegentlich auch die seiner Mandanten sein können. Die Egomanie dieser Haltung durchzieht die ganze „Gesellschaft“; an einer Stelle sagt der fiktive Bürgermeister von Chicago zu Jessica: „Ich bin kein Wohltäter, sondern Politiker.“
In dieser Welt, die alles Geschehen ausschliesslich nach innen bemisst, gibt es – ganz im Sinne Maggie Thatchers – da draussen keine Gesellschaft, kein Gemeinwohl. Mike, in der Tradition von Ralph Nader, scheitert wiederholt mit dem Versuch, diesem Business so etwas wie Sozialverträglichkeit abzugewinnen oder einzuweben – mit Sammelklagen, in denen die pseudo-soziale Umverteilung freilich im Gewand drakonischer Strafzahlungen auftritt: Jemand muss dafür zahlen, Gerechtigkeit wird billigend in Kauf genommen. Und so lebt ausserhalb der Kanzleiwelt nur der Feind, sind Normen und Werte ausschliesslich daran bemessen, was intern gilt: Das Interesse der Kanzlei, zu Hochzeiten ein Gebilde mit 50, vielleicht sogar 100 Mitarbeitern, ist alleinige Richtschnur und Sinn des Lebens. Dass in diesem Setting das „eigentlich“ zu vertretende Recht allenfalls ein paar Leitplanken bereithält, im Tagesgeschäft jedoch blosser Vorwand ist (nach House of Cards überrascht uns gar nichts mehr), ist unvermeidlich; tatsächlich ist für dieses Milieu Recht und Kriminalität nur eine Frage der Deutungshoheit; es geht um die Kunst, den Zugriff des Systems zu unterlaufen. Dass in diesem framing auch Staatsanwälte nicht das Recht, sondern persönliche Motive verfolgen, ist dann nur folgerichtig, weil … irgendwer hat irgendwem irgendwann irgendwas … und das verlangt nach Rache, und zwar wörtlich, bei offenem Visir. Haben sich die Kontrahenten in diesem „Spiel“ und mit den Jahren erst einmal gegenseitig genügend respektheischende Dellen zugefügt, beginnt ein immerwährendes PingPong „Du schuldest mir einen Gefallen …“. Definiere Korruption.
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Konvertiten sind die Schlimmsten
Mein Amerikanismus entstand aus einer kindlichen, jugendlichen, zunächst auch naiven Begeisterung für die phantastischen Möglichkeiten einer grossen Gesellschaft mit grossartiger Verfassung und einem gleichsam selbstheilenden System. Je öfter ich das Land besucht habe, je breiter und tiefer ich mit den medialen Repräsentationen des Landes vertraut wurde, desto blasser wurde das Vorbild und mithin auch der American Dream, in dem es mir immer um das „Erreichen können“ ging, während das „gewinnen“ oder „an die Spitze kommen“ allenfalls ein kollaterales Ergebnis war.
Natürlich wäre es Unsinn, von meinen persönlichen und mittelbaren Eindrücken profunde Kenntnisse ableiten zu wollen, und noch bekloppter wäre es, auf die Bevölkerung zu schliessen. Aber wie man so sagt: irgendwas bleibt hängen. Mein Bild veränderte sich über die letzten zwei, drei Jahrzehnte. Das unermessliche, staunensschöne Land zerbröselte, oder, anders gesagt, die Wahrnehmung seiner hässlichen Seiten geriet vom Beweis der Selbstreinigung zum Zeichen des Zerfalls. Mein Anti-Amerkanismus wuchs mit der Erkenntnis, dass es sich bei dieser Gesellschaft – vermutlich immer schon – um eine Art von Inselarchipel handelt [qtip:(4)| eine Woche nach mir – gewiss ohne mein Zutun – schreibt Christoph Drösser von einer ähnlichen Beobachtung in der Zeit „San Francisco ist eine Inselerscheinung in den USA wie sonst nur New York. Jeder Lebensstil wird hier nicht nur geduldet, sondern gefeiert, die Toleranz endet allenfalls bei den Anhängern des aktuellen Präsidenten, der hier bei der vorigen Wahl nur neun Prozent der Stimmen holte.“]. Mal sind diese beleuchtet, die grossen, die privaten und die Hauptinseln glänzen noch heute in strahlendem Gigantismus, doch schon ein paar Kilometer weiter ist es dunkel, vermüllt, verfallen. Die Gewässer dazwischen, um im Bilde zu bleiben, sind brackig, schlammig. Es ist, ertaunlich genug, die grösste Wirtschaftsnation der Welt, aber in der Gesellschaft funktioniert nichts: nicht die Post, deren 162 Mrd $ Schuldenloch für die Briefwahl um weitere 29 Mrd $ vertieft werden soll, und nicht die Politik, die zu einer reinen Plutokratie geworden ist und nun vom Faschismus bedroht ist, weil das Wahlsystem wackelt. Nicht die Polizei, der in 2015 5.400 Menschen zum Opfer fielen (11 in Deutschland), und nicht das Gesundheitssystem, das teuerste und zugleich ineffektivste der Welt. Nicht die Sozialsysteme, nicht der Verkehr, mit einem abgewirtschafteten Eisenbahnnetz (30 Mio Zugreisende in 2015, zum Vergleich 140 Mio in Deutschland 2017), und nicht die Infrastruktur, mit einer regelmässig kollabierenden Energieversorgung, deren BlackOuts auf einer eigens eingerichteten WebSite dokumentiert werden [qtip:(5)| eine Woche nach mir – gewiss ohne mein Zutun – schreibt Christoph Drösser von einem ähnlichen Sachverhalt in der Zeit „So sitzt man zu Hause und "doomscrollt", wie das zwanghafte Suchen nach immer neuen Katastrophenmeldungen im Internet genannt wird. Wenn es noch den Strom dafür gibt – der Energieversorger PG&E hat damit begonnen, in sogenannten rolling blackouts regelmäßig dem Strom in Teilen des Landes abzustellen, weil er den durch die Hitzewelle gestiegenen Bedarf nicht bedienen kann.“]. Von der Kultur zu schweigen.
Das Inseldenken, vielleicht nur eine Behauptung, wird immerhin in der Serie beinahe „bewiesen“: Mindestens einhundert Mal hören wir den Satz: „Raus aus meinem … Büro, Gerichtssaal, Haus, …(Wohnung, Grundstück)“ Meine Welt ist, was mein Arm erreichen kann; was da draussen ist, geht mich nichts an. In der Mentalität mischen sich Resignation und der Reflex auf ein in seinen Widersprüchen verkeiltes, erstarrtes System. In – z.B. – Indianapolis bin ich auf StreetView durch Wohngebiete mit solider Einfamilienhaus-Bebauung gewandert, die an zerlöcherten Trampelpfaden gebaut sind, entlang der Luftleitungen für Strom und Telefon, als wäre es Aserbaidschan. Nein, da war ich auch: dort sah es besser aus.
Es mag der Verdacht aufkommen, dass, so wie ich die Bildwelt zum Beleg zitiere, ich die Fiktion mit der Realität verwechsele. Kann sein. Jeder Fotograf weiss Wirklichkeiten zu lügen; plus Photoshop. Ohne einen abbildbaren Kern jedoch entstünde kein Abbild – und eben darauf basiert der Erfolg der Reality-Soaps. Der Plural macht’s: aus Suits allein, 134 Folgen hin oder her, lässt sich keine Gesellschaftsdiagnose ableiten. Doch on top meiner eigenen Erfahrungen reiht sich die Serie ein in ein Patchwork zahlloser Erzählungen: in den Büchern und traditionellen wie sozialen Medien, in unzähligen anderen Filmen oder Serien: Wall Street, Colors, Breaking Bad, House of Cards, The Social Netzwork, The Big Short, The Wolf of Wall Street,… Das Gesamtbild hat sich geändert: Moral & Ethik, Sprache & Business, die Infrastruktur oder das politische System, Seelenlandschaften oder intellektuelle Fundamente – egal, wo man hinschaut, hinter den Fassaden der US-Gesellschaft und zwischen seinen Showrooms, befindet sich „alles“ in einem vergleichbar verrotteten Zustand.
Den Konflikten und Massstäben dieser Welt stehe ich mal staunend, mal fassungslos gegenüber, und kann nicht mehr erkennen, welche Werte und Anschauungen uns eigentlich verbinden. Und von Trump – und den durch ihn initiierten ökonomischen, ökologischen, soziologischen, institutionellen, demokratischen und geopolitischen Verwerfungen – war bis jetzt ja noch gar nicht, allenfalls mittelbar die Rede. Trump markiert nur noch den tipping point, an dem der Konvertit den Verlust des Glaubens eingesteht; das ist ein Akt der Emanzipation. Und des Verrats.