Im ersten Teil dieses Essays galt der Blick dem Krieg und der Welt – und mir gruselte. Immerhin: kaum war das Stück (am 18.) online, da hatten die Hinweise auf das Fehlen eines Marshall-Plans für die Ukraine auch schon Gehör gefunden (am 24.). Whow! Das ging schnell!
Hütet Euch vor alten Männern (2)
In Gefahr und grosser Not
bringt der Mittelweg den Tod
Gefahr, logisch!
In diesem zweiten Teil geht es um die Gesellschaft (unsere, auch die des Westens, plural). Man kann Putins Krieg als einen Überfall auf die Ukraine interpretieren, faktisch ist das so, oder aber auch, wie ich, als einen Stellvertreterkrieg und teleologisch als einen Krieg gegen Europa, gegen das liberale, demokratische Gesellschaftsmodell des Westens. Anfangs hab ich das bezweifelt.
Vermutlich ging es zu Beginn des Krieges tatsächlich um „einen Anschluss” der Ukraine, die Putin sozusagen „heim ins Reich” holen wollte; davon kann keine Rede mehr sein: er zerbombt das Land, eine Trümmerlandschaft, der Wiederaufbau wird derzeit mit einer Billion Dollar veranschlagt. Auch seine Atom-Drohungen nehmen die Ukraine „nur” noch zum Austragungsort eines Krieges gegen den Westen. Immerhin versucht der Westen mit seiner – eigentlich unglaublichen – Unterstützung alles, dass das so bleibt (bis zum 19.10.22 sind es in Summe ~94 Mrd $).
Faktisch und, wenn man so will, juristisch ist die Sache klar: Putin ist der Täter, die Ukraine das Opfer. In der Viktimologie – der „Forschungszweig” hat einen nur mittelguten Leumund, halten wir das im Hinterkopf – wird jedoch auch danach gefragt, welcher „Beitrag oder Anlass” dem Opfer zuzuschreiben ist, wie es den Täter „womöglich provoziert” haben könnte. Wenn also Europa und der Westen das „eigentliche” Ziel sind, dann fragt sich doch, warum Putin gegen sie vorgeht. Über Putins Motive habe ich mehrfach nachgedacht und kam
- auf die Nato-Osterweiterung (durch die sich Putin in seinem „guten Willen” – Berliner Rede – verraten fühlte),
- auf geo-ideologische Beweggründe (Nationalismus, Imperialismus, Sowjet-Nostalgie, Neo-Kolonialismus), sowie
- auf psychologische Faktoren (irgendwas zwischen Alterswirrsinn und Caesarenwahn).
Wenn ich vom „Beitrag” des Westens spreche, so jedenfalls nicht im Sinne einer Schuldfrage: das wäre absurd. Zwar halte ich den Punkt 1. für valide, aber als Casus Belli für Überfall auf die Ukraine halte ich das nicht für hinreichend. Vor allem beisst die Maus keinen Faden ab: Ein Überfall ist die Tat eines Täters, da bleibt keine Frage offen. Am ehesten erscheint mir dieser „Beitrag” für ein nachlaufendes Rational in der Psychologie des Täters relevant, ich nenne es „selbst-legitimierend" – in einem Roman ("Lost in Fuseda" von Gil Ribeiro) las ich den schönen Satz: „er muss so reden, um mit sich selbst in einer Zelle leben zu können”).
Man soll Ursache und Wirkung also nicht vertauschen, es wären auch noch die Punkte 2. und 3. zu diskutieren; sei's drum, aber: Da ist was – jenseits der üblichen geopolitischen Zuweisungen. Deswegen nachfolgend zunächst Kritik und Selbstkritik! In einer Parole verdichtet, hiesse die Nachricht: selbst Schuld! Mit etwas Abstand von unserer eurozentristischen Perspektive kassiert der Westen regelmässig eine Reihe von Vorhaltungen aus sehr unterschiedlichen Richtungen, die allesamt ähnlich klingen: Bigotterie und Dekadenz, Selbstgerechtigkeit, Ausbeutung und Machtmissbrauch – aber auch Schwäche und Versagen im Umgang mit den Problemen, mit nur wenig Mühe fänden sich weitere Schlagwörter.
Ich riskiere einmal die These, dass das Internet einen wesentlichen Einfluss auf die Verbreitung, zunächst aber auf das Aufkommen dieser Kritik hatte. Im alten Jahrtausend galt der Westen als das, was er behauptete: liberal, demokratisch, „überwiegend wohlwollend” – Hollywood und Derek bewarben das westliche System. Je breiter und tiefer das Internet jedoch weltweiten Einblick in das Kleingedruckte und die Schattenseiten gewährte, vor allem aber Diskussionen darüber ermöglichte, desto mehr Risse, Kratzer und Dellen bekam das Bild. Insofern der Westen der demokratischen (Selbst-)Kritik Raum gibt, unterstützt er auch ihre Verbreitung und wirkt mit an der eigenen Demontage. Heute findet sich der Westen in einer Lage wieder, in der ihm die (minderheitlich hauseigene) Kritik als Weltbevölkerungs-Mehrheitsmeinung um die Ohren fliegt.
Teile davon macht sich Putin zu eigen! Vermutlich war seine Wahrnehmung vom Bild der Schwäche dominiert und ermunterte ihn, die vermeintliche Leere mit neo-kolonialistischem Revisionismus zu befüllen. „Selbst schuld” heisst also: der Westen leistet sich ein „dialektisches Selbstbild”, das sich als „einseitiges Fremdbild” gegen ihn wendet.
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Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus.
Wo man auch hinschaut: Renten, Klima, Bildung, Schulden, Populismus … dass der Westen so nicht weitermachen kann, ist eine über die Jahre bereits gut abgehangene Erkenntnis – und dann? Tja, dann – kommt der nächste Tag, und noch einer, und noch einer, und bei Sonne am Morgen sieht die Welt heute aus wie gestern auch. …
Ich weiss: das täuscht. Eigentlich ist die Welt dunkel, laut, vergiftet, es ist gefährlich. Die Umbrüche, ob sie anstehen oder bereits stattfinden, sind gewaltig. Doch unsere „Einsichten” streiten mit der Trägheit, und – ich und – wir haben uns in unserem Lebensentwurf eingerichtet und wehren uns redlich, davon abzulassen. Man könnte uns das anlasten, aber der Grund liegt auf der Hand, ganz simpel: All das gestaute Übel anzuerkennen, das allein bietet ja keine Perspektive. Ja, solange der Schrecken – hinten, weit, in der Türkei – so angenehm entfernt herumlungerte, sprachen wir mutig und klug, mit dialektischer Finesse; jetzt, wo wir das Gefühl haben, dass „das alles” uns auf die Pelle rückt, verstummen die Gespräche. Ratlosigkeit. Sorgen. Ängste.
„Philosophieren heisst sterben lernen.”
Dem berühmten Lebensmotto des Michel de Montaigne folgte der erste Teil bis hier her. Der zweite Teil steht ganz im Zeichen der Vorsorge: nur für den Fall, man weiss ja nie, dass wir doch noch eine Weile weiter leben. Dann – „nun aber wirklich!” – hoffentlich/vermutlich/steht zu befürchten – anders, als bisher. Mit den Ritualen von Kritik und Selbstkritik ist es dann nicht mehr getan. Von einer solchen, auf mehr als nur das blanke Überleben ausgerichteten, Perspektive könnten wir (vage) im Konjunktiv, (hoffnungsschwanger) im Konditional oder (realitätsverbunden) im Indikativ sprechen: mit der Zukunft ist es so eine Sache!
In meinem beruflichen Leben habe ich mich mit aufkommenden und/oder sehr zukünftigen Entwicklungen beschäftigt. Meinen Prognosen haftete stets ein gewisses Geschmäckle an: „Woher willst Du das wissen! Erstens kommt es anders, und zweitens…”
Das ist richtig.
Und falsch.
Prognosen antizipieren oder extrapolieren Entwicklungen; sie deuten und verstärken (teils: schwache) Signale. Richtig ist, kein Wunder!, dass Prognosen (auch meine) zuweilen daneben lagen und in Krisen und Pandemien schon mal komplett über Bord gehen.
Falsch ist jedoch zweierlei: Erstens sind Prognosen nicht dazu da, einzutreffen, sondern Einfluss zu nehmen. Der auftrumpfende Nachweis, dass eine Prognose falsch lag, ist doch tatsächlich ziemlich unschlau. Er zeigt lediglich, dass jemand die Mechanik nicht verstanden hat: Prognosen verändern, sei es durch Vorsorge oder durch Anpassung, das durch sie prognostizierte Geschehen (– so sie denn gehört werden) !
Zweitens aber waren über die letzten Jahrzehnte wesentliche Entwicklungen sehr wohl prognostizierbar. Es herrschte eine zwar unsichere, immerhin aber doch geregelte Weltordnung; es gab identifizierbare, belastbare Interessen und insbesondere kamen aus der Forschung die prägenden Trends der technischen, gefolgt von der ökonomischen und – schliesslich – der „darauf reagierenden” gesellschaftlichen Entwicklung. Insofern konnte, wer der Forschung folgte, sehr wohl erkennen, wohin die Gesellschaft sich – vermutlich/wahrscheinlich – entwickelt.
Das ist jetzt anders:
Die Zukunft flirrt.
Natürlich war die Welt immer schon voller Möglichkeiten, und die Schwarzen Schwäne haben die Historie eins ums andere Mal durcheinander gewirbelt. Doch waren die „historischen” Ereignisse, zumindest der Nachkriegs-Vergangenheit, von Kontinuitäten umgeben. Zwar implodierte die Sowjetunion oder es crashte die dot.com-Blase, und dann wackelte es auch gehörig, doch der Rest der Welt folgte bräsig dem business as usual. Mit der zunehmenden Globalisierung, den Verflechtungen der Informationsströme und Lieferketten, veränderte sich, spätestens ab 2008, auch der Charakter der wiederkehrenden Krisen: 2008 ff wackelte der Westen erstmals (wieder) sozusagen transkontinental. Heute sind es nicht mehr regionale oder sektorale Cluster-Risiken, es sind vielmehr mehrere parallele, spektrale, global-ausstrahlende Risiko-Vektoren: neben dem Krieg, der Energiekrise oder den erschütterten Handelsbeziehungen auch jene (Klima, Daten, Finanzen, Migration), die durch keine (allein) nationalen (und nicht einmal „nur” durch multinationale) Massnahmen eingehegt werden können. Die Zukunft flirrt, weil disparate Ursachen das Weltgeschehen mit Domino-Effekten bedrohen.
Jenseits der unmittelbaren Bedrohung durch das Kriegsgeschehen, steht mittelbar das Geschäftsmodell der Welt auf dem Prüfstand! Wenn wir einmal von ein paar exotischen Ausnahmen absehen, hatte sich dieses Geschäftsmodell – nach 1989 – (auch) über die (vormals „sozialistische”) Welt ausgebreitet. Zumindest ökonomisch hatte der Westen den Systemkonflikt gewonnen: insofern lag Fukuyama durchaus richtig. Falsch war das von ihm unterstellte Junktim: nämlich, dass dieses Wirtschaftsmodell an das (demokratische, liberale) Gesellschaftsmodell gebunden sei – und insofern der Westen geradezu ein Mandat habe, sozusagen die Werte-Währung und Leit- oder gar Richtlinien der gesellschaftlichen Entwicklung vorzugeben.
Inzwischen verliert der Westen nicht nur seine technologische Vorreiterrolle, hat sie mitunter bereits eingebüsst. Tesla war schon eine (sagen wir: hausinterne) Ohrfeige, aber die Nachricht, dass Sixt 100.000 e-Autos vom chinesischen BYD-Konzern kaufen will, ist für die westliche (und vor allem deutsche) Industrielandschaft geradezu ein Erdbeben. Unterhaltungselektronik, Photovoltaik, Wärmepumpen, Chiptechnologie, … der Osten liefert, der Westen verbraucht. Nur geht es eben nicht allein um den Verlust der Führung im „technologisch-ökonomischen Komplex”. Epochal gerät vielmehr der systemische Kollaps: ausgehend von der Ökonomie, dann aber bis zur politischen Verfasstheit, trägt das „Gesellschaftsmodell des Westens“ nicht mehr.
Das Krisen-Domino seit 2008 zeigt, inzwischen unübersehbar: Vor allem die Demokratien sind den Umbrüchen nicht gewachsen (und insofern lag und liegt Fukuyama sensationell falsch – denn er beharrt weiterhin auf seiner Sicht). Und auch wir wehren uns, noch: die „Einsicht“, dass die Autokratien dieser Welt die Risiken besser verstanden haben als wir, wird ihre Kreise ziehen.
Das liesse sich nun dahingehend trefflich missverstehen, dass die derzeit bestehenden autokratischen Gesellschaftskonzepte Vorbildcharakter hätten – im Gegenteil (wo es überhaupt „Konzepte” sind, und nicht nur vorteilssuchende Willkür des Führungspersonals, ist ihnen ein Verfallsdatum eingewoben: ihre faschistoiden Tendenzen sind selbstverstärkend und bewegen sich auf einer Abwärtsspirale). Worum es vielmehr geht, ist das Rational hinter dem autokratischen Gesellschaftsmodell: nämlich, dass in Krisen harte Entscheidungen durchgesetzt werden müssen. Und genau dabei ist das – bis zur Obstruktion reichende – demokratische Hin & Her der denkbar grösste Misserfolgsfaktor. Wir bekommen es ja life vorgeführt: Gemecker und Gezweifel zersägt und zersetzt unterschiedslos alle Massnahmen, zuerst und vor allem jene, die richtig und notwendig wären.
In meiner Welt war der Zweifel stets ein Instrument der Aufklärung und mit ihm, durch ihn, erkannte die Öffentlichkeit die etwaigen Fehler einer Entscheidung. Es gibt aber auch eine logische, taktische, dunkle Seite des Zweifels: seit Konrad Adenauer besichert er auch die bestehenden Interessen. Denn die in der Krise richtigen Entscheidungen kosten – sie legen Hand an den Bestand (Beispiel: der Untergang der DDR hat einer ganzen Generation von Entscheidungs- und Zuträgern sowohl die Existenzgrundlage wie auch die Anerkennung einer Lebensleistung entzogen – ob zu Recht, ist hier nicht die Frage). Zweifel sind eine Multifunktions-Waffe: Jedes Interesse kann sich ihrer bemächtigen. Opposition und Medien sehen im Zweifeln ihre existentielle und allzuoft einzige Legitimation, Herrschende und Interesseninhaber säen Zweifel zur Verteidigung ihrer Wagenburgen, und am Stammtisch kann man schier alles bezweifeln, heute Hü!, morgen Hott!, es kost ja nix. Impfpflicht? Grosses Getöse, die Freiheit, lieber doch nicht. Kernkraft abschalten? Grosses Getöse, die Dunkelflaute, Kernkraft wird verlängert. Gasumlage? Grosses Getöse, Krisengewinnler, Gasumlage kaputt. Gaspreisdeckel? Grosses Getöse (… ich wage keine Prognose). Right or wrong: dem Getöse ist alles gleich gültig: Hauptsache dagegen. Zustimmung schafft weder Auflage noch Aufmerksamkeit. Sicher: oft genug erweist sich der Zweifel im Ergebnis als richtig; aber selbst das ist eine ungesicherte Feststellung. Denn wenn das Ei erst einmal in der Pfanne ist, wird alles „was wäre gewesen, wenn …” zu einer Luftbuchung.
„Irgendwann muss es mal gut sein mit dem Gezweifel!” So die gleichermassen gewagte, notwendige, sogar zwangsläufige Schlussfolgerung: irgendwann muss mal „Ruhe sein im Karton” – denn irgendwann muss „es”, was immer es ist, entschieden werden. Alexander Kluge hat es anders gemeint, sorry, Hoheit, gleichwohl erfasst seine legendäre Parole das bestehende Dilemma: „In Gefahr und grosser Not bringt der Mittelweg den Tod” – so ergeht es der Demokratie, die sich in der Krise zunehmend unfähig zeigt, irgendeine Entscheidung, und sei es die richtige, gegen die Kakophonie der mannigfachen Interessen durchzusetzen.
An eben dieser Wasserscheide zeigen die Autokratien einen unbestreitbaren Vorsprung: Das Volk soll’s Maul halten, wir regeln das schon.
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Freiheit
Selbstredend geht es nicht um „die Demokratie” als nur nominale Staatsverfassung – auch in der DDR wurde „gewählt” – vielmehr geht es um ihren fundamentalen Gehalt! In ihrem (als Vortrag ~1967 an ein US-Publikum gerichteten) Essay „Von der Freiheit, frei zu sein“ definiert Hannah Arendt die Freiheit als Befreiung (Freiheit von…) – zunächst. Befreiung allein aber besichere die Freiheit nicht! Entscheidend sei die Verankerung der „Freiheit um zu …”, nämlich als Partizipation an der politischen Willensbildung. Historisch war die Forderung gerechtfertigt, denn hinter der demokratischen Fassade zeigte die US-amerikanische Gesellschaft eine anti-liberale, dogmatische, (mindestens) autoritäre und durchaus auch autokratisch orientierte, plutokratische Gesellschaftstruktur. Mindestens die schwarze Bevölkerung war sogar existentiell von der Freiheit ausgeschlossen. Und in Deutschland war nicht viel anders, oder eher: „schlimmer”. Denn die bundesdeutsche Gesellschaft war, wo nicht sowieso vom Faschismus und/oder vom politisch indolenten Augen-zu-und-durch des Wirtschaftswunders geprägt, immer noch ein Obrigkeitsstaat. Auch hier war die Demokratie fadenscheinig und de facto in der Behauptung steckengeblieben.
Die Frage ist jedoch: gilt das … noch?
50 Jahre später haben die Sozialen Medien die Forderung sozusagen final eingelöst und – jetzt haben wir den Salat. Es ist ein Desaster.
„Heute findet der [Impfverschwörer] durch die sozialen Medien eine Million andere Vollidioten. Das ist die Gefahr: wir geben dummen, inkompetenten Menschen eine Plattform, die von anderen dann wieder geglaubt und kolportiert wird”,
sagt nicht nur Marius Müller-Westernhagen (bei ~ 01:17:00f). Heute basiert politische Willensbildung auf einer kruden Mischung aus Fakten und alternativen Fakten, aus biegsamen Behauptungen, Dummheiten, Unterstellungen und Lügen, aus interessierter Beeinflussung und blossem Krakeelen.
Meinungsfreiheit?! Ja, selbstverständlich; ich weiss auch um die Grenzwertigkeit der Position; Güterabwägung; logisch. Im demokratischen Diskurs vollkommen unterbelichtet ist aber der inflection point von der Quantität zur Qualität: Mit 1,4 Mrd Menschen ist Demokratie unmöglich; und wo exakt liegt die Schwelle? Wir erleben in den Sozialen Medien, dass „eine Million Vollidioten” – tatsächlich sind es ja mehr – genügend Momentum schaffen, um die gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung zu zerrütten. Natürlich werden in den Autokratien die liberalen-, demokratischen- und die Menschenrechte mit Füssen getreten – aber sie verhöhnen den Westen zu Recht, weil er – siehe Böckenförde – nicht in der Lage ist, seine eigenen Werte durchzusetzen.
Die unterschiedslose Gewährleistung der politischen Partizipation – so vielversprechend und wünschenswert das zunächst klang – berücksichtigt nicht, dass Partizipation Intelligenz, Kompetenz und auch, etwa in Fragen der Integrität, charakterliche Qualitäten erfordert (nicht, dass das Argument neu wäre …). Politik ist ein schwieriges, dialektisches Geschäft, in dem es nicht genügt, die Überschrift einer Entscheidungsvorlage lesen zu können. Tag für Tag zeigt sich, dass selbst die meisten gewählten Mandatsträger nicht wissen, worüber sie (im Kleingedruckten der Gesundheitspolitik, der Netz-, Bau-, Versicherungs- oder Energiepolitik …usw.) entscheiden und welche der zur Entscheidung anstehenden Interessen wie und wo Einfluss genommen haben. Die technische und ökonomische Komplexität gesellschaftlicher Administration legt die Schwachstellen der Repräsentation offen. Was aber, wenn schon die Mandatsträger oft genug im Nebel, und nicht selten im Interessenkonflikt agieren, was können wir in der Breite und Tiefe der Themen für die von Arendt geforderte, „demokratische Partizipation“ erwarten?
Politik und Gesellschaft und was darin zur Entscheidung ansteht, das Gesellschaftsmodell, haben sich seit den Forderungen der 1960er Jahre grundlegend verändert. Damals orientierte sich das administrative Handeln (top down) an den politischen Vorgaben. Wo CDU drauf stand, war auch „konservativ” drin. Inzwischen müssen wir Parteiprogramme gegen das geschriebene Wort lesen: Die SPD setzt die Agenda 2010 durch, und die Rente mit 67; die CDU schaltet die AKW ab, kassiert die Wehrpflicht, verankert die Ehe für alle; die FDP verantwortet unfassbare Schuldenberge und die Grünen kaufen Gas bei den Kataris, bauen LNG-Terminals und lassen die Kohlekraftwerke hochfahren. Und wo das den Sachzwängen noch nicht genügt, flottiert das administrative Handeln auf eigene Faust zwischen den Richtlinien und Ausführungsbestimmungen: je mehr der Staat als Dienstleister seiner Gesellschaft verstanden wird, desto unvermeidlicher verstolpert sich die ideologische Fundierung in den Fallstricken der Umsetzung. Die Praxis macht ihre eigene Politik.
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„So so” könntest Du sagen, oder „schön und gut”, nur was das jetzt mit dem Atomkrieg zu tun habe? Zugegeben, die Brücke, die ich zwischen Putins Bombendrohung und der gesellschaftlichen Verfasstheit „des westlichen Nationalstaates” aufzuspannen versuche, ist argumentativ fragil. Deswegen nochmal: selbst Schuld! Die Lage, in der wir uns befinden, ist das Ergebnis einer breiten intellektuellen Verwahrlosung, und wenn der Westen nicht mehr sagen kann, was die Welt im Innersten zusammenhält, dann übernehmen das eben andere – mit „alternativen” Konzepten.
„Wir” haben unsere Vorgärten, Glaubensgrundsätze und unser Selbstverständnis mit der geo- und machtpolitischen Realität verwechselt: Als das Wünschen noch geholfen hat. Putins Krieg, siehe oben, ist ein Stellvertreterkrieg – wenn auch nicht im traditionellen Sinn. Ich empfand Selenskijs Rede, nach der in der Ukraine die Freiheit Europas verteidigt wird, zunächst irreführend, weil Putin de facto die Ukraine als Nationalstaat angreift – also nicht „uns”. Erst auf den zweiten Blick verstand ich es, weil dieser Krieg unserer/n Gesellschaft/en die wirtschaftliche Grundlage, und damit letztendlich sogar die Legitimation entzieht. In dem Putin gegen die Ukraine vorgeht, legt er beinahe alle Schwächen des liberalen, globalisierten, westlichen Systems offen; freilich ist sein Spiel über Bande blutig.
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Resilienz!
Das haben wir noch nicht richtig verstanden – auch in mir oszilliert der Begriff zwischen „Prepper” und normativer Standhaftigkeit. Es wird aber doch immer klarer, dass der anstehende Krisenzyklus mit dem bestehenden Gesellschaftsmodell des Westens nicht zu bewältigen ist. Eine Neubestimmung der Demokratie, darauf läuft es hinaus, wird klären müssen, welche Entscheidungen einer demokratischen Willensbildung unterliegen sollen – und wie, und welche von der politischen Partizipation freigestellt sind, werden müssen – und bis wohin. Wenn Krethi und Plethi (in diesem Fall rechne ich mich dazu, aber auch die Lobbies der Energieversorger) sich in die nationale oder gar europäische Energieversorgung einmischen, kann nichts Gutes dabei rauskommen. Umgekehrt können wir auch nicht ignorieren, dass eine mandatierte Entscheidung (… hier: mehrheitlich auf russische Energieträger zu setzen …) in ein kaum zu bewältigendes Debakel führen kann (hier: geführt hat). Mehr noch: Welches Mandat denn eigentlich? Welche Wahlentscheidung hatte das gestützt, bejaht, gefordert?
Ja, prima, so handhaben wir das: wieder mal Einerseits-Andererseits. Wo die Mehrheit von der Entscheidung nichts und jedenfalls zu wenig versteht, aber auch die (einsame) Entscheiderin kräftig ins Klo langen kann, stehen wir vor der ersten systemischen Hürde, die es zu nehmen gilt. Und wie?
Seit Jahr und Tag wirken zahllose Sachverständigen-Kommissionen – überwiegend berufenes akademisches Personal – an der politischen Entscheidungsfindung mit: eigentlich sollten die sich in der Sache auskennen. Doch spätestens, wenn die Gutachter gegeneinander in Stellung gehen, wird dem Beobachter mulmig zumute. Dass die Karrieren an deutschen Universitäten von der Drittmittel-Akquise abhängen und auf diesem Umweg unbeauftragte Interessen in (fast) alle Expertise einfliessen, trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung bei. Es ist gar nicht mal gleich genuin korrupt, sondern eher irgendwie zwangsläufig, dass der so in Kommissionen berufene Sachverstand den privaten, beruflichen oder unternehmerischen Erfolg der Sachverstandsinhaber ausserordentlich befördert und deswegen – bei dem vielen Netzwerken – die eigentliche Kommssionsarbeit, dem Golfspiel nicht unähnlich, mehr oder weniger zum Vorwand weitergehender Geschäftszwecke gerät. In anderen Worten ist auch der zu einer Entscheidung herbeigezogene Sachverstand tendentiell und oft eine Sackgasse.
Vielleicht eine Option – in der Sache ähnlich, aber um ein paar Schraubendrehungen entschiedener in der Durchführung – wären „technokratische Entscheider”. Stimmt schon: nicht jeder Saldo, den wir dem Sachverstand angelastet haben, wäre hier bereits ausgeglichen. Immerhin ist die Technokratin aber ein Sachverständiger mit institutioneller Befugnis und Verantwortlichkeit; wer denkt da nicht an Mario Draghi. Stimmt schon: auf dem Weg in die Verantwortung werden korrumpierende Faktoren nicht schon zwangsläufig ausgesteuert (wer denkt da nicht an Hank Paulson), allerdings dominiert jetzt der (juristische und) institutionelle Bezugsrahmen; der eigentliche, mit dem Einsetzen des Technokraten verbundene Vorteil ist, dass der Sachverstand jetzt seine Entscheidungen „weitgehend” freigestellt von sachfremden Einflüssen treffen „kann/könnte”.
Kurzum: auch die Alternativen zur herrschenden Regierung des Unverstandes sind nicht frei von Haken und Ösen, hätten aber graduelle Vorteile, in dem nicht länger nur parteiliche Opportunitäten und gruppendynamische Dummheiten in die Entscheidungen einfliessen. Denken wir uns dazu noch eine Präsidialverfassung, in der, bildlich gesprochen, die Präsidentin zur Aufsichtsratsvorsitzenden ihrer Technokraten wird – und wir hätten zumindest mal etwas zu diskutieren.
Moment noch!
Und – das Volk soll das Maul halten? Läuft es darauf hinaus? Nein. Weiter oben und an anderer Stelle war von den Medien und den Sozialen Medien die Rede – und wie sie in einem „joint approach” die gesellschaftliche Meinungsbildung zerrütten. In der derzeit herrschenden Öffentlichkeit ist kein Thema jemals beendet, keine Entscheidung jemals akzeptiert – nicht zuletzt, weil es keine abschliessenden Verfahren und keinen abgeschlossenen Austragungsort gibt: über die Sozialen Medien vagabundiert jedes Thema unendlich. Vielleicht lässt irgendwann das Interesse nach, doch wird es bei beliebigem Anlass wieder aufpoppen. Diese Prozesse müssen aufhören! Einer solchen Forderung könnte leicht unterstellt werden, dass sie die Öffentlichkeit, ja sogar die Meinungsfreiheit aushebeln wolle. Das Gegenteil ist richtig. Expertise ist ein wichtiges Kriterium der Entscheidungsfindung, aber nicht das einzige: Entscheidungen müssen auch befürwortet und getragen werden. Politische Partizipation braucht daher Orte – Stichwort: Bürgerkonvente –, an denen Entscheidungen vorgestellt und diskutiert, aber auch gültig entschieden – und damit beendet werden können. Das soll sagen: politische Partizipation muss aus der brabbelnden Beliebigkeit raus und in eine parametrisierte, demokratische Verantwortlichkeit zurückgeführt werden. Dass sich die Parteien lange schon auf ihre inneren Spielchen fokussieren, ist keine neue Nachricht – und so kann deren politisches Gemauschel hier natürlich nicht gemeint sein; das versteht sich von selbst.
Würde es also gelingen, die demokratische Entscheidungsfindung wiederzubeleben, ihren Ort und ihre Zeit zu bestimmen und näher an den Notwendigkeiten als an der täglichen Kakophonie auszurichten, so würden die Chancen dafür wachsen, dass sachdienliche Argumente das Geschehen dominieren, zumindest beeinflussen. Bevor wir uns dann insofern entspannt zurücklehnen könnten, müssen wir uns mit einer zweiten, sozusagen „gesellschaftlichen” Hürde befassen: Der Fehlentscheidung.
Wie damit umgehen, wenn auch der qualifizierte Sachverstand und das verantwortliche demokratische Handeln zu einer falschen Entscheidung führen? Bei dieser zweiten Hürde geht es um die Ausgestaltung der Opposition. Ich selbst neige zu einer höheren Form der Verbindlichkeit, ich nenne es mal flapsig eine militärisch-unternehmerische Haltung: wenn ich gewählt habe, muss ich auch mit den Entscheidungen leben (und nicht jammern und greinen, wenn es schief geht); eine solche Haltung, wie auch immer Du sie bewertest, reicht jedoch auch nur bis an jene gesellschaftliche „Demarkationslinie”, jenseits derer sich die Wähler „anderer” Vorstellungen befinden. Deswegen und bevor damit hochherrschaftlicher Willkür Tür und Tor geöffnet wären, muss es auch eine Instanz geben, die den gewählten Präsidenten oder Technokraten aus dem Amt jagen kann, wenn sie sich als unfähig, korrupt oder putinesk erweist.
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Ursache und Wirkung
Putins Krieg ist kein weltgeschichtlicher Unfall. Es ist die konstitutionelle Schwäche des Westens, die den Krieg als Option denkbar und – scheinbar – operabel gemacht hat. Die Schwäche nenne ich konstitutionell, weil in ihr ein ganzes Spektrum von Schwachpunkten zusammen kommt: Angefangen bei den materiellen Abhängigkeiten der Energie und der globalen Lieferketten, über die legitimatorischen und machtpolitischen Schwächen der demokratischen Willensbildung und nicht geendet mit den dekadenten Strukturen des gesellschaftlichen Selbstverständnis’. Die Schwäche hat, der Vollständigkeit halber sei es gesagt, … auch … einen psychologischen (Wehrbereitschaft) sowie einen materiellen (Wehrfähigkeit) militärischen Aspekt, den zu diskutieren allerdings von den hier aufgeworfenen Fragen ablenken würde.
Dieser zweite Teil des Essays war unter den Vorbehalt gestellt, dass wir die Ukraine-, die Taiwan-, die Türkei-, die Iran-, und, wer weiss, welche noch, auch die Energie- sowie die USA-Krise überleben – und … dann unser Leben ändern. Dazu braucht es ein anderes, erneuertes, zeitgemässes und, auch wenn es mir die Zunge aufrollt, innovatives Gesellschaftsmodell, vermutlich sogar eine neue Verfassung. Und mir will es nicht einleuchten, dass uns nichts dazu einfällt, politische Partizipation – nach den veränderten Bedingungen unserer Zeit – neu zu bestimmen.